Der Werdrache und der Tor

Es gibt viele berühmte Hexer unter den Shedali. Einige sind mächtig, andere weniger, einige sind wissend, andere dumm. Doch eines haben sie alle gemein, weil es jeder Hexer jeden Volkes in der ganzen Welt im Übermaß besitzt: Torheit.

Und so kam es einem Hexer aus der Mitte der Welt in den Sinn, nach Norden ins Land Yador zu reisen, wo Elfen und Drachen mit den Menschen plaudern, wo Tiere mit Menschenstimmen sprechen und wo die Pforten in die Zweite Welt so dicht gesät sind, dass man an einigen Stellen scharf aufpassen muss, wenn man in der Ersten Welt bleiben will. In Yador, so sagt man nicht nur unter Hexern, regieren andere Herrscher: Die Götter sind dort geduldete Nachbarn, Träume sind Wirklichkeit und kleine Kinder haben Macht über die Mächtigen.

Der Hexer aber glaubte nicht an die Gefahren Yadors, er fürchtete sich nicht vor Zauberstimmen und Bauernliedern, und da sieht man wieder einmal, wie unglaublich töricht Hexer wirklich sind. Er nahm also seinen Drachenknochen, seinen Runenbeutel, ein Pferd und passendes Gepäck und machte sich auf den Weg.

Er wollte Drachen finden.

Es war ihm nämlich zu Ohren gekommen, dass sich in den Wäldern und Bergen Yadors viele Drachen zur Ruhe betten, weil sie wissen, dass ihnen von den Menschen kein Leid droht. Und einer dieser Drachen, so sagt man noch heute, ist in Wirklichkeit ein Mensch, der sich in einen Drachen verwandelt hat. Ein Werdrache also, jemand, der mehr über Drachen weiß als sonst jemand – jeder Hexer würde aufhorchen, wenn solche Macht in seine Reichweite käme!

In Yador angekommen versteckte der Hexer seine Zauberutensilien, denn in Yador mag man die Hexerei noch weniger als anderswo, was nicht verwunderlich ist in einem Land, in dem sogar Kinder mit einem Liedchen den Wind herbeirufen können und nicht mühsam mit Knochen und Runen hantieren müssen.

Der Hexer sprach mit Reisenden und hörte zu. Er saß bei Bauern und Fischern am Herd, plauderte und hörte zu. Er saß in Dörfern und Städten in den Wirtshäusern, lachte und hörte zu. Und wer so starrsinnig zuhört, der hört irgendwann das, was er hören will.

Der wahre Name des Werdrachen war Eðrik, so erfuhr der Hexer, und dieser Drache ruhte anscheinend oft im großen Wald Meynjala, in dem man nie wirklich sicher sein kann, ob man nicht gerade versehentlich in der Zweiten Welt statt in der Wirklichkeit wandelt. Der Hexer packte also einmal mehr seine Sachen und zog mit seinem Pferd in den Meynjala.

Dort stellte er fest, dass es weitaus schwieriger ist, einen Drachen in einem Zauberwald zu finden als eine Perlenmuschel im Sund von Anorivrin, und da es bei Anorivrin keine Perlen gibt, ist es also nahezu unmöglich. Manchmal sah er alte Drachenfährten, einmal flog sogar ein großer Schatten über ihn hinweg, doch den Werdrachen erspähte er nie.

Schlaue Männer hätten dies als Warnung genommen, ihre Sachen gepackt und im nächsten Wirtshaus viel Bier getrunken, um sich zu trösten. Dieser Mann aber war ein Hexer und somit ein Tor.

Er blieb.

So fand ihn eines Tages ein Drache, als der Hexer gerade dabei war, sein morgendliches Feuer zu entfachen, um sich ein Kaninchen zu braten. Der Drache schlich sich von hinten an den Hexer heran und beobachtete ihn.

Als der Hexer endlich bemerkte, dass ihm jemand verlangend aufs Kaninchen starrte, griff er seinen Knochen und richtete ihn auf den Drachen.

„Endlich!“, rief er aus. „Endlich habe ich dich gefunden!“

„Du hast eine merkwürdige Vorstellung von Agens und Patiens“, antwortete der Drache leicht verwirrt.

„Schweig, Drache!“, fuhr der Hexer unbekümmert fort. „Ich bin hier, um dein neuer Meister zu werden. Mir gebührt Respekt!“

„Wie kann ich einen neuen Meister bekommen“, wunderte sich der Drache, „wenn ich doch nie einen alten hatte?“

Sich mit einem Drachen auf sprachwissenschaftliche Diskussionen einzulassen, war ein sinnloses Unterfangen, das wusste der Hexer.

„Nun denn, Drache!“, rief er theatralisch und hob den Knochen in die Höhe. „Drache, Werdrache, Mann! Dein Name ist Eðrik, und wegen diesem Wissen wirst du mir dienen!“

Der Drache schauderte und gab einen Laut der Abscheu von sich, und der Hexer triumphierte, als er das große Wesen zurückweichen sah.

Dann öffnete der Drache sein Maul und verschlang den Hexer.

„Eðrik wohnt weiter oben in den Bergen“, erklärte er dem verwirrten Pferd des Hexers und rülpste, „und außerdem verlangt ‚wegen’ den Genitiv!“


Das etwas andere Erste Mal

„Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll“, stammelte der rothaarige Junge und fummelte aufgeregt an seinen Fingern herum.

„Aber du sagst doch bereits etwas“, antwortete der Drache. Drachen können die Stirn nicht runzeln, was sie in Situationen wie dieser ziemlich schade finden.

„Ja, schon. Ich weiß nur nicht, was ich hier gerade rede.“

„Ah.“ Der Drache nickte verständnisvoll. „Dann denk doch erst einmal nach.“

Drachen geben für gewöhnlich weisen Rat. Jeder weiß das. Also nickte Dayridil, setzte sich auf einen der vielen herumliegenden Felsbrocken und atmete ein paar Mal tief durch. Geduldig schaute ihm der Drache dabei zu. Schließlich räusperte sich Dayridil, kratzte sich am Kopf, holte tief Luft, hob an und sprach: „Äh …“

„Ja?“

„Darf ich erfahren, wie man dich nennt?“

„Ja.“

„Oh. Schön.“ Dayridil spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. „Wie nennt man dich denn?“

„Wigolant.“

„Sehr angenehm, Wigolant. Ich -“

„Du bist die kleine Nervensäge Dayridil aus Algath, die ständig in den Bergen herumwuselt und bei jedem Haufen Drachendung in Entzückensschreie ausbricht“, unterbrach ihn der Drache auf recht undrachische Weise.

Dayridil blinzelte. „Äh.“

„Also, du hast einen Drachen gefunden. Was jetzt?“

Dayridil schluckte. „Äh?“

„Na, du wirst doch wohl einen Grund haben, nach mir und meinen Geschwistern zu suchen“, bohrte Wigolant nach, und seine eisblauen Augen glommen amüsiert auf. „Sag nicht, du bist einfach nur versessen auf unsere Dunghaufen.“

„Äh – nein.“

„Das beruhigt mich.“

„Ich möchte einfach mehr über euch wissen.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Alles.“

Wigolant schnaufte und legte den Kopf auf die Vorderpranken. „Das ist ziemlich viel, weißt du? Das ist mehr, als wir selbst wissen. Warum fängst du nicht erst einmal bei kleinen Sachen an und fragst dich dann voran?“

Irgendwie hatte sich Dayridil seine erste Begegnung mit einem Drachen anders vorgestellt. Romantischer. Legendärer. Weltbewegender. Ästhetischer. Vor allem weniger peinlich. „Warum bist du blau?“, fragte er, bevor er wusste, was er da eigentlich tat.

„Eine gute Frage“, freute sich Wigolant.

„Wirklich?“

„Ja. Knapp und präzise, korrekter Satzbau und das Interrogativpronomen passt auch noch.“

„Danke.“

„Bitte.“

„Also, warum bist du blau?“

„Das weiß ich nicht.“

„Oh.“

Wigolant erhob sich, streckte den Schwanz weit nach hinten und den Kopf über Dayridil hinweg nach vorne, breitete die weißblauen Schwingen aus und gähnte, als gelte es, einen ganzen Hirsch zu verschlingen. Dann plumpste er wieder auf den Boden, faltete die Flügel zusammen und verwandelte sich abermals in den saphirblauen Körperklumpen, als den ihn Dayridil vor einigen Minuten gefunden hatte. „Du bist seit vier Tagen unterwegs, obwohl du weißt, dass deine Eltern böse auf dich sein werden, weil du dich heimlich davongeschlichen hast, und das alles nur, um mich zu fragen, warum ich blau bin?“

„Öh – mehr oder weniger, ja.“

„Du bist merkwürdig.“

„Ja, das habe ich schon öfter gehört.“

„Freu dich doch. Nicht jeder Mensch ist es würdig, dass man sich ihn merkt.“

Dayridil kratzte sich verlegen an der Nase. „So habe ich das noch nie betrachtet.“

„Dann hat dir unser Treffen wenigstens einen neuen Blickwinkel beschert“, freute sich Wigolant.

„Mehr als nur das!“, rief Dayridil enthusiastisch aus. „Du – das hier – ich bin völlig überwältigt! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie das ist, wenn man daheim an der Werkbank sitzt und Vater mit seinen  ewigen, langen Anleitungen für Stühle und Tische nervt, wo ich doch viel lieber draußen unterwegs wäre, um Dinge zu erforschen oder -“

„Sag mal“, unterbrach ihn Wigolant abermals sehr undrachisch, „rieche ich da Fisch?“

„Fisch?“, echote Dayridil. „Oh. Meinst du diesen?“ Er kramte in seinem Proviantbeutel nach den Streifen aus Trockenfisch, die er als Wegzehrung aus der Küche geklaut hatte.

Wigolant gab ein tiefes Schnurren von sich. „Kabeljau?“

„Ich glaube schon.“

„Kabeljau.“ Das Schnurren ließ die kargen Felsen erbeben.

„Darf ich dir etwas davon anbieten?“

„Und ob!“ Wigolant schaute den Jungen erwartungsvoll an.

„Was ich meinte, war: Bedien dich.“

„Na, dann sag das doch!“ Begeistert reckte Wigolant seinen Kopf vor und ließ sich von Dayridil die Fischstreifen ins Maul legen. Die folgende Stille wurde nur durch Schmatzgeräusche unterbrochen. „Ah“, machte Wigolant, nachdem er geschluckt hatte. „Jetzt weiß ich, warum ich neulich unbedingt zum Meer fliegen wollte. Kabeljau!“

„Du sagst ziemlich oft Kabeljau.“

„Ich weiß.“ Wigolant gab ein glucksendes Geräusch von sich. Dayridil war sich nicht sicher, ob es ein Lachen war oder Schluckauf. „Das Wort schmeckt fast noch besser als der Fisch an sich, findest du nicht? Ka-bel-jau. Kab-el-ja-u. Kabbl-jo – das wäre doch eine interessante Variante für einen Dialekt, den es noch nicht gibt, findest du nicht? Oder lieber Kobble-ju?“

„Dabei sieht der Fisch nichtmal nach Kabeln aus“, murmelte Dayridil, den die enthusiastischen Klangspiele verwirrten.

Wigolant starrte ihn an. Zwinkerte. Legte den Kopf schief. Leckte sich eine Kralle ab. „Da sagst du was“, grunzte er schließlich. „Oh ja, da sagst du vielleicht was! Da muss ich erst einmal drüber nachdenken. Bitte lass mich alleine.“

„Oh. Sicher.“

„Danke.“

„Ich – äh – ich komme dich dann demnächst wieder besuchen.“

„Mach das. Dann teile ich dir meine Erkenntnisse über Kabeljau mit.“

„Schön. Ich freue mich drauf.“

Der Weg zurück über das Geröllfeld war mühsam, aber schließlich erreichte Dayridil die grasbewachsenen Berghänge und begann seinen Abstieg. Nach einer Weile wandte er sich um. Hoch über ihm thronte der saphirblaue Drache auf den Steinen, den Kopf andächtig in die Höhe gereckt, die Augen geschlossen. Dayridil sah, wie sich das Maul leicht bewegte. Plötzlich schüttelte sich Wigolant und schaute zu Dayridil hinab. „Weißt du“, rief er ihm zu, dass die Berghänge vibrierten, „ich glaube fast, ich finde Dorsch noch interessanter!“

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