Dies sind die ersten zwei Kapitel des Buchs. Weitere Infos und Bestellmöglichkeiten gibts hier.

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Hauptmann und Stallsklave

Ein Malheur

Der Herbst neigte sich dem Winter zu. Der Boden war nass und glitschig von schmelzendem Schnee, und der wolkenverschleierte Himmel versprach baldigen Nachschub. Redjin stand am Stalltor und hielt eine nervös tänzelnde Stute am Zügel, denn er wartete auf ihren Reiter. Das Tier wollte hinaus, ließ sich nur mühsam festhalten, drängelte gegen Redjin und machte sich einfach nur so unbequem, wie es einem Pferd möglich war. Und das alles nur, weil Hauptmann Khassid unbedingt in der Frühe ausreiten wollte und jetzt auf sich warten ließ.

Typisch. Einen Pferdesklaven konnte man ja warten lassen, schließlich wurden nur Sklaven in den Stall verbannt, die für den Dienst in besseren Positionen zu schwierig waren. Hauptmann Khassid war natürlich viel zu wichtig, um sich darum zu kümmern, dass dieser Pferdesklave langsam nasse Füße bekam, weil ihn der blöde Gaul ständig in die riesige Pfütze mit Schneebrocken direkt vorm Stalltor drängelte.

Endlich bewegte sich die charakteristische Gestalt auf den Stall zu: groß und kräftig, mit aschblonden Haaren, die wellig sein Gesicht umrahmten. Wie immer war er in die göttliche Wachuniform gekleidet, wahrscheinlich schlief er auch darin, oder zumindest schlief er garantiert in einem Nachthemd mit eingesticktem göttlichen Emblem.

„Guten Morgen, Hauptmann“, murmelte Redjin, als selbiger herangekommen war.

Hauptmann Khassid sah ihn kurz an, was Redjin überraschte – normalerweise war er für alle unsichtbar. Hatte er Dreck im Gesicht? Dann huschte der Blick weiter auf die Stute, zum Glück. „Morgen. Alles klar mit meinem Mädchen?“

„Frisch wie der junge Morgen, Hauptmann“, gab Redjin zurück und hörte selbst, wie pampig er klang. Er musste sich besser zusammenreißen.

Der Hauptmann ignorierte zum Glück den Tonfall, nahm die Zügel entgegen und führte die Stute in den Hof. Redjin blieb am Stalltor stehen, um vorschriftsgemäß sicherzugehen, dass Khassid keine weiteren Wünsche hatte – es war dem Hauptmann der Wache schließlich nicht zuzumuten, noch einmal abzusteigen, weil er etwas Wichtiges vergessen hatte.

Die Stute folgte ihrem Herrn willig mit gespitzten Ohren, freute sich ganz offensichtlich auf den Ritt. Khassid tätschelte ihr den Hals, kontrollierte den Sattelgurt, setzte den Fuß in den Steigbügel, stieß sich mit dem anderen vom Boden ab – und krachte gemeinsam mit dem Steigbügel zu Boden – mitten in den Schneematschtümpel vorm Stalltor.

Redjin konnte sich ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen, als er auf den Hof sprang, um die erschrocken davonspringende Stute am Zügel zu packen, während Khassid sich aufrappelte, und brauchte einen Moment, um das trippelnde Tier unter Kontrolle zu bringen. Als er sich zu Khassid umwandte, stand der Hauptmann bereits wieder. Die aschblonden Haarwellen tropften strähnig auf die Schultern hinab. Es brauchte schon einiges, um als begossener Hund noch stattlich auszusehen, aber Khassid hatte damit kein Problem.

„Das findest du wohl auch noch witzig, Junge!“, knurrte Khassid und trat neben die Stute, griff nach dem Stumpf des Steigbügelriemens und hielt ihn anklagend Redjin entgegen. Das rissige Leder, alte Kratzer und die sichtlich ausgeleierten Löcher für die Schnallen sprachen für sich. „Was ist das denn hier, hast du etwa mit Absicht einen uralten Bügelriemen irgendwo ausgegraben?“

„Ich hab erst vor zwei Wochen das Sattelzeug gereinigt, da war alles in Ordnung!“, protestierte Redjin.

„Aber jetzt ist es das nicht!“, knurrte Khassid.

„Das war bestimmt Tiynan oder einer von den anderen, die mir eins auswischen wollten, oder –“

„Das ist mir egal!“, fuhr Khassid ihm über den Mund. „Du hast das Pferd zu satteln, dazu gehört, dass du schaust, ob alles heile ist. Der Riemen hätte dir auffallen müssen.“

Es war harte Arbeit, aber Redjin zwang sich zum Schweigen. Es brachte ja nichts.

Khassid starrte ihn wütend an. „Du könntest dich wenigstens entschuldigen.“

„Entschuldigung, Hauptmann.“

„Das nächste Mal ohne besondere Aufforderung, Junge! Herren aller Welten, wie kann man nur so verstockt sein?“

Redjin kannte viele Gründe für Verstocktheit, und umso mehr, wenn es um Hauptmann Khassid ging. Gründe, an die er lieber nicht denken wollte, weil er dem Hauptmann sonst noch Dinge an den Kopf werfen würde, die ihm mehr Ärger als die wahrscheinliche Tracht Prügel einbringen würden.

Khassid schüttelte den Kopf. „Komm mit“, knurrte er, „und wage es ja nicht. Was immer du vorhast – wage es nicht!“

Redjin zog vor, der Anweisung Folge zu leisten, und folgte Khassid zickzackenderweise – immer den Schneepfützen ausweichend – zum Wachhaus, das in der Mitte des großen Palasthofes stand. Der Stall kuschelte sich an die südliche Mauer, im Norden prangte das aberwitzig hohe Gebäude der göttlichen Herrschaft mit seinen unzähligen Fenstern. Die vordere Front hatte fünf Geschosse, die Turmgeschosse hatte Redjin nie gezählt. Das Wachhaus war ein kleiner Holzbau, nur ein Geschoss und darüber das strohgedeckte Winkeldach, unter dem sich wohl auch noch ein Raum verbarg. Redjin hatte das Wachhaus erst einmal betreten, als er vor einigen Jahren frech zu einem der Wachmänner gewesen war und sich dort seine zehn Peitschenhiebe abgeholt hatte. Seitdem ging er dem Gebäude, den Wachen und auch sonst allem möglichst weit aus dem Weg.

„Du wartest hier!“, befahl der Hauptmann und zeigte auf den Platz neben der Tür zum Wachhaus. „Und mit warten meine ich warten – bis du geholt wirst.“

Redjin stellte sich stumm auf den angezeigten Fleck und starrte auf den Boden. Er spürte, wie er einen Moment lang angestarrt wurde, dann knarrte die Tür in den Angeln, Schritte gingen von Schneematsch auf Holzdielen und die Tür wurde zugeschlagen.

In trockener Kleidung und mit einem Becher Tee in der Hand fühlte sich Khassid zwar wieder etwas mit der Welt versöhnt, doch die nächsten Wochen würden alle Sklaven über ihn lachen, das stand fest. Nie offen, aber dafür mit Ausdauer und Hingabe.

Seine Untergebenen hatten sich, soweit es ihnen möglich war, aus dem Staub gemacht. Nur die Wachhabenden waren anwesend, saßen am zweiten Tisch und schielten ihn hin und wieder verstohlen an.

Khassid füllte sich Tee nach und spürte, wie seine Stimmung mit dem Becher um die Wette dampfte.

„Nun nehmt’s Euch doch nicht so zu Herzen“, brummelte der Zweite Wachoffizier Tharvak. Khassid reagierte nicht, was Tharvak offensichtlich als positives Zeichen deutete, denn er setzte sich zu Khassid an den Tisch. Sie kannten einander schon lange, waren fast gleich alt, hatten gemeinsam Ausbildung und Kriegserfahrungen durchgemacht, ohne jedoch dabei Freunde zu werden. Aber sie respektierten einander. Daher bediente sich Tharvak ohne zu fragen an Khassids Tee und schaute den Hauptmann der Wache prüfend an. „Ich sage Euch, wie ich das machen würde: Der Junge kriegt ein paar mit der Peitsche und geht zurück in den Stall, und alles geht weiter wie bisher. Hm? Kein Grund für schlechte Laune.“

Khassid schlürfte etwas Tee. „Wie lange bin ich jetzt Hauptmann, Tharvak?“

Der Wachoffizier überlegte kurz. „Müssen jetzt fast drei Jahre sein, oder?“

„Etwas mehr als drei Jahre. Ich bin mit sechsundzwanzig Hauptmann geworden, in ein paar Wochen werde ich dreißig.“

„Stimmt wohl. Ich bin Euch altersmäßig ja immer ein Jährchen voraus.“

„Wenn es nach meinem Vater geht, übernehme ich in fünf bis zehn Jahren seinen Posten als göttlicher Haushofmeister.“

„Tja, Karriere muss man machen können“, gab Tharvak etwas verwirrt zurück, „bei mir reicht’s nicht für mehr als Wachoffizier.“

„Einige können Karriere machen, andere müssen es“, antwortete Khassid bitter und schaute auf seinen Becher. Seine Hand umfasste das Gefäß so fest, dass die Fingerknöchel weiß durch die Haut schimmerten.

Tharvak gab einen undeutbaren Laut von sich, der eigentlich nur aussagte, dass er Khassid gehört hatte, aber er konnte unmöglich verstehen, was gerade in Khassid vorging. Er hatte für die frühen Beförderungen viel erduldet, hart für das Vertrauen der göttlichen Herrschaft gearbeitet, und dennoch stieß er noch immer auf Skepsis unter den Wachleuten. Sicher dachten alle, dass Khassids Erfolg zum Großteil auf dem Einfluss seines Vaters beruhte, der als göttlicher Haushofmeister der wichtigste Mensch im Palast war. Es war zum Verrücktwerden. Langsam begannen einige, seine Qualitäten zu sehen und ihn als Anführer zu akzeptieren, und nun das, diese öffentliche Lächerlichkeit!

„Tut Eurer Karriere sicher nicht weh“, riss ihn Tharvak schließlich aus seinen Gedanken. „Klar, alle kichern ’n paar Tage drüber, aber es war halt ein dummer Zufall, weil der Junge zu blöd ist, die Riemen zu prüfen.“

„Hmpf.“ Khassid leerte den Becher und stand auf. „Bestraft werden muss er trotzdem. Schon alleine, damit ich nicht wie ein Trottel dastehe.“

„Klar, Hauptmann, sehe ich doch genauso. Wenn Ihr’s nicht machen wollt, mache ich’s gerne, der hat eh noch was gut bei mir.“

Khassid schüttelte den Kopf. Er mochte keine Prügelstrafen. Bei manchen mochten sie wirken, Redjin gehörte seiner Einschätzung nach nicht dazu. In den letzten zehn Jahren hatte der Junge öfter schon welche abbekommen, das hatte ihn wenn überhaupt nur noch verstockter gemacht. „Ich glaube, der muss mal in Ruhe nachdenken, wie gut er es bei uns eigentlich hat. Dach überm Kopf, Essen, und wer seine Arbeit gut macht, kriegt auch keine Prügel.“ Khassid atmete tief durch und stand auf. „Genau. Jawohl.“

Tharvak deutete ein verständnisloses Nicken an, zuckte mit den Schultern und griff sich Khassids Teetasse. „Wenn Ihr meint.“

Redjin wartete wie befohlen vor der Tür und sah nicht einmal auf, als Khassid sie öffnete. Er starrte auf den Schneematsch, das Gesicht wie immer eine Maske aus Sturheit, Ablehnung und überraschend schönen Gesichtszügen. Siebzehn mochte der Junge jetzt sein, vielleicht schon achtzehn; Khassid wusste es nicht mehr. Sein blondes Haar war struppig und staubig und kannte offensichtlich keinen Kamm, nur halbstumpfe Messer und Mähnenscheren aus dem Stall, die es der Länge nach im Zaum hielten. Die Kleider waren wie bei allen Stallsklaven eher Lumpen – Abgelegtes aus Küche und Palast, denn es lohnte sich nicht, im Stall gute Kleidung zu ruinieren. Die auffälligen Wangenknochen und das spitze Kinn erzählten eine kleine Geschichte von Machtrangeleien und Essensentzug durch die Anführer im Stall. Andererseits hatte Redjin sich das vermutlich selbst zuzuschreiben.

Khassid wusste nicht viel über den Jungen. Ihre Leben hatten kaum Berührungspunkte: Khassid lebte im Palast und ein wenig im Wachhaus hier auf dem Hof, Redjins Leben spielte sich im Pferdestall ab, wo sich jeder nur darum kümmerte, dass er möglichst wenig arbeiten musste. Was verstand Redjin schon von Khassids Leben, das nur daraus bestand, dass er sich kümmerte? Um seine Herren, seine Karriere, die Ehre und Erwartungen seines Vaters, sein Äußeres, seine Untergebenen – Khassid war immer im Einsatz und dazu noch unterwegs in den Gängen des Palastes, im Innenhof, im Umland.

„Ich habe es nicht nötig, mich von einem Sklaven lächerlich machen zu lassen“, sagte Khassid barsch, ohne dass Redjin darauf reagierte. „Aber es bringt wohl nichts, dich für Unaufmerksamkeit auszupeitschen, wenn es nicht einmal gegen deine Frechheit hilft. Eine Strafe bekommst du trotzdem. Da Prügeln aber bei dir nichts zu bewirken scheint, werde ich eine andere Strafe ausprobieren.“

Skeptische Sorge schlich sich in Redjins Gesicht, und er schaute endlich vom Boden auf, so dass Khassid diese sommerhimmelblauen Augen sehen konnte, über die er viel zu oft nachdenken musste und die ihn immer ein bisschen aus dem Konzept brachten. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, sondern die Strafe angemessen distanziert zu verkünden.

„Die Zuchtstuten sollen sich noch etwas die Beine vertreten, bevor der Schnee kommt. Und du auch. Vielleicht war es ein Fehler von mir, dich wegen deines schlechten Betragens den Sommer über nicht aus der Stadt zu lassen – der Qualität deiner Arbeit hat es jedenfalls ebenso wenig geholfen wie deinen Manieren. Nun kannst du die Frischluft nachholen. Du wirst die Pferde auf die hintere Hangweide führen und sie dort bewachen. Ich erlaube dir sogar, die Hütte zu benutzen, damit du es dir etwas gemütlich machen kannst und nicht erfrierst. Morgen früh machst du dich auf den Weg. Ich lasse dir täglich Essen bringen. Du kehrst erst dann zurück, wenn ich es dir befehle. Verstanden?“

Redjin starrte ihm wütend ins Gesicht, nickte und ging wortlos an ihm vorbei.

Khassid presste die Lippen zusammen. Nie bedankte sich irgendjemand bei ihm für seine Großzügigkeit. Und Redjin erst recht nicht. Ungebeten schlich sich die Frage in seinen Kopf, wie Redjins Augen wohl aussahen, wenn er lächelte.

Zwischen Erleichterung und Wut pendelnd ging Redjin zum Stall zurück. Das hätte schlimmer kommen können. Aber erst hatte ihn der Hauptmann ewig draußen stehen lassen und dann diese blöde Strafe, Wachdienst auf der Koppel, tagelang! Warum nicht einfach eine Tracht Prügel und gut? Damit war man schnell durch und hatte dann wieder seine Ruhe.

Vor der Stalltür blieb er stehen. Lachende Stimmen drangen durch das Holz, vermutlich saßen alle beim Abendessen beisammen und freuten sich über Redjins Bestrafung. Wer feierte dort wohl am lautesten, fragte er sich. Der lange Tiynan? Die stets mürrische Ridyadhi? Die Stallsklaven waren eine bunte Mischung aus verschiedensten Völkern, die aus verschiedensten Gründen hier gelandet waren. Ein paar waren verurteilte Verbrecher, andere hatten sich in die Gegend verirrt oder waren von Sklavenhändlern hierher verkauft worden. Und andere waren Kriegsbeute. Eins hatten sie alle gemeinsam: Keiner von ihnen gehörte zu den Belkhai, die hier im Palast alle wichtigen Posten innehatten. Als Belkhan wurde man nicht besonders schnell Sklave, und wenn doch, dann landete man in der Küche oder in der Wäscherei, aber nicht im Stall. Weiter nach unten ging es nicht.

Redjin hörte Tiynans charakteristisches wieherndes Lachen und verspürte keine Lust, zu der ausgelassenen Gesellschaft zu treten und in die grinsenden Gesichter zu blicken. Gut zehn Jahre war es nun her, seit Redjin von den Soldaten mitgebracht worden war; ein verschreckter Junge von etwa acht Jahren, verwaist, einsam und fern von daheim.

Daheim, das war eine ferne Erinnerung an salzige Luft, Möwengeschrei und dem ewigen Heben und Senken des Schiffes. Das leise Klatschen der Wellen gegen den Bug. Das behagliche Knarzen der Planken. Mutters Gesang und Vaters ruhige Stimme, mit der er abends Geschichten erzählte. Das muntere Geplärr des kleinen Bruders, dessen Namen er vergessen hatte, und der noch kleineren Schwester, die kaum mehr war als ein Schatten in seinem Gedächtnis. Seinen älteren Bruder, den kannte er noch, obwohl auch er schon lange tot war. Kyenti. Groß und kräftig und immer bereit, mit Redjin auf dem Rücken über das Deck zu hüpfen.

Bis heute war Redjin fremd geblieben in der Sklavenschar, denn die kamen alle von Bauernhöfen oder aus Städten und hatten sich damit abgefunden, Pferde zu putzen, Pferdescheiße zu schaufeln und bei guter Führung einen Posten im Palast zu ergattern. Redjin aber stammte aus einer besseren, mythischen Welt der Freiheit und der See. Was wussten diese Landratten schon von seinem Leben? Was verstanden sie von Freiheit? Für sie war es Freiheit, anderen das Essen wegzunehmen.

Mistgabeln statt Taue, dämliche Pferde statt Planken und Strohsäcke statt einer komfortabel mit dem Atem des Schiffes schaukelnden Hängematte. Redjin hatte die Nase schon voll vom Sklavendasein gehabt, bevor es recht begonnen hatte.

Er drückte die Tür einen Spalt breit auf, quetschte sich hindurch, huschte an der laut plaudernden Gesellschaft im Vorraum vorbei, die Stallgasse entlang zur Leiter, die auf den Heuboden führte. Dort hatte er sein Quartier eingerichtet, zusammen mit anderen Außenseitern des Stallvolks, die zumindest im Sommer hier oben Zuflucht nahmen. Die Hauptgruppe schlief unten, dort, wo das Feuer abends prasselte und die Glut sich die Nacht über hielt. Die meisten von Redjins ausgestoßenen Kollegen krochen daher zu Beginn des Winters bei der Hauptgruppe an und baten um Aufnahme. Redjin hatte das noch nie getan, nicht einmal in dem heftigen Winter vor drei Jahren, in dem er morgens zwischen gefrorenen Heuhalmen aufgewacht war.

Es war dunkel hier oben. Redjin kroch auf allen Vieren, tastete sich voran bis zu seinem Lager. Neben ihm hatte bis gestern der kleine rothaarige Valjanth geschlafen, doch der war am Morgen bibbernd mit seinen Sachen die Leiter hinuntergekraxelt und hatte sich bei Tiynan eingeschmeichelt.

Blieb nur noch Nulda. Wenn sie ging, hatte Redjin den Heuboden wieder für sich alleine.

Hoffentlich ging sie bald. Redjin liebte die Winterruhe im Heu.

Er wühlte sich zwischen seine Decken, rollte sich mit ihnen in einen Heuberg und überlegte, ob das Exil auf der Hangweide wirklich so schrecklich war, wie es im ersten Moment geklungen hatte. Kalt war es dort, sicher, aber die Hütte hatte einen Kamin, und Feuerholz lag in einem großen Stapel neben der Hütte. Die Pferde versorgten sich weitgehend selbst, brauchten nur täglich etwas von dem Heu, das unter dem Hüttendach eingelagert war.

Keine hinterhältigen Sklavenkollegen.

Keine ständigen Nörgeleien, Vorschriften und Maßregelungen; keine engen Stallgassen, staubigen Strohmatten und stinkenden Misthaufen.

Nur die blöden Pferde, gut, die blieben ihm leider erhalten. Redjin hielt nicht viel von Pferden. Aber sie hatten wenigstens nichts gegen ihn, konnten ja nichts dafür, dass sie als Pferde zur Welt gekommen waren. Nein, die Pferde waren schon in Ordnung. Sie ließen ihn in Ruhe, solange er sie auch in Ruhe ließ.

Es raschelte leise im Heu – Mäuse, Ratten oder vielleicht eine Katze auf der Jagd nach ebensolchen. Redjin lauschte den Geräuschen, erkannte eine nächtliche Jagd, Verfolgung, Lauern und Sprung. Die Katze verfehlte offensichtlich ihr Ziel, denn der zarte Schmerzlaut blieb aus.

Irgendwann raschelte es erneut, als Nulda ins Heu kroch. Das Geräusch ihrer klappernden Zähne mischte sich mit dem Mahlen der Pferdezähne, das von den Boxen unter ihnen empordrang, und die Geräusche verwandelten sich für Redjin irgendwann in das leise Knarzen von Schiffsplanken in einer sanften Dünung.

Auf der Weide

Der nächste Morgen war trocken und kalt. Noch zeigte sich die Sonne nicht, denn es ging auf Mittwinter zu, daher würde sie erst im Lauf des Vormittags müde über den Horizont kriechen. Im Schein von Laternen arbeiteten die Sklaven im Stall, misteten Boxen aus, bürsteten Pferde und putzten das Sattelzeug.

Redjin kam recht spät die Leiter herunter. Seine Finger und Zehen waren taub vor Kälte, so dass er sich kaum festhalten konnte. Er holte sich am Feuer einen Becher Tee, einen Brotkanten und ein Stück Speck, mümmelte das Frühstück in einer stillen Ecke und ging dann zu Tiynan.

„Ich soll die Zuchtstuten zur hinteren Hangweide bringen. Irgendwer muss mir helfen.“

„Sagt wer?“

„Sagt Hauptmann Khassid.“

„Zu mir nicht.“

„Geh doch und frag ihn.“

Tiynan grunzte ärgerlich, das traute er sich dann doch nicht. „Nulda!“, bellte er durch die Stallgasse. „Valjanth! Unser Prinzchen schafft seine Aufgabe nicht alleine, seid doch so gütig und helft ihm!“ Damit wandte er sich ab und verschwand in den Innenhof, während die Herbeigerufenen Redjin wenig begeistert anstierten.

Ihre Mienen hellten sich aber auf, als Redjin ihnen die Aufgabe erklärte. Etwas frische Luft bei einem Ausritt war nicht das Schlechteste, das einem im Stall passieren konnte. Die Hangweide war nicht weit von der Stadt entfernt, vom Heuboden aus konnte man ihr vorderes Ende sehen, doch ein sumpfiger Landstrich blockierte den direkten Weg, so dass man recht umständlich um die halbe Stadt reiten musste.

Den drei Sklaven war dies nur recht. Jeder von ihnen nahm sich eine der Stuten und zäumte sie als Reitpferd. Als die anderen in ihre Arbeiten vertieft waren, entließen sie die restlichen Tiere in die Stallgasse und trieben sie von dort in das abgetrennte Hofstück vor dem Stall. Dann erklommen sie ihre Reitpferde und begannen den Weg zur Weide, Redjin vorne, Valjanth hinten und Nulda in der Mitte der Herde, um ein Ausbrechen einzelner Pferde zu verhindern. Im gemächlichen Schritt ging es durch das Stadttor, dann links den breiten Feldweg entlang, nach einer Weile von dort auf einen Trampelpfad entlang der Holzzäune. Als sie die hintere Hangweide erreichten, war die Sonne über den Horizont gekraxelt und beschien das raureifknistrige Gras.

Nulda und Valjanth halfen Redjin noch, die Stuten auf die Weide zu bringen, dann machten sie sich auf den Weg zurück zur Stadt.

Redjin vermisste sie keine Sekunde.

Er legte sein kleines Bündel in die Hütte und begann, die Dinge dort für seinen Aufenthalt vorzubereiten: Der Kamin musste angefacht werden, und Redjin setzte gleich den Kessel mit Wasser auf; dann holte er einige Holzscheite auf Vorrat und stapelte sie im Fach unter dem Kamin. Als die Mittagssonne hell und blass durchs Fensterloch schien, setzte er sich in den Sonnenstrahl an den Tisch und genehmigte sich die Hälfte seiner mitgebrachten Vorräte und einen Becher dampfendes Wasser. Dann ging er hinaus, um nach den Pferden zu sehen, die friedlich grasten.

Über dem Hang thronte der Palast wie ein überdimensionierter Wachhund. Redjin schaute an den felsigen Flanken hinauf und zählte die Fensterlöcher, kam durcheinander und hörte wieder auf. Er fragte sich, wie es wohl war, dort oben zu sitzen und über Land und Leute zu herrschen. Falls dort jemand gerade am Fenster stand, musste er Redjin bei seiner Mittagspause gut beobachten können. Redjin kannte niemanden aus dem Palast, sein Kontakt mit den Hochwohlgeborenen und ihren Herren beschränkte sich auf Khassid und seine Wachen. Und mehr wollte er von dem göttlichen Gesocks und seinen Hündchen auch nicht wissen.

Einige Male hatte er einem der halbgöttlichen Zwillinge ein Pferd bringen müssen. Die Tochter, Heylin, war noch erträglich – sie war arrogant und nahm keinen der Sklaven überhaupt wahr, aber damit konnte Redjin leben. Ihr Bruder allerdings, Sereyvin, ging gar nicht, fand Redjin; wann immer er den sah, stellten sich ihm die Nackenhaare auf – vor allem, da er Haar- und Augenfarbe je nach Stimmung wechselte.

Er beschloss, sich den Tag nicht mit Gedanken an Halbgötter und ihre finstere Aura zu verderben, wandte den Blick vom Schloss ab und der Weide zu. Er setzte sich auf einen großen flechtenüberwucherten Stein, schaute den Pferden zu und fragte sich, ob Khassid wusste, wie seine Bestrafung aussah.

Außerdem beschloss er, sich öfter so bestrafen zu lassen.

Als sich die Sonne dem Horizont zuneigte, ging er zurück zur Hütte und erklomm den kleinen Heuboden. Er warf einige Armvoll Heu hinaus, raffte es auf eine Schubkarre zusammen und begab sich damit hinaus auf die Weide. Dort verteilte er das Heu auf zwei Haufen, um die sich die Stuten sofort scharten, denn das späte Gras schmeckte längst nicht so gut wie das getrocknete Sommergras. Redjin sah ein Weilchen zu, um sicherzugehen, dass keine Keilereien losgingen; dann ging er zurück zur Hütte und entzündete dort die Laterne.

Er vergewisserte sich, dass der nagelbewehrte Knüppel neben der Tür an der Wand lehnte, falls sich ein unerwünschtes Tier blicken lassen sollte; dann aß er etwas, trank heißes Wasser, fachte den Kamin ordentlich an und schloss die Fensterläden.

Das Feuer knackte leise im Kamin, ansonsten war es still und schummerig im Laternenlicht. Draußen ging kein Lüftchen. Redjin spürte, wie ihm die Augen zufielen, und stand auf, um ein wenig auf- und abzugehen. Schließlich musste er noch einmal hinaus zu den Pferden. Khassid sollte ihm nicht vorwerfen können, seine Aufgabe nicht gewissenhaft zu erfüllen. Außerdem traute Redjin dem Hauptmann durchaus zu, dass er noch auf einen Kontrollbesuch vorbeisah, und er war nicht auf weiteren Ärger erpicht.

Als sich die Finsternis draußen nicht mehr nach Nachmittag, sondern nach Abend anfühlte, nahm Redjin die Laterne und öffnete die Tür gerade so weit, dass er sich hindurchquetschen konnte, ohne allzu viel Kälte in die Hütte zu lassen.

Das gefrorene Gras knirschte unter seinen Sohlen. Die Laterne warf kaum genug Licht, um Redjins Hand zu erleuchten, geschweige denn den Boden. Er stolperte durch die Finsternis, immer dem erinnerten Weg nach, bis ihn die Geräusche der Pferde leiteten.

Die Stuten hatten sich unter einen Vorsprung des Hangs zurückgezogen und schauten ihm neugierig und müde entgegen, als das Funzellicht in ihren Augen reflektierte. Redjin zählte sie durch, war zufrieden und ging zurück zur Hütte.

Er warf noch einmal Holz auf das Feuer, sortierte die Decken und das Bärenfell, die als Bettzeug auf dem Strohsack bereitlagen, löschte die Laterne und machte es sich vor dem Feuer gemütlich.

Eigentlich war es schade, jetzt einzuschlafen. So einen schönen Abend hatte er seit seiner Kindheit nicht mehr gehabt. Aber mit etwas Glück kamen noch weitere Abende, und außerdem nahm ihm die Müdigkeit die Entscheidung ab, schnappte sich ihn und zog ihn mit sich fort.

Er wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Die Hütte war dunkel, nur ein schwaches Glimmen vom Kamin half ihm bei der Orientierung.

Dann wusste er, warum er wach war: Ein grelles Quietschen durchdrang von draußen die Hüttenwand.

Die Pferde!

Schneller, als er denken konnte, war Redjin an der Tür, die Hand griff von selbst nach der Nagelkeule, schon war er ohne Lampe in der Finsternis und rannte den ängstlichen Geräuschen entgegen.

Der Mond blinzelte zwischen den Wolken hervor und zauberte Schemen aufs Gras. Die Stuten rannten nervös auf und ab, er konnte sie nicht wirklich zählen, aber ihm schien, als würde mindestens eine fehlen. Eines der Pferde bemerkte ihn, schnoberte ängstlich an seiner Hand, ließ sich streicheln und ein wenig beruhigen, während die Wolken die Welt wieder in Finsternis tauchten.

Die Stute zuckte zurück, und da spürte Redjin bereits die Bewegung neben sich, ein Lufthauch mit beißendem Raubtiergeruch. Er warf sich zu Boden, während das Pferd mit einem großen Satz lossprang und davonrannte; nur knapp entging es dem Angreifer. Redjin rollte sich herum, kam auf die Füße, bückte sich und tastete nach der Nagelkeule. Hufgetrappel und ängstliche Schreie der Pferde tosten unsichtbar im Finstern über die Weide. Endlich fanden seine Finger festes Holz. Er lief den Hetzgeräuschen entgegen, der Knüppel rutschte in seiner schweißfeuchten Hand, er hörte sich keuchen. Hoffentlich waren es Wölfe. Redjin wollte nicht einmal darüber nachdenken, was eine Gruppe von Pferden noch so in Panik versetzen konnte, wenn es keine Wölfe waren. Aber die Geräusche von Wölfen kannte er – und was immer auf der Weide war, machte keine Geräusche.

Die Wolken gaben endlich wieder den Mond frei, gerade rechtzeitig, denn so sah Redjin die panische Pferdestampede auf sich zukommen und konnte ausweichen. Die Hufe trommelten an ihm vorbei. Hinter den Pferden rannten zwei Schemen, geduckt und geschmeidig.

Viel zu groß für Wölfe.

Redjin packte die Nagelkeule fester, obwohl ihm die Hände so stark zitterten, dass er sich beinahe selbst damit schlug.

Sein Hieb mit dem Knüppel traf eines der Wesen seitlich am Kopf; es gab ein schnarchendes Geräusch von sich und stürzte. Sein Gefährte hielt abrupt an, vergaß die Hetzjagd und widmete sich dem unerwarteten Angreifer. Grün funkelnde Augen sprangen auf Redjin zu, er schwang seine Keule, spürte heißen Atem und den sengenden Schmerz von Zähnen in seiner linken Schulter, trat und krallte und schlug, biss seinen Angreifer ins fellige Gesicht unterhalb des glühenden Auges, wusste nicht, ob die Schmerzensschreie seine oder die der Bestie waren.

Dann wurde alles weich und dunkel.

„Wie sieht’s aus?“, fragte Khassid, kaum dass er das Krankenquartier des Palastes betreten und den Hofarzt erblickt hatte.

„Der Bursche ist noch im Traumland, Hauptmann. War auch besser so, der hat sich ordentlich Dreck in die Wunde gesteckt, da musste ich ziemlich drin rumwühlen, bevor wir den Kram zunähen konnten. Mal gucken, ob er nochmal aufwacht.“

Khassid nickte, schluckte trocken und ging zu Redjins Bett.

Die linke Schulter, der Oberarm und Teile der Brust waren dick bandagiert. Darunter, das hatte Khassid in der Nacht gesehen, verbargen sich grausame Biss- und Reißwunden. Er sah den blutüberströmten Jungen immer noch vor sich, so wie ihn der Wachtrupp mitgebracht hatte. Alarmiert vom Geschrei der Pferde von der nahen Weide war die Nachtwache augenblicklich losgeritten und gerade noch rechtzeitig gekommen, um die Bestie von ihrem Opfer zu vertreiben. Als sie Redjin erreichten, war er bewusstlos, doch seine Hand hielt immer noch die Nagelkeule umklammert. Eine zweite Bestie hatte man am Morgen mit zertrümmertem Schädel auf der Weide gefunden, die Spuren erzählten, wie das Tier mitten im Sprung getroffen und augenblicklich tot zusammengebrochen war. Ein sauberer, präziser Schlag.

Wahnsinn für einen einzelnen Burschen mit nichts als einer Nagelkeule.

Khassid hatte sich das tote Biest angeschaut, eine monströse Kreatur, ein wenig an eine Schneekatze erinnernd, doch weitaus größer und mit unglaublich großen Zähnen. Es war ein Wunder, dass Redjin überhaupt noch lebte; ein Prankenschlag hätte ihm sicher den Schädel zertrümmert.

Zwei der Stuten hatten die Bestien gerissen, eine weitere war so schwer verletzt, dass die Soldaten sie noch in der Nacht vom Leid erlöst hatten. Der Rest der Herde war vom Schreck gezeichnet, aber bis auf kleine Abschürfungen und verstauchte Fesseln gesund.

Dank Redjin.

Khassid fühlte heftiges Schuldgefühl in sich nagen, als er den bewusstlosen Jungen betrachtete. Unter den Augen waren tiefe, dunkle Ringe. Die Haut sah fahl und leblos aus, so dass Khassid unwillkürlich Redjins Wange berührte, um sicherzugehen, dass er nicht schon tot war. Er fühlte sich beängstigend kühl an.

„Hat ordentlich Blut verloren“, meinte der Hofarzt. „Dazu braucht’s keine Schlagader, wenn so viel Gewebe verletzt wird. Wenn er nicht bald aufwacht und sich stärkt, wird das glaub ich nix mit ihm. Schade drum.“

„Ja.“ Khassid schluckte abermals trocken. Sein Mund war wie ausgedörrt.

Was hatte ihn bloß dazu getrieben, den Jungen im heraufziehenden Winter alleine als Pferdewache auf die Weide zu schicken? Vor zwei Wintern waren doch schon einmal Bestien durchs Land gezogen, hatten schwere Schäden unter den Herden angerichtet und die Bauern terrorisiert, bis die Herrin Heylin eines Nachts losgezogen war. Drei frische Felle hatte sie am Morgen mitgebracht. Heute schmückten sie den Thron ihres göttlichen Vaters, der sie hin und wieder anschaute, mit der Hand durch das weiche Fell fuhr und seine Tochter stolz anlächelte.

Für eine Halbgöttin waren die Bestien aufregende Gegner. Für einen Sklaven waren sie ein Todesurteil.

Eine kleine Stimme wollte Khassid beruhigen, ihn daran erinnern, dass seit Heylins Jagd keine dieser Bestien gesichtet worden war. Die pflichtbewusste Stimme in Khassids Kopf konterte sofort, dass er als Hauptmann mit einer Rückkehr hätte rechnen müssen. Er war für Redjin verantwortlich. Er hätte ihn bestrafen sollen, ohne ihn in eine Zwischenmahlzeit für Alptraumwesen zu verwandeln.

Er sah sich nach dem Hofarzt um, doch der hatte gerade das Krankenzimmer verlassen.

Gut.

Sacht neigte er sich Redjin zu. „Es tut mir leid“, wisperte er, kaum mehr als ein Atemhauch, damit ihn niemand hören konnte. „Ich wollte das nicht. Es tut mir wirklich leid.“

Redjin regte sich nicht, aber Khassid fühlte sich ein wenig besser. Mit zwei Fingern strich er über die fahle Stirn und fragte sich, ob er die blauen Augen, die er vor kurzem noch verflucht hatte, je wiedersehen würde.

Dann stand er auf.

Es gab viel zu tun. Der Hauptmann der Wache konnte es sich nicht leisten, am Krankenbett eines Sklaven auszuharren, ganz gleich, wie schuldig er sich fühlte.

In der Finsternis des frühen Abends kehrte Khassid ins Krankenquartier zurück. Der Tag war unerfreulich gewesen; Rügen wegen seiner Leichtsinnigkeit und Nachlässigkeit gepaart mit der Planung von Erkundungstrupps, Wachkoordination und Analyse der Spuren der letzten Nacht. Sein Vater hatte ihn wegen der toten Stuten hart geschimpft. Am meisten ärgerte Khassid sich darüber, dass diese Schimpfe ihn immer noch ärgern konnte, obwohl er in seinem Alter und in seiner Position wirklich nicht mehr jemand war, mit dem man einfach mal schimpfen konnte. Er war doch kein dummes Kind mehr! Als ob sein Vater nicht auch manchmal Fehler machte! Aber mit dem schimpfte niemand, nicht einmal der Herr.

Khassid seufzte, schob die Gedanken beiseite und betrat den schummerigen Raum.

Außer Redjin lagen hier nur zwei Diener mit schweren Erkältungen, und die lagen gleich neben der Tür in ihren Betten und unterhielten sich schniefend und hustend. Redjins Bett war am anderen Ende des Krankenzimmers unter dem Fenster, damit er zu seinen Verletzungen nicht auch noch einen Schnupfen bekam. Außerdem hielt der Arzt es für gut, wenn er tagsüber zumindest ein wenig Licht abbekam.

„Ist er aufgewacht?“, fragte Khassid.

Der Arzt sah auf; er saß im Laternenlicht an einem Tisch und köchelte mit einem kleinen Spirituskocher etwas aus Kräutern und mysteriösen Substanzen zusammen. „Nö.“

Khassid trat näher. „Und wie sieht es aus?“

„Wenn er nicht bald aufwacht, war’s das“, gab der Arzt zurück und widmete sich wieder seiner Brauerei. „Er müsste dringend etwas trinken, damit er das verlorene Blut ersetzt.“

„Und man kann nichts tun, um ihn aufzuwecken?“

„Ihn mit Wasser übergießen?“ Der Arzt kicherte in sein Kännchen hinein. „Nee, Hauptmann. Man kann ihn dann und wann ermutigen, aber wenn’s nicht geht, dann geht es nicht.“

Khassid sah zum Bett unterm Fenster. Kein Licht stand auf dem Tischchen daneben; Redjin war kaum noch als Schemen unter der Decke zu erkennen.

„Ihr könnt’s ja versuchen, Hauptmann.“ Der Arzt deutete hinter seinen Rücken, wo in einem Regal reichlich Kerzen und Laternen lagen.

„Habt Ihr es denn versucht?“

„Vorhin ein paar Mal. Ich habe viel zu tun. Ist doch nur ein Stallsklave.“

Ja, dachte Khassid, aber einer, den ich auf dem Gewissen habe. Er griff nach einer Kerze, und sein Kopf dachte ungebeten weiter: Einer, den ich nicht verlieren will. Seine Hände hantierten mit Kerze und Laterne, ließen letztere beinahe fallen, dass er stumm mit ihnen schimpfte und sich hinterher darüber ärgerte, dass er jetzt schon selbst mit sich schimpfte, als sei er sein Vater. Endlich gab die Laterne Licht von sich. Er ging zu Redjin hinüber und stellte die Laterne auf den kleinen Tisch neben eine Wasserschale und einen Becher mit kaltem Kräutersud, dann setzte er sich auf die Bettkante.

Das Licht war freundlich zu Redjins Gesicht und ließ es rosiger wirken als tagsüber, aber das täuschte. Zumindest fühlte sich die Haut noch genauso klamm an. Aber zuckten Redjins Augenlider nicht ein wenig, als Khassid seine Wange berührte?

Vielleicht nur eine Täuschung.

Vielleicht auch nicht.

Vorsichtig zog Khassid die Bettdecke etwas hinunter, die dem Jungen bis ans Kinn reichte, und kontrollierte die Verbände. Sie waren makellos. Die Blutungen hatten also wohl aufgehört.

„Wann habt Ihr die Verbände gewechselt?“ Er erschrak über seine eigene Stimme, weil sie so laut klang. Aber der Arzt saß ja schließlich auch etliche Meter hinter ihm.

„In der Dämmerung, also am frühen Nachmittag. Die Wunden sehen eigentlich ganz gut aus. Muss nur noch aufwachen, dann kann er im Frühling wieder arbeiten wie gewohnt.“

Khassid war nicht davon überzeugt, dass Redjin sich darüber freuen würde.

Im unteren Fach des Tischchens lagen einige sauber zusammengefaltete Lappen. Er nahm den obersten, tauchte ihn in die Wasserschale und betupfte vorsichtig Redjins Gesicht. Diesmal war er überzeugt, dass die Augenlider zuckten, als der Stoff sie berührte.

„Redjin? Kannst du mich hören?“

Wieso klangen solche besorgten Fragen eigentlich immer so lächerlich?

Er zog die Decke etwas weiter hinab und griff nach Redjins rechter Hand, die neben seinem Körper lag. Der linke Arm war angewinkelt mit den Bandagen über dem Bauch fixiert, da der Hofarzt die ausgekugelte Schulter eingerenkt hatte und das Gelenk nun fixiert werden musste. Vorsichtig drückte er Redjins Finger. „Mach doch keinen Mist, Junge“, murmelte er und kam sich fast noch lächerlicher vor. „Wach schon auf.“

In einer Geschichte hätte Redjin jetzt seine Finger gedrückt. Im Krankenzimmer des Palastes geschah leider gar nichts. Redjins Finger blieben kühl und regungslos. Trotzdem wollte Khassid seine Hand fast nicht loslassen. Schließlich tat er es doch, deckte ihn vorsichtig wieder zu und ging mit der Lampe zum Tisch des Hofarztes zurück. Dort blies er sie aus und ging an den immer noch leise plaudernden Schniefnasen vorbei nach draußen.

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