Das älteste erhaltene Lied aus Yador in Prosafassung

Juli 1999 bis Juli 2005

1: Die Höhle in Yador

Vor langer Zeit, als es in Yador noch einen König gab, lebte im Westen des Landes ein Junge namens Eðrik. Seine Familie wohnte auf einem einsam gelegenen Hof dicht an den Bergen, nahe beim Fluss Nean, der später bei Algath ins Meer mündet. Sie waren arm, so wie es fast alle in Yador sind, denn dieses nördliche Land ist karg und felsig, und harte Winter tun das Übrige, um Bauern das Leben schwerzumachen. Aber es war schon damals ein freies Land, und so blieben die Menschen dort, die Freiheit dem Reichtum vorzogen, und das waren immer gute Menschen.

Eðrik war eins von vielen Kindern, die alle halfen, die Familie durch die Winter zu bringen, sobald sie sicher auf den Füßen standen. Eðriks Aufgabe war die des Hirten. Er verbrachte viel Zeit mit den Schafen, die im Sommer auf den Gebirgsweiden die spärlichen, aber kräftigen Kräuter und Gräser fraßen, und so war er meist alleine. Während die Schafe grasten, spielte er auf seiner Flöte, döste oder erkundete die Umgebung. Eines Tages, als er die Schafe gerade auf eine neue Weide getrieben hatte, fand er beim Herumstromern eine tiefe Höhle, deren Eingang sich wie ein Palastgewölbe aus dem Fels erhob. Eðrik hatte noch nie so ein großes Tor gesehen und wurde neugierig, und so betrat er die Höhle vorsichtig, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Schafe ruhig nach den besten Halmen suchten.

Er hatte kein Licht bei sich, denn es war Sommer, und da wird es in Yador fast nie dunkel. Also musste er sich an der Höhlenwand entlangtasten, je weiter er in die Dunkelheit hineinging, denn was als große Halle begann, wurde schnell zu einem schmalen Gang durch den Berg.

Er wollte gerade umkehren, denn seine Schafe waren ja alleine, und die Bergwölfe würden dies irgendwann bemerken, da sah er vor sich ein rotes Glimmen. Eðrik fürchtete sich, denn ein Feuer im Berg konnte nur Magie oder aber einen Vulkan bedeuten, doch die Neugierde siegte und er ging vorsichtig auf das schwache Glühen zu. Es wurde heller, je näher er kam, so dass er den schmalen Gang besser sehen konnte. Plötzlich öffneten sich die Wände, und er stand in einer großen gewachsenen Felsenhalle. Von der Decke hingen Tropfsteine in den verschiedensten Farben, die in dem rötlichen Licht glitzerten.

Und nun sah Eðrik, dass die Quelle des Lichts weitaus fantastischer war als eine Ader der Erdglut: Am hinteren Ende der Höhle lag ein leibhaftiger Drache, der ihn aus den Augenwinkeln musterte. Immer wenn er ausatmete, stieß er aus seinem Maul eine kleine Flamme aus, die die trockenen Blätter auf dem Boden der Höhle in Brand setzten. Eðrik erschrak zutiefst und rannte aus der Höhle, so schnell ihn seine Beine trugen, und draußen zog er seine Flöte hervor und gaukelte sich und den Schafen vor, dass nichts besonderes geschehen sei.

Doch der Schreck verflog mit der Zeit, und als die Mittagsstunde vorbei war, packte ihn wieder seine Neugierde, und so betrat er abermals die Höhle, diesmal aber schlich er auf Zehenspitzen und wagte kaum zu atmen. Unter äußerster Vorsicht erreichte er die große Halle und lugte nur vorsichtig hinein. Der Drache lag noch immer da, ein grünblau geschupptes Wesen, mehr als zehn Mann lang. Seine Augen waren jetzt geschlossen, doch noch immer atmete er Feuer aus. Als Eðrik das riesige Tier näher betrachtete, sah er, dass es halb unter einem großen Felsblock eingeklemmt war, der sich anscheinend von der Decke gelöst hatte. Eðrik schlich vorsichtig näher, doch auf halbem Weg stolperte er über einen kleinen Geröllhaufen, und der Drache öffnete die Augen.

Eðrik stand einen Moment wie erstarrt vor Schreck und warf sich dann herum, um abermals wegzulaufen, doch da öffnete der Drache sein Maul.

„Warte, Junge!“, rief er Eðrik erstickt nach, und obwohl Eðrik vor Angst schlotterte, blieb er in sicherer Entfernung stehen.

„Tu mir nichts“, sagte er mutiger, als er sich fühlte, „oder ich hole Krieger aus Ahelgand.“ (Das war damals der Name der Stadt, die heute Algath heißt.)

Der Drache schnob eine Rauchwolke aus seinen Nüstern. „Wie sollte ich dir etwas tun? Seit sechs Tagen bin ich hier jetzt eingesperrt, seit dieser Felsen auf mich gefallen ist, und seitdem kann ich mich um keinen Schritt bewegen.“

Eðrik schaute den eingeklemmten Drachen an, und als er sah, wie mühsam er atmete, bekam er Mitleid und trat vorsichtig etwas näher. „Kannst du ihn nicht abschütteln? So groß sieht er gar nicht aus.“

Der Drache schnaufte. „Das habe ich versucht, doch er drückt auf meine Schultern, so dass ich mich fast gar nicht bewegen kann.“ Eðrik sah, wie sich die Muskeln des riesigen Tieres anspannten, und der Felsen bewegte sich leicht, doch dann erschlaffte der Drache erschöpft. „Siehst du? Es geht nicht.“

„Du Armer.“ Eðrik trat nun nahe an den Drachen heran. „Tut es sehr weh?“

„Zu Anfang schon, doch jetzt nicht mehr“, antwortete der Drache müde. „Ich fühle meine Beine kaum noch, weil ich hier schon so lange liege. Und ich werde immer schwächer. Willst du mir helfen?“

Eðrik schaute den großen Felsen skeptisch an und überlegte fieberhaft. Da kam ihm eine Idee. „Versprichst du, dass du weder mir noch meinen Schafen etwas tust, wenn ich dich befreie?“, fragte er.

„Natürlich!“, schnaufte der Drache. „Mein Volk war es schließlich, welches das Wort für ‚Ehre’ erfand!“

„Dann warte hier!“, rief Eðrik und rannte aus der Höhle. Nicht weit von der Bergweide entfernt hatten nämlich vor kurzem einige Männer Bäume gefällt, und dort lagen noch viele starke und lange Äste herum. Eðrik nahm sich einen der kräftigsten und schleppte ihn in die Höhle. Die Augen des Drachen leuchteten auf, als er Eðriks Last sah. Mit großer Anstrengung hob Eðrik den Ast. „Spann deine Muskeln an“, sagte er zum Drachen, und als der Felsen sich deswegen leicht bewegte, schob er den Ast unter den Felsen, so dass das andere Ende vor ihm in der Luft hing.

„Wenn ich jetzt sage, versuchst du, ihn abzuschütteln“, sagte er, und der Drache nickte. Also packte Eðrik das freie Astende mit beiden Händen. „Jetzt!“, rief er und lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Ast, während der Drache einen Katzenbuckel machte. Tatsächlich bewegte sich der Felsen, zuerst nur ein wenig, doch als der Drache sich verzweifelt wand, verlor der Steinblock das Gleichgewicht und rollte an der Flanke des Drachen hinab auf den Boden.

Eðrik ließ sich erschöpft, aber zufrieden zu Boden sinken, während der Drache seine mächtigen Flügel ausbreitete und sich streckte und stöhnte.

„Ich danke dir“, sagte er schließlich und berührte Eðriks Schulter vorsichtig mit der Spitze seines Flügels. „Ich verdanke dir mein Leben, und dafür werde ich dir ewig dankbar sein. Wenn du mich einmal brauchen solltest, ruf meinen Namen, und wenn ich kann, werde ich kommen. Ich heiße Awnkledan.“

Damit faltete Awnkledan seine Flügel zusammen und glitt durch den schmalen Gang aus der Höhle hinaus ins Freie.

***

2: Eðriks Reise

Als Eðrik erwachsen geworden war, machte er sich eines Tages auf eine Reise nach Anoramila, das war damals das Land des Königs von Yador. Es war ein sehr weiter Weg, denn das Gebirge von Ranell trennt die Westküste Yadors vom Königsland, und so kann man entweder auf einem Schiff das Nordkap umrunden oder auf der Königsstraße reisen, die viele Kurven macht und durch das unwegsame Gebirge führt. Eðrik hatte sich für den zweiten Reiseweg entschieden, und so machte er sich im Frühjahr zu Fuß auf den Weg, weil seine Familie keines der wenigen Arbeitspferde entbehren konnte.

Als er nun mitten in den Bergen war, überraschte ihn ein später Schneesturm, und er verlor im dichten Gestöber aus Flocken und Wind den Weg. So kam es, dass er einen Fehltritt machte und in eine vom Schnee verwehte Felsspalte trat und den Halt verlor, und er konnte sich gerade noch an einem Felsvorsprung festhalten, sonst wäre er in die tiefe Spalte gestürzt und wohl nie wieder herausgekommen, sondern zerschmettert als Wolfsfutter liegengeblieben.

So war er nun zwar dem Tod entronnen, doch seine Lage war mehr als misslich, denn er konnte sich an der überhängenden Wand nicht hochziehen, und die Kraft seiner Arme wurde immer schwächer. Da fiel ihm seine Begegnung mit dem Drachen ein, und so rief er so laut er konnte in den Sturm hinein: „Awnkledan! Awnkledan, ich brauche deine Hilfe!“

Er wartete und wartete, solange es seine Kräfte erlaubten, und als seine Hände ihm gerade den Dienst versagen wollten, fühlte er, wie schreckliche Klauen vorsichtig seine Schultern ergriffen, und dann hörte er das Rauschen von mächtigen Flügeln und er wurde durch die Luft getragen und in schwindelerregender Höhe auf einem Felsvorsprung abgesetzt. Eðrik wandte sich dem Drachen zu um sich zu bedanken, doch da blieben ihm die Worte in der Kehle stecken, denn es war nicht Awnkledan, sondern ein anderer Drache: doppelt so groß wie der Grünblaue aus der Höhle und schwarz wie die finsterste Winternacht.

Der Drache schaute ihn mit schiefgelegtem Kopf an und zischte: „Woher kennst du den Namen eines Mitglieds meines Volkes?“

Voller Angst wisperte Eðrik: „Ich habe ihm einst das Leben gerettet, und so sagte er mir seinen Namen, damit er seine Schuld eines Tages zurückzahlen könne.“

Der Drache senkte den Kopf, um Eðrik besser betrachten zu können. „Dann musst du der Junge aus der Höhle sein“, sagte er mit seiner heiseren Stimme, die wie Donner klang.

Eðrik bejahte dies, und so fuhr der Drache fort: „Es ist bei uns nicht üblich, unsere Namen zu verraten, denn sie allein geben anderen Wesen Macht über uns. Der Drache, nach dem du gerufen hast, ist heute weit fort von diesem Gebirge im fernen Süden, und so konnte er dich nicht hören. Ich kam, um zu sehen, welches Menschenwesen es wagt, den Namen eines Drachen auszusprechen, und um es dafür zur Rechenschaft zu ziehen. Da du aber rechtens an seinen Namen gekommen bist, werde ich dich nicht bestrafen. Bedenke jedoch: Solltest du je seinen Namen an andere weitergeben, werde ich persönlich kommen und dich für deinen Verrat bestrafen.“

„Ich werde nichts tun, was dich verärgern könnte“, versicherte Eðrik, und der Drache stieß ein merkwürdiges Grollen aus, das wohl ein Lachen war.

„Das sagst du jetzt, wo du mich siehst und vor Angst schlotterst. Denke aber auch daran, wenn du weit entfernt bei deiner Familie bist.“

„Ich verspreche es“, sagte Eðrik.

Der Drache neigte den Kopf zur anderen Seite und blinzelte. „Ein seltsames Zweibein bist du, mutiger als die meisten Krieger, die fliehen, wenn sie mich sehen.“

„Wenn du mich hättest töten wollen, hättest du mich nur an dem Felsvorsprung hängen lassen müssen“, gab Eðrik zurück, worauf der Drache abermals sein grollendes Lachen ausstieß.

„Klug gesprochen, Zweibein. Dann lass dir auch sagen, dass dein Volk mich Kalém nennt, den Fürst der Drachen.“

Eðrik sah dem Drachen fest in die Augen und nannte seinen Namen. Kalém nickte. „Du solltest vorsichtig sein, welchem Drachen du deinen Namen sagst, denn nicht alle von uns sind so freundlich zu den Menschenwesen wie ich. Aber ich nehme deinen Namen als Versicherung, dass du keinem aus meinem Volk Schaden zufügst.“

„Das kannst du tun“, sagte Eðrik, „doch es wird nicht nötig sein. Ich sehe keinen Grund, einen von euch zu verraten.“

„Wahrhaftig, eine weise Entscheidung,“ sagte Kalém, und seine grünen Augen funkelten amüsiert. Dann öffnete er seine mächtigen Schwingen und ergriff Eðrik abermals an den Schultern. „Du willst auf die Ostseite der Berge, nicht wahr? Nun gut. Sag mir, wenn du eine Pause brauchst.“ Und damit schwang sich Kalém mit Eðrik in die Luft, hinein in den Schneesturm, und flog über die Berge hinweg nach Osten. Mehrere Male bat Eðrik um eine Rast, denn der eisige Wind zehrte an seinen Kräften, und Kaléms Klauen ließen seine Schultern schmerzen, doch am Ende des Tages hatten sie die höchsten Lagen des Gebirges überquert, und so setzte der Fürst der Drachen ihn auf einem grasbewachsenen Berghang ab. Dicht unter ihm begann der Elfenwald des Ostens, und in der Ferne sah Eðrik das Glitzern von Wasser.

„Das ist Mewanmila, das Königsmeer“, sagte Kalém. „Dort findest du Höfe und Dörfer, wo du dich erholen kannst.“

Eðrik bedankte sich für die Hilfe des Drachenfürsten, und der schwang sich wieder in die Lüfte und flog zurück in die Berge.

***

3: Der Drache in Anoramila

Eðrik blieb im Königsland, denn zu jener Zeit war das Leben dort leichter und fröhlicher als irgendwo sonst in Yador, und so errichtete er einen kleinen Bauernhof am Königsmeer, den er bewirtschaftete. Er war schon einige Jahre in Anoramila, als man von einem räuberischen Drachen hörte, der die Dörfer heimsuchte und Tiere und Menschen fortschleppte, um sie zu fressen. Eðrik beschloss, sich dieses Ungeheuer einmal aus der Nähe anzusehen, auch wenn alle Menschen um ihn herum ihn einen leichtsinnigen Toren nannten: „Keiner, der noch seinen Verstand hat, geht freiwillig zu einem mordenden Drachen“, sagten sie, doch Eðrik schlug ihre Warnungen in den Wind und machte sich auf den Weg, denn die Sehnsucht, wieder einen Drachen zu sehen, war seit Jahren ständig gewachsen.

Er erreichte eines der zerstörten Dörfer und erfuhr, dass sich der Drache auf einer Waldlichtung in der Nähe niedergelassen hatte und dort ruhte.

„Wenn er schläft, warum schickt ihr nicht Krieger hin und lasst ihn erschlagen?“, fragte Eðrik.

„Weil sich niemand in die Nähe traut“, antworteten die Dorfbewohner.

„Dann werde ich gehen“, sagte Eðrik, ließ sich einen Speer, ein Pferd und ein Schwert geben und ritt los.

Schon von weitem konnte er die Schuppen des Drachen in der Sonne glitzern sehen, und so saß er von seinem Pferd ab und schlich vorsichtig näher. Der Drache lag zusammengerollt auf der Lichtung und schien friedlich zu schlafen, denn seine Augen waren geschlossen und sein Körper hob und senkte sich langsam bei seinen Atemzügen. Eðrik fasste seinen Speer, doch er wagte nicht, ihn zu werfen, denn er war nur ein Bauer und nicht geübt mit dem Gebrauch von Waffen. Auch fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, dieses Wesen im Schlaf zu töten, denn trotz allem war es doch ein herrliches Geschöpf.

Während Eðrik noch zögerte, erwachte der Drache, da er ihn im Halbschlaf gewittert hatte. Er war jedoch schlau, und so stellte er sich weiterhin schlafend und öffnete lediglich sein Auge einen Spalt, um seinen Angreifer besser sehen zu können.

„Ach, was mache ich nur?“, seufzte Eðrik vor sich hin. „Wenn ich warte, bis er aufwacht, kann ich ihn unmöglich besiegen, aber wenn ich ihn im Schlaf ersteche, ist es eine schmutzige Tat, und ich werde zu einem Mörder.“

„Dann will ich dir deine Entscheidung abnehmen“, knurrte der Drache und warf sich geschmeidig wie eine Katze auf Eðrik, so dass dieser stürzte und zu Boden fiel. Der Drache hielt ihn mit einer Klaue auf dem Boden fest und beugte sich über ihn. „Um einen Drachen zu töten, braucht es mehr als eine scharfe Speerspitze“, zischte er Eðrik an.

„Wem sagst du das?“, antwortete Eðrik wehmütig. „Als ich kam, hast du fest geschlafen und es wäre keine Mühe gewesen, dich zu erstechen. Aber ich tat es nicht, und zum Dank dafür willst du mich jetzt fressen. Ach, wäre ich doch nicht hierher gekommen, hätte ich doch nur auf die Krieger des Königs gewartet!“

„Krieger?“, fragte der Drache misstrauisch. „Wann kommen sie?“

„Das soll ich dir jetzt auch noch sagen, damit du sie genauso töten kannst wie mich? Sollen sie doch kommen und dich in Teile zerhacken, wie du es mit den Leuten aus den Dörfern getan hast!“

„Ich hatte Hunger, und so habe ich gegessen.“

„Warum kannst du nicht wie die anderen Drachen jagen? Warum musst du unsere Dörfer angreifen und unsere Kinder verschleppen?“

„Es macht weniger Mühe“, grunzte der Drache, und seine Augen funkelten mit dunkler Freude. „Und nun genug davon. Ich bin zwar satt, doch ein kleiner Happen wie du passt immer noch in meinen Bauch.“

Da erklang ein Geräusch, wie es Eðrik noch nie zuvor gehört hatte: Wie ein donnerndes Kreischen war es, ohrenbetäubend laut vor Wut, so dass es schien, als ob die Luft vor Angst erbleiche. Dann schoss ein Drache vom Himmel herab und hieb seine Klauen in den anderen Drachen, der Eðrik gerade verspeisen wollte. Die beiden mächtigen Wesen kämpften miteinander, doch der Mörderdrache war seinem um drei Mannlängen größeren Gegner klar unterlegen, so dass er bald die Flucht ergriff.

Eðrik hatte sich währenddessen wieder auf die Beine gerappelt und schaute seinen Retter an. Es war Awnkledan.

„Grüß dich, Junge aus der Höhle“, sagte der. Er war seit dem Tag damals gewachsen und maß nun fast fünfzehn Mann.

Eðrik lächelte ihn an. „Ich hätte nicht gedacht, dich jemals wiederzusehen. Danke, alter Freund, du hast nun mein Leben gerettet und deine Schuld beglichen.“

Awnkledan blinzelte. „Freund? Ein seltsames Wort von einem Zweibein. Doch es war Zufall, dass ich dein Leben retten konnte, denn ich hörte von den Angriffen auf friedliche Dörfer, und es nicht die Art der Drachen, solches zu tun.“

„Dennoch hast du mich gerettet, und dafür bin ich dir dankbar.“

„Daran kann ich dich nicht hindern“, sagte Awnkledan, und seine grauen Augen blitzten grünlich auf, als ob er leise lachen würde. „Doch was gedenkst du nun zu tun? Ich hörte, dass du schon unseren Fürsten Kalém getroffen hast.“

„Auch er rettete mir das Leben. Es scheint, als ob das zu einer Gewohnheit werden könnte“, antwortete Eðrik, und Awnkledan grollte ein Lachen.

„Mag sein. Doch es ist wahr, selten gab es solche Bande zwischen Menschen und Drachen wie bei dir. Wir haben unsere Schuld beglichen und könnten nun jeder seiner Wege gehen, doch würde ich dies bedauern. Die Menschen beginnen uns zu hassen, wenn sie von grausamen Drachen wie diesem hier hören. Du könntest uns helfen, denn wenn wir auch große und mächtige Wesen sind, so sind wir doch im Schlaf euren Waffen schutzlos ausgeliefert. Und wir lieben es nicht zu kämpfen, besonders, wenn der Gegner eines der sprechenden Wesen ist.“

„Verbrecher und Verräter gibt es in jedem Volk, nicht nur bei den Drachen. Ich kenne dich und Kalém, und ihr seid sicher keine gedankenlosen Mörder.“

„Dann willst du uns helfen, Freund?“

Eðrik schaute den Drachen nachdenklich an. „Ja, wenn ich dir meinen Namen sagen darf. Denn du schuldest mir nichts mehr, und es wäre ungerecht, wenn ich mehr Macht über dich hätte als du über mich.“

Awnkledans Augen wurden blaugrau. „Sehr freigiebig mit deinem Namen bist du, denn wie ich hörte, hast du ihn schon Kalém gesagt. Aber gut, wenn du es wünschst, sage ihn mir.“ So nannte Eðrik seinen Namen, und Awnkledan kam näher und berührte ihn mit seiner Klaue. „Nun gut, Eðrik, dann sei dir meiner Freundschaft und meines Schutzes gewiss, wo immer du auch hingehen magst.“

Eðrik legte seine Hand auf die Schulter des Drachen und antwortete: „Und ich verspreche, dir und deinem Volk zu helfen, wenn ich es kann.“

„So sei es denn, Bruder Zweibein.“

Und so ringelte sich Awnkledan auf der Lichtung ein, während Eðrik sich ein Lager für die Nacht machte; und als am nächsten Morgen die Krieger des Königs kamen, staunten sie nicht schlecht, den Bauern Eðrik friedlich schlafend zwischen den Klauen eines fünfzehn Mann langen Drachen zu finden.

***

4: Richtung Osten

Am Morgen erwachte Eðrik, während Awnkledan noch schlief, und so machte er sich auf die Jagd und schoss ein Kaninchen für sich und einen Rehbock für den Drachen. Dann entfachte er ein kleines Feuer, um das Kaninchen zu braten. Vom Rauch erwachte Awnkledan und schnupperte neugierig, doch als er feststellte, dass kein Artgenosse für das Feuer verantwortlich war, sondern nur Eðrik, gähnte er ausgiebig und räkelte sich, was ob seiner Größe sehr beeindruckend war.

„Guten Morgen“, begrüßte er seinen menschlichen Lagergefährten.

„Guten Morgen, feuriger Bruder“, erwiderte Eðrik den Gruß, „ich habe dir Essen besorgt, ich hoffe, du magst Reh.“

Und so machten es sich beide auf der Wiese gemütlich und aßen, während die Krieger des Königs auf ihrem Rückweg die ersten Dörfer erreichten und allen von ihrer merkwürdigen Entdeckung erzählten und davon, dass der gefürchtete Drache entkommen, an seiner Stelle jedoch aber ein anderer aufgetaucht war. Die Neuigkeit verbreitete sich schnell, und Anoramila hatte noch lange etwas zum Erzählen und Staunen.

Awnkledan, der wie alle Drachen mit der Gabe der Vorsehung gesegnet war, blinzelte, nachdem er den Rehbock verschlungen hatte, und sagte zu Eðrik: „Wenn du nicht bald sehr viel Besuch haben willst, solltest du jetzt von hier fortgehen.“

„Aber wohin?“, fragte Eðrik noch kauend.

„Ich fliege nach Osten auf die Inseln“, sagte Awnkledan, „denn meine Liebste lebt jetzt dort, und ich möchte sie treffen.“

„Dann lass mich mit dir kommen“, bat Eðrik. Awnkledan überlegte kurz und blinzelte dann zustimmend. Also ging Eðrik auf den Drachen zu, der sich so flach auf den Boden presste wie es nur ging, und erklomm die mächtigen Schultern des Wesens, um sich zwischen seine Flügel zu setzen.

„Halt dich gut fest“, sagte Awnkledan etwas besorgt, „ich bin es nicht gewohnt, etwas zu tragen.“

„Dann trag mich vorsichtig“, antwortete Eðrik, „ich bin es nicht gewohnt, zu fliegen.“

Und dann öffnete Awnkledan seine Schwingen, fing den Wind darunter ein und schwang sich in die Lüfte, um sich nach Osten zu wenden, auf das Inselreich Shridanor zu.

Der Flug war weit, doch Awnkledan flog schnell, und Eðrik duckte sich auf dem Rücken des Drachen, so dass ihn die Reise weniger erschöpfte als damals, als Kalém ihn in seinen Klauen getragen hatte. Dennoch biss ihn der Höhenwind eiskalt ins Gesicht und zerrte jegliche Wärme aus seinem Körper, und kleine Böen schwächten seine Kräfte.

Schnell hatten sie Anoramila hinter sich gelassen, und nachdem sie auf der Pferdekopfinsel eine kurze Pause eingelegt und zwei wilde Schafe erlegt und gegessen hatten, trugen Awnkledans Schwingen sie über die letzten Inseln hinweg, so dass nur noch das weite, unruhige Meer vor ihnen lag. Der Wind frischte hier auf, wurde stärker und noch kühler und brachte den großen Drachen immer wieder zum Schwanken, so dass Eðrik sich am Ansatz seiner Flügel festklammern musste. Awnkledan wandte einmal kurz den Kopf, um nach seinem kleinen Reiter zu sehen, doch dies brachte ihn in eine falsche Lage, so dass eine plötzliche Windbö ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Danach blickte er nicht mehr zurück, sondern konzentrierte sich auf den Flug.

Eðrik sehnte sich nach einer Pause, doch unter sich sah er nur das weite Meer; keine einzige Insel, nicht einmal ein Felsen erhob sich aus den heftig bewegten Wellen. Awnkledan kämpfte immer härter gegen den Wind an, je weiter sie aufs Meer hinausflogen, und es schien Eðrik fast, als flögen sie auf der Stelle. Er schloss die Augen, presste sich auf den Rücken des Drachen und versuchte, nicht an die tobenden Wellen hundert Mann unter ihm zu denken. Endlich jedoch, als Eðrik schon dachte, er würde ohnmächtig vom Rücken des Drachen in den Tod stürzen, spürte er, wie Awnkledan hinabsank. Das Tosen von Wellen, die sich aufschäumend an Felsen brechen, drang an seine Ohren, und der Wind wurde etwas schwächer. Er wartete, bis Awnkledan ziemlich hart gelandet war und öffnete dann die Augen. Sie befanden sich auf einem rauen, schwarzen Felsblock, auf dem nicht einmal ein einziger Grashalm wuchs.

Awnkledan schaute ihn an und schnaufte müde. „Ich hätte dich gerne an einen gemütlicheren Ort getragen, Bruder Zweibein, doch ich bin froh, überhaupt hierher gekommen zu sein.“

„Wo sind wir?“, fragte Eðrik erschöpft und schaute sich um. Hinter sich sah er eine Landzunge mit einem riesigen Berg, der von dunklen Wolken halb verhangen war.

„Nicht im Osten“, antwortete der Drache. „Ein böser Wind weht von Lalha im Norden, und obwohl ich wahrhaftig kein Schlupfdrache mehr bin, konnte ich nicht verhindern, dass er uns nach Süden geblasen hat. Was du dort hinter dir siehst, ist der Arm Dalas, den ihr die Landzunge des Irdena nennt.“

„Irdena, der Berg der Gefahr?“, fragte Eðrik ungläubig. Er hatte an langen Winterabenden oft den alten Geschichten vom feurigen Berg gelauscht, der sich am östlichen Ende der festen Welt erhob und alles fruchtbare Land im Umkreis von vielen Tagesreisen in einen von Asche bedeckten Geröllhaufen verwandelt hatte. In diesem Moment spürte er, wie sich die Erde unter ihm bewegte, und vom Berg drang ein dumpfes Grollen herüber.

Awnkledan schüttelte unbehaglich den Kopf und reckte die Flügel. „Glaub mir, mir gefällt der Ort genauso wenig wie dir, doch ich muss dringend rasten.“

Eðrik seufzte und strich dem Drachen sanft über den Hals. „Nun, hier ist es besser als auf dem Grund des Meeres. Und ich kann auch ein wenig Ruhe vertragen, denn die Wege der Luft sind rau für einen, der gewohnt ist, auf der Erde zu wandeln.“

Also suchte sich Eðrik einen Felsvorsprung, auf dem er bequem sitzen konnte, und holte aus seinem Proviantbeutel die Reste des Kaninchens vom Morgen, um sich etwas zu stärken. Awnkledan schaute hungrig die kleinen Fleischstückchen an, sagte aber nichts, sondern gähnte und ringelte sich an der Außenkante der winzigen Felseninsel entlang und schloss die Augen.

Hinter ihnen stieß der riesige Berg ein Grummeln aus, und Eðrik sah den Widerschein von Feuer, das aus die steilen Flanken entlangfloss. Der Wind, der noch immer kalte Grüße aus dem Eisland brachte, wirbelte die emporsteigende Asche umher und trug sie von den beiden Reisenden fort. Erschaudernd wandte er sich ab und versuchte, etwas zu schlafen, doch die scharfen Kanten des Lavafelsens taten ihm zu sehr weh. Also wandte er sich wieder dem Berg zu und beobachtete ihn, während Awnkledan so vollkommen erschöpft schlief, dass nicht einmal sein Atmen mehr zu sehen war.

***

5: Am feurigen Berg

Eðrik erwachte vom wehmütigen Schrei der Möwen, die über die donnernden Wellen des aufgepeitschten Meeres glitten. Er reckte sich müde und gähnte. Seine Knochen schmerzten vom Schlaf auf den rauen Felsen in der kalten, feuchten Luft, und er war unglaublich hungrig. Awnkledan lag hinter ihm, halb aufgerichtet auf den Vorderbeinen, und starrte auf den Berg, der in der Dämmerung dunkelrot glühte. Der flackernde Wiederschein des Feuers, das aus der Spitze des Berges quoll, spiegelte sich auf dem brodelnden Wasser und erhellte den Himmel wie ein zuckender, nie zu Ende gehender Sonnenaufgang.

Eðrik erhob sich mühsam und rieb die Druckstellen auf seinem Körper, während er zu Awnkledans Kopf ging.

„Guten Morgen, geflügelter Bruder.“

Der Drache drehte langsam seinen Kopf und sah ihn aus seinen tiefen, unergründlichen Augen an, die von einem stumpfen Grau waren. „Morgen ist es, Bruder Zweibein, doch über den Rest bin ich mir nicht im Klaren“, sagte er nach einer Weile. Dann wandte er sich wieder dem feurigen Berg zu. Eðrik ließ sich auf den porösen Fels hinab und setzte sich neben den Drachen. Schweigend starrten beide eine Weile in das Feuer, während der Berg Aschewolken ausstieß, die vom immer noch hart wehenden Nordwind von ihnen fort in Richtung Süden geblasen wurden. Schließlich wandte sich Eðrik erschaudernd ab und betrachtete stattdessen den Sonnenaufgang, der in der von Rauch erfüllten Luft seltsam blutig und krank aussah.

„Dies ist kein Platz für Zweibeiner, mein Freund“, sagte er zu Awnkledan, der noch immer bewegungslos den Berg anstarrte. „Meine Kehle ist so trocken wie die Asche aus dem Berg, die überall auf meinem Körper klebt.“

Der Drache zwinkerte und drehte ihm den Kopf zu. „Glaub mir, kleiner Bruder, auch ich habe mich schon besser gefühlt, als ich mit meiner Gefährtin über die Ebenen von Godvyon geglitten bin und im Großen Fluss gebadet habe.“

„Warum verlassen wir dann nicht diesen Ort? Dies ist kein Platz für Sterbliche!“

Wie um ihn zu bestätigen, wankte plötzlich der Boden unter ihren Füßen, so dass Eðrik den Halt verlor und gegen Awnkledans Flanke prallte. Ein gewaltiger Feuerstrahl schoss aus dem Maul des Berges, begleitet von schwärzestem Rauch und kleinen Felsbrocken, die durch die Luft wirbelten und auf Awnkledans Rücken prallten, wo sie knirschend von den harten Schuppen kullerten. Schnell spreizte der Drache einen Flügel, um Eðrik zu schützen, der sich fest an ihn presste.

„Bitte, geflügelter Bruder, lass uns hier verschwinden!“ schrie Eðrik, um den Lärm zu übertönen.

„Das solltet ihr wirklich“, erklang hinter ihnen eine Stimme wie heißes Eisen, das zischend in den Wassertrog getunkt wird.

Beide, Mann und Drache, fuhren überrascht herum. Geschützt durch den Lärm war ein Drache hinter ihnen gelandet, halb im Meer, ein großer graugrüner Körper mit seltsam blassen Flügeln, die er halb ausgebreitet von sich streckte.

Awnkledan senkte den Kopf und sprach den fremden Drachen in der ruhigen, klangvollen Sprache der Drachen an, doch der Fremde antwortete nicht. Wortlos drückte Awnkledan Eðrik mit seinem Flügel noch enger an sich und stupste ihn an der Schulter an. Müde wie er war, hatte Eðrik Schwierigkeiten, den Rücken des Drachen zu erklimmen, doch schließlich hatte er es geschafft, und langsam öffnete Awnkledan seine Schwingen, durch deren dünne Haut das feurige Licht des Berges schimmerte. Dann fing er den Wind ein, und warf sich in die Luft.

War Eðrik der letzte Flug lang und kräftezehrend vorgekommen, so erschien ihm dieser wie eine Reise ins Schattige Land. Awnkledan schwankte und hatte Mühe, die Höhe zu halten, und heftige Böen aus dem Norden ließen ihn kaum vorankommen. Schließlich warf er den Kopf zurück und rief über die Schulter hinweg: „Halt dich fest, Eðrik, leg dich fest auf mich und schließe die Augen! Der Wind treibt uns auf den Berg zu!“

Eðrik hatte kaum Zeit, den Anweisungen des Drachen zu folgen, als der erste Hitzeschwall ihn traf und ihm fast die Sinne raubte. Awnkledan ließ ein kurzes Grollen seiner Kehle entkommen, dann packte sie ein heftiger Windstoß von der Seite, und der Drache stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus, als eine zweite Bö ihn von hinten überraschte und seinen mächtigen Körper herumwirbelte, und dieser Schrei war das letzte, was Eðrik hörte, als er seinen Halt auf dem Rücken des Drachen verlor und hinabstürzte, auf Dalas Arm mit seinen scharfkantigen Felsen zu, umrahmt vom aufgepeitschten Meer.

Sanfte warme Luft streichelte ihn, als er wieder zu sich kam, und er saß halb liegend zwischen zwei mächtigen schwarzen Flügeln. Er richtete sich auf, und der Drache unter ihm stieß ein kurzes Grummeln aus. Links von ihm, etwas höher fliegend, erschien Awnkledan und schaute ihn mit blau funkelnden, besorgt aussehenden Augen an.

„Wie geht es dir, Bruder Zweibein? Er hat dich aufgefangen, ein paar Meter bevor du auf die Erde geprallt wärest. Geht es dir gut?“

„Ihm wird es schon gutgehen“, erklang Kaléms tiefe Bronzestimme unter ihm. „Ein Narr bist du, Grünblau, dass du zum Erdmund geflogen bist, wo der Ausgestoßene lebt. Hast du von ihm etwa Hilfe erwartet?“

Awnkledans Augen bekamen einen violetten Schimmer, und er knurrte leise.

„Lass das Kind“, erklang auf einmal rechts von Eðrik eine Stimme wie gegossenes Gold, und als er verwundert den Kopf wandte, sah er einen ebensolchen Drachen neben sich fliegen, genauso groß wie Kalém und mit zartgoldenen Schwingen, die in der Sonne flirrten. „Du und ich, wir kennen den Wind, uns kann er nicht mehr verletzen. Lass das Kind. Er ist jung und hat fast immer in seiner Höhle gelebt. Und er hatte ein Gewicht auf dem Rücken, wie du jetzt, Kalém, und sag mir nicht, dass du es nicht spürst.“

Darauf war Kalém still, und die drei Drachen glitten weiter etliche hundert Mann über einen ruhigen, blauschimmernden Teppich aus Wasser, auf dem sich vorwitzige Sonnenstrahlen brachen und der nichts von der grauen Wellenwüste zu wissen schien, die sich am feurigen Berg befunden hatte. Albatrosse gesellten sich zu ihnen, um im Windschatten der Drachen etwas auszuruhen. Die Luft wurde immer wärmer und sanfter, denn sie flogen mit unglaublicher Geschwindigkeit; dennoch schien der goldene Drache nicht außer Atem zu sein, sondern blickte oft zu Awnkledan hinüber und verlangsamte dann meist.

Die Sonne neigte sich langsam der Erde, als sie auf einen waldbewachsenen Küstenstreifen zuflogen, und Kalém landete etwas unbeholfen im weichen, weißen Sand des Strandes, wo sich Eðrik sofort von seinem Rücken rollen ließ. Warm war der Sand, fast heiß, durchglüht von den Sonnenstrahlen und reingewaschen vom Meer. Eðrik streckte sich aus und schloss die Augen. Er hörte, wie sich die drei Drachen leise auf ihrer Sprache unterhielten, doch schnell verstummte eine Stimme, und als er den Kopf leicht anhob, sah er Awnkledan tief schlafend auf dem hellen Sand liegen, die Schwanzspitze in der seichten Brandung.

Er rappelte sich auf die Füße und ging zu den anderen beiden hinüber, wobei er sich wohlig in der Sonne reckte. Der Goldene sah ihm entgegen und grunzte freundlich und streckte seine Flügelspitze nach ihm aus, um ihm sanft über den Kopf zu streichen. Kalém sah ihn nicht einmal an, sondern starrte in den Wald, der gleich hinter dem Strand begann.

„Such dir Muscheln, hungriges Zweibein“, sagte der Goldene mit seiner warmen Stimme. „Hier gibt es viele, und du musst essen. Dort hinten habe ich einen Bach gehört, wo du trinken kannst.“

Gehorsam folgte Eðrik den Anweisungen des riesigen Wesens, und nachdem er leidlich von Muscheln, Kräutern und Beeren gesättigt war, ging er hinüber zu Awnkledan und kuschelte sich unter seinen großen Flügel und lauschte den tiefen Atemzügen und dem gleichmäßigen, langsamen Pochen seines Herzens.

***

6: Die Pfade des Himmels

Die Drachen gönnten Eðrik nur eine kurze Rast, denn schon früh am nächsten Morgen weckte Awnkledan ihn sanft und entzündete ein Feuer, damit Eðrik die Fische braten konnte, die sein Drachenfreund ihm gefangen hatte. Doch nach dem Essen drängte Kalém sofort zum Aufbruch.

„Ein schwieriger Weg liegt vor uns“, knurrte er, „und Warten macht ihn nicht einfacher.“

„Ihr kommt mit uns?“, fragte Eðrik erfreut. „Dann muss es ja eigentlich gelingen.“

„Eigentlich“, gab Kalém zurück und schwang sich in die Luft, gefolgt von der Goldenen, die ebenso geschwinde an Höhe gewann wie der Drachenfürst. Eðrik schwang sich rasch auf den Rücken seines grünblauen Freundes, und so führten sie ihren langen und schweren Flug nach Osten fort.

Sie flogen auch nachts, denn zwischen dem Festland und dem Inselreich gibt es keinen Ort zum Rasten. Grün spannte sich der Wasserteppich unter den Reisenden, langsam wogend, von den goldenen Sonnenstrahlen der Abendsonne verziert und geheimnisvoll glitzernd. Der Hunger stahl sich in Eðriks Magen, doch noch war kein Land in Sicht, das auch nur für einen der drei Drachen groß genug zum Rasten gewesen wäre. Er spürte, wie Awnkledan unter ihm von Augenblick zu Augenblick müder wurde. Er hatte schon leicht an Höhe verloren, und die beiden anderen waren höflich genug gewesen, dies zu ignorieren und ihm auf seinem stetigen Weg abwärts zu folgen. Das Auf und Ab seiner Schwingen wurde immer mühsamer, und die schon die sanften Brisen, die jetzt am Abend auffrischten, drohten, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.

„Wie weit ist es bis zu der Insel, von der du gesprochen hast, Goldene?“, schrie Awnkledan schließlich der etwa zwanzig Mann links neben ihm fliegenden Drachin zu.

„Sie sollte bald zu sehen sein“, antwortete sie, „wir sollten sie schon lange sehen können.“

„Seltsame Wege sind es, auf denen der Wind uns in letzter Zeit führt“, knurrte Kalém rechts von ihm. „Erst betrügt er Grünblau und das Zweibein, jetzt spielt er uns einen Streich und drängt uns viel zu weit nach Süden. Ich habe es dir vorhin schon gesagt, Goldene – wir sind zu weit nach Süden geflogen.“

„Aber das ist unmöglich!“, widersprach die Drachin gereizt. „Es weht doch kaum ein Lüftchen!“

Darauf schwieg Kalém und stieg empor, um eine bessere Sicht über das vor ihnen liegende Meer zu erlangen. Awnkledan schnaufte, wobei ihm eine kleine Flamme aus dem Maul schoss. Die Goldene sah besorgt zu ihm hinüber.

„Geh hinunter aufs Wasser, Grünblau!“ rief da Kalém, während er seine Flügel anlegte. „Ich werde deinen Reiter übernehmen.“ Damit war er auch schon an ihnen vorbei gefallen, spreizte die Flügel erst wenige Mann über der Wasseroberfläche und ließ sich auf die ruhige See hinab.

Awnkledan folgte ihm, jedoch langsamer aus Rücksicht auf Eðrik, dessen Magen ihm dennoch in den Hals zu rutschen schien. Auf den sanften Wogen angekommen, legten die beiden Drachen ihre Flügel eng an die Körper und schwammen dicht zusammen, so dass Eðrik nahezu trocken auf Kaléms breiten, schwarzen Rücken klettern konnte. Dann öffnete der Fürst der Drachen kraftvoll seine Flügel, fing die warme Luft darunter ein und schwang sich empor. Awnkledans Start sah mühsamer aus, und er fand nur schwer die Höhe, die Kalém ihm vorgab.

„Niedrig fliegen hilft nicht, Grünblau!“ sagte Kalém, wobei seine Donnerstimme ungewohnt sanft klang. „Oben fliegt es sich leichter, glaub mir.“

„Ich bin müde“, knurrte Awnkledan, dann wandte er den Kopf nach vorne und sprach nicht mehr.

„Steig ein wenig“, bat Eðrik leise, und mit einem leisen Grollen tat Kalém, worum er gebeten hatte.

„Was gibt es?“, raunte der Drachenfürst.

„Ich wollte nicht, dass er es hört, aber vielleicht sollten wir den Plan aufgeben, auf die Ostinseln zu reisen.“

„Warum?“

„Warum?“, rief Eðrik aus. „Du siehst ihn doch, Kalém! Er kann nicht mehr! Die kurzen Rastzeiten, die er auf den Klippen und Schären findet, reichen ihm nicht.“

„Sag mir nicht, was mein Volk braucht!“, knurrte Kalém. „Aber wir sind jetzt schon beinahe die Hälfte der Strecke geflogen; Umkehren ist zwecklos.“

„Kalém, wenn seine Liebste so alt ist wie er und alleine nach Osten geflogen ist … Sie wird den weiten Weg kaum geschafft haben, oder?“

„Sobald wir eine Insel finden, die etwas Futter und Wasser für dich bietet, werden wir dort einige Tage rasten“, wich der Drache der Antwort aus.

Betrübt senkte Eðrik den Kopf. „Armer geflügelter Bruder.“

„Es ginge ihm besser, wenn er nur seinen eigenen Körper in der Luft halten müsste, vergiss das nicht! Seine Liebste hatte nur sich selbst zu tragen, und wenn sie mehr Glück hatte als wir, war der Wind freundlicher.“

„Also muss er wegen mir leiden“, seufzte Eðrik. „Kalém, das ist nicht gerecht! Ohne mich würdet ihr einfach auf einem Felsen ruhen, aber weil ich essen muss, geht das nicht, und mein Gewicht zehrt seine letzten Kräfte auf.“

„So ist es nun einmal, Zweibein. Er hat darauf bestanden, dich mitzunehmen. Ein törichter Gedanke, den ich nicht gebilligt habe, und nun sehen wir ja, was er und auch Goldene und ich davon haben.“

„Überflüssige Last“, sagte Eðrik leise.

Der Drache schielte aus seinen schwarzen Augen nach hinten. „Mach dir nichts draus, Zweibein“, grollte er schließlich freundlich, „ich habe schon Drachen getroffen, mit denen ich es schlechter ausgehalten habe als mit dir. Denk nur an den Ausgestoßenen vom Irdena.“

Damit sank er sanft hinab auf eine Höhe mit den beiden anderen Drachen. Die Goldene sah ihn kurz an, doch keiner sagte etwas. Nur Awnkledan keuchte bei jedem Atemzug. Das stetige Auf und Nieder von Kaléms mächtigen Schwingen war einschläfernd, und die Sonne versank langsam hinter dem Horizont.

Kaléms Donnergrollen ließ Eðrik hochschrecken. „Da vorne sind zwei Klippen!“

„Da haben wir nie im Leben Platz drauf“, schnaufte Awnkledan.

„Du und die Goldene, ihr rastet auf den Klippen. Ich fliege mit dem Zweibein voraus und warte auf der nächstgrößten Insel auf euch.“

„Wir könnten uns verfehlen“, warf die Goldene ein. „Wenn der Wind uns weiterhin betrügt…“

„Soll er doch, wenn er denn so will! Falls er es tut, treffen wir uns in meiner alten Höhle auf Aylinn.“ Damit ließ er seine Schwingen scharf in die Luft schneiden und überholte die beiden anderen Drachen.

„Auf bald, mein lieber Bruder Drache!“, rief Eðrik über seine Schulter hinweg.

Awnkledan stieß nur ein Krächzen aus, zu erschöpft, um zu reden, und ließ sich taumelnd auf eine der Klippen hinabsinken.

„Mir gefällt das nicht“, keuchte er, als die Goldene auf die andere Klippe hinabstieß. „Wir gehören zusammen, und Kalém …“

„Er wird ihm schon nichts tun“, sagte die Goldene ruhig. „Jetzt schlaf. Morgen fangen wir uns ein paar Fische.“

***

7: Der Drachenkönig

So kam es, dass Eðrik seinen Weg gen Osten alleine mit Kalém fortsetzte, getrennt von seinem Freund Awnkledan. Ihm war gar nicht wohl dabei, den geschwächten Drachen auf dem einsamen Felsen mitten im Meer zurückzulassen, und noch unwohler war ihm bei dem Gedanken, eine womöglich sehr lange Zeit mit dem Fürsten der Drachen zu verbringen, denn Kaléms Erscheinung und Auftreten flößte ihm mehr als nur Respekt ein. Zunächst jedoch klammerte er sich an den rauen Schuppen des Drachen fest, der mit hoher Geschwindigkeit gegen den widrigen Wind kreuzte, stetig, schweigend und zunehmend grimmiger.

Als die Sonne schon unter den Horizont gesunken war und die ersten Sterne am Himmel zu funkeln begannen, erspähte Eðrik im weichenden Licht am Horizont einen dunklen Schatten.

„Eine Insel!“, rief er aus und zeigte nach vorne.

Der Drache unter ihm grollte leise. „Natürlich ist da eine Insel, glaubst du, ich habe Lust, noch eine Nacht durchzufliegen? Wir rasten dort.“ Damit schwieg er wieder, und Eðrik konnte nur mit Staunen verfolgen, wie der dunkle Schatten mit unglaublicher Geschwindigkeit Formen annahm, Farben bekam und schließlich direkt vor ihnen lag, so dass Kalém in einen steilen Sinkflug überging und auf einem Hügel in der Mitte der Insel landete, der aus einem Wäldchen hervorragte. Eðrik sprang von seinem Rücken, und sogleich machte der Drache einen Buckel, spreizte seine Klauen, reckte und streckte sich und gähnte schließlich, worauf Eðrik beim Anblick der riesigen scharfen Zähne ziemlich mulmig wurde. Schließlich aber faltete Kalém seine Flügel zusammen, legte sie eng an seinem Körper und kugelte sich zu einem überraschend kleinen Knäuel aus tiefschwarzen Schuppen zusammen.

„Du solltest schlafen, Zweibein“, grollte er und schloss damit die Augen.

So lehnte sich Eðrik unglücklich gegen einen Baum und wickelte sich eng in seinen Umhang und vermisste Awnkledans freundliches Augenfunkeln sehr.

Der Morgen war schon weit vorangeschritten, als er erwachte, und Kalém war nicht zu sehen. So machte sich Eðrik daran, etwas Essbares zu suchen und fand es in Form von Beeren, Seetang und Muscheln. Während er noch am Meer entlangspazierte, das während seines Schlafes recht nah an das Wäldchen mit dem Hügel herangekommen war, und Muscheln suchte, kam Kalém zurück, landete dicht neben ihm und grummelte.

„Was ist los?“, fragte Eðrik.

„Nichts zu sehen. Sie müssten schon hier sein.“

„Die Goldene und Awnkledan?“

„Nein, die Meereselfen und Wassermädchen!“, grollte der Drache ärgerlich. „Goldene sollte eigentlich zu schlau sein, um sich vom Wind dermaßen an der Schnauze herumführen zu lassen.“

„Denkst du, es ist ihnen etwas zugestoßen?“, erkundigte sich Eðrik besorgt.

„Kaum. Sie werden irgendwo im Süden sein.“

„Und was tun wir nun?“

Kalém schaute Eðrik zum ersten Mal direkt an. „Weiterfliegen natürlich. Sie zu suchen hat keinen Zweck, sie können überall zwischen den Inseln nördlich von uns und den Lagunen des Südlandes sein, das dein Volk noch nicht kennt.“ Als er sah, dass die Aussicht auf einen längeren Flug Eðrik nicht zu begeistern schien, wurden seine Augen sanfter. „Keine Sorge, Zweibein. Ich werde dich nicht heimlich ins Meer kippen.“

„Das beruhigt mich, wenn auch nicht viel.“

„Dann hilft dir vielleicht, dass wir den Weg nicht alleine fliegen müssen. Auf meinem Erkundungsflug habe ich meinen Vater getroffen, der uns begleiten wird. Sobald wir sicher auf Aylinn angekommen sind, wird er deinen Freund und Goldene suchen. Wenn er hierher kommt, brechen wir sofort auf, du solltest also deine Sachen zusammensuchen.“

Von dieser Aussicht keineswegs beruhigt, erklomm Eðrik den Hügel, um seine Wasserflasche und seinen Umhang zu holen, den er wegen der warmen Sonne zurückgelassen hatte. Kaum hatte er die Flasche mit frischem Wasser aus einer Quelle gefüllt, als sich ein großer Schatten vor die Sonne schob und nahe bei der Insel ins Wasser glitt, wobei beachtliche Wellen an das Ufer der kleinen Insel klatschten.

„Komm, Zweibein!“ hörte er Kalém rufen. „Wir brechen auf!“

Gegen den riesigen schwarzen Körper, der wie eine zweite Insel in der Brandung lag, sah Kalém überraschend klein und zierlich aus. Es schien, als sei sein gesamter schon sehr großer Körper nur ein Fünftel des gigantischen Wesens, doch wenigstens in ihrer schwarz glitzernden Färbung glichen sich die beiden. Scheu erklomm Eðrik den Rücken Kaléms, der ein paar Worte auf der Drachensprache mit seinem Vater wechselte. Hatte Eðrik Kaléms Stimme mit einer großen Glocke verglichen, so klang die Stimme des uralten Drachen wie ein dröhnender Herzschlag der Erde selbst, und obwohl er leise sprach, vibrierte doch die Insel ein wenig bei jeder Silbe. Dann schließlich breitete er seine unglaublichen Flügel aus und durchschnitt die Luft mit ihnen, wobei Fontänen von Wasser aufspritzen, bis er genug Widerstand fand und sich in die Luft schwang.

Kalém folgte ihm, wobei er jedoch Eðrik noch zuraunte: „Benimm dich gut, Zweibein. Ihn zu verärgern, wäre nicht ratsam.“

„Auf den Gedanken wäre ich von alleine nicht gekommen.“

„Ich meine es ernst. Mit mir kannst du noch spaßen, doch versuche nicht das gleiche beim Drachenkönig. Seine Gestalt mag zwar der meinen gleichen, doch das ist nur äußerlich, denn in Wahrheit ist er der Bruder Dalas.“

Hierauf beugte sich Eðrik geschockt über den Hals des Drachen und versuchte, einen Blick in Kaléms Augen zu erhaschen.

„Ganz recht, Zweibein. Dieser Drache dort ist niemand anders als Kishéal selbst, der Schöpfer meiner Art und einer der mächtigsten unter den Visha.“

„Dann werde ich deinen Rat nach bestem Können befolgen“, murmelte Eðrik verstört.

Kalém schnaubte belustigt aus. „Mach dir keine Sorgen, Zweibein. Ich wollte dir keine Angst einjagen. Der König ist so gutmütig wie nur irgendeiner von uns, und geduldiger als die meisten ebenfalls. Eher musst du dich vor mir hüten, denn ich werde dir keine Respektlosigkeit ihm gegenüber nachsehen.“

„Wenig weißt du über die Menschen, wenn du glaubst, dass wir ein so mächtiges Wesen respektlos behandeln würden, es sei denn, dass wir es nicht besser wüssten.“

Hierauf lachte Kalém laut auf und beschleunigte seinen Flug, um mit dem ruhig dahinfliegenden Drachenkönig mitzuhalten.

***

8: Aylinn

Also setzte Eðrik seine Reise gen Osten mit niemand anderem als dem Drachenfürsten Kalém und seinem Vater Kishéal, dem König und Erschaffer aller Drachen, fort. Hatte er auf Awnkledans Rücken schon über die Geschwindigkeit des Fluges gestaunt, so war das doch nichts gegen diese beiden mächtigen Drachen, deren Flügel die Luft so kraftvoll zerteilten, als sei sie nicht vorhanden. Unter sich sah er Felsen und kleine Inseln vorbeiziehen. Wale und kleine Schwärme von Delphinen schwammen unter ihnen, konnten aber mit der Geschwindigkeit der Drachen nicht mithalten. So hoch wie nun war Eðrik noch nie geflogen, denn Awnkledan hatte diese Höhe nie erreicht.

Eðrik fror zwar, doch er bemerkte die Kälte des Windes kaum, so sehr zog in der Anblick des gigantischen schwarzen Drachenkönigs in den Bann. Und nach einer Weile, die sie schweigend im berauschenden Flug verbrachten, flog Kishéal näher zu Eðrik, so dass sein riesiger Kopf auf gleicher Höhe mit Kalém war, und schaute ihn aus seinem linken Auge an, wobei sich Eðrik erschreckend klein vorkam.

„Keine Angst vor der Höhe, Blondhaar Eðrik aus dem westlichen Yador?“, donnerte der Schöpfer der Drachen, und Eðrik fühlte die Macht, die plötzlich in seinem eigenen Namen lag.

„Nein, großer König“, antwortete er wahrheitsgemäß und ohne Scheu, „ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen wie das Meer von hier oben!“

Der Drachenkönig lachte, dass es Eðrik schien, als erbebte die Luft. „Nun, Drachenfreund, dann freu dich auf den Anblick von Aylinn, der großen Insel des Ostens, denn sie ist wirklich ein prachtvoller Anblick. Sag, Kalém, wer sind die beiden Kinder, die du dort treffen willst?“

„Die Goldene vom Leeren Land und Grünblau aus Westyador“, antwortete Eðriks Träger mit seiner zischenden Grollstimme.

„Also lebt die Goldene noch?“, erwiderte der Drachenkönig überrascht. „Ich habe lange nichts von ihr gehört.“ Damit stieg er rasch weit über Kalém hinauf, bis er durch die Wolken stieß.

Eðrik klammerte sich an Kalém fest und starrte auf die Wasserfläche unter ihnen, über die Sturmvögel hinwegschossen, doch ihr Flug wirkte langsam, schwerfällig und flach, wenn man sie aus der Höhe eines Drachenrückens betrachtete.

Schließlich sah Eðrik am Horizont einen dunklen Streifen, der sich schnell zu grünen Flecken zwischen Bergzügen auswuchs.

„Aylinn“, grollte Kalém unter ihm und wandte seinen Kopf, um Eðrik aus dem Augenwinkel anzuschielen. „Wenn alles gutgeht, treffen wir dort die anderen beiden, auch wenn sie wohl noch einige Tage brauchen werden, bis sie hier ankommen.“

„Und wenn sie sich verfliegen?“,

„Jeder Drache kennt Aylinn!“, donnerte Kishéal von weit über den Wolken herab. „Es liegt ihnen im Blut. Aber ich werde nach ihnen Ausschau halten. Kalém, du bringst das Kind auf die Erde, und dann zeig ihm, wo er etwas zu essen findet.“

Kalém gehorchte, und eine Weile später saß Eðrik vor einem Feuer im Eingang einer großen Höhle und röstete sich an einem Spieß ein Kaninchen. Er war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, denn auf dem Rücken der Drachen war er sich doch immer recht ausgeliefert vorgekommen, doch gleichzeitig vermisste er das Gefühl des Fluges, die Aussicht und die Freiheit, die der Wind ihm bot.

Kalém war gleich wieder abgeflogen, nachdem er Eðrik versorgt hatte, und darüber war Eðrik nicht unglücklich, denn wenn er auch Awnkledans Gesellschaft genoss, so war ihm der Fürst der Drachen doch unheimlich.

Nachdem er gegessen hatte, erkundete er ein wenig die Umgebung, doch außer weiten Wiesen und Waldstrichen und Geröllfeldern und Bergen war nichts zu sehen. Es war eine herrliche Landschaft, aber auch sehr einsam, denn nichts deutete auf Menschensiedlungen hin. Doch Eðrik fühlte sich nicht einsam. Er kletterte auf einen hohen Hügel und schaute hinab auf das Land, und dann erklomm er eine steile Felswand, die sich hoch über der Höhle befand, und schaute hinab auf einen breiten Fluss, der sich durch das Land schlängelte, und es war ihm fast, als flöge er so über das Land, jedoch nicht getragen von Drachen, sondern von seinen eigenen Armen. So stand er lange auf dem Felsplateau, ließ sich den scharfen Seewind durchs Haar gleiten und starrte hinab auf das unberührte Land. Und er verstand, warum Kalém einst diesen Ort als seine Heimat erwählt hatte.

Die Sonne neigte sich dem Horizont zu, als sie von einem Schatten verdunkelt wurde. Kishéal kehrte zurück. Der Drachenkönig strich vorsichtig über die Bäume und Berge hinweg auf der Suche nach einem Landeplatz, der genug Raum für seinen riesigen Körper bot. Er fand ihn schließlich auf einer weiten Wiese und senkte sich hinab, wobei er allerdings mit der Schwanzspitze einen kleinen Wald am Ende der Wiese beschädigte. Dann faltete er seine Flügel zusammen und schaute hoch zu Eðrik, der noch immer auf dem Felsplateau stand.

„Komm herunter, Zweibeinchen“, donnerte er freundlich hoch, „es wird rasch dunkel, und dann werden die Felsen gefährlich.“

Eðrik gehorchte, schlitterte die Felswand hinunter und kletterte schließlich von Kaléms Höhle hinab zur Wiese, wo Kishéal geduldig auf ihn wartete.

„Habt Ihr sie gefunden, großer König?“, rief er dem riesigen schwarzen Schatten zu.

„Nein“, sagte Kishéal, und wie immer schien der Boden beim Klang seiner Stimme leicht zu beben, „aber Kalém sucht im Süden nach ihnen und wird sie finden. Ich habe aber ihre Spuren gerochen und weiß, dass es ihnen gut geht. Dein Freund ist erschöpft, aber nicht zu schwach, um hierher zu gelangen. Sorge dich nicht, Menschenkind. Morgen früh wirst du ihn wiedersehen, das verspreche ich dir.“

Erleichtert lächelte Eðrik. „Das ist gut zu wissen.“

„Das ist es in der Tat. Hier, ich habe etwas für dich.“ Der Drachenkönig streckte seine riesige Klaue aus, und Eðrik sah, dass auf einer Krallenspitze ein beinlanger Fisch aufgespießt war. „Nimm es schon. Das ist dein Abendessen.“

Eðrik streckte zögernd die Arme aus und wuchtete den Fisch von der Kralle des Drachen. „Ich danke Euch, großer König.“

Kishéal grummelte, und seine Augen blitzten grün. „Und jetzt geh zur Höhle und iss, und dann leg dich schlafen. Ich warte hier. Mir bleibt ja auch kaum etwas anderes übrig“, fügte er mit einem gelben Glitzern in seinen riesigen Augen hinzu, „denn in diese Höhle passe ich schon seit Jahrtausenden nicht mehr.“

Und nachdem Eðrik einen Teil des Fischs über seinem Feuer gegrillt und verspeist hatte, wickelte er sich in seinen Umhang und legte sich auf den Boden der Höhle, um zu schlafen.

Die Sonne weckte ihn am nächsten Morgen, als sie über sein Gesicht glitt und die kalte Asche des Feuers streichelte. Eðrik setzte sich auf und gähnte, und als er sich umschaute, sah er am südwestlichen Horizont drei Schatten, die rasch näher kamen: ein riesiger schwarzer, ein nicht minder großes goldenes Funkeln und in der Mitte ein sattes grünblaues Leuchten, das die Farbe des Meeres wiederzuspiegeln schien.

Eilig erklomm Eðrik die steile Felswand und stellte sich auf das Plateau und winkte, und der grünblaue Fleck löste sich von den anderen beiden und flog auf ihn zu, so rasch er konnte, und landete schließlich müde schnaufend neben Eðrik.

Der schlang seine Arme um den großen Kopf seines Freundes und drückte sein Gesicht gegen die geschuppte Wange. „Ich hatte mir solche Sorgen gemacht!“, flüsterte er, den Tränen nah.

„Ich mir auch“, antwortete Awnkledan leise, „aber jetzt ist ja alles gut.“

„Ja, jetzt ist alles gut“, antwortete Eðrik lächelnd.

„Dann steig auf! Ich trage dich runter zu den anderen.“

Und Eðrik stieg endlich wieder auf den vertrauten Rücken seines Freundes, der vorsichtig von dem Felsen glitt und auf ausgestreckten, ruhig gehaltenen Schwingen in der Morgenluft zur Wiese hinabsegelte, wo Kalém und die Goldene sich mit dem Drachenkönig unterhielten. Kishéal jedoch, so sah Eðrik genau, schaute nicht auf seinen Sohn, sondern auf ihn und Awnkledan, wie sie langsam herangeschwebt kamen, und es schien Eðrik, als ob der gigantische Drache lächelte, auf Drachenart: mit dem Funkeln seiner Augen.

So wurden Awnkledan und Eðrik wieder vereint, und dabei hatten sie noch beide zwar erschöpft, aber unbeschadet die größte der nördlichen Ostinseln erreicht. Von hier aus, so erklärte Awnkledan, würde es ein Leichtes sein, die weiteren Inseln zu erkunden, denn sie lagen aus Drachensicht nur Katzensprünge voneinander entfernt.

„Aber zunächst“, so meinte Awnkledan am Abend seiner Ankunft, als Eðrik sich zwischen seinen Vorderklauen zusammengerollt hatte und in das friedlich brennende Feuer schaute, das sein Drachenfreund für ihn entzündet hatte, „zunächst suchen wir nach meiner Liebsten.“

„Das steht außer Frage, geflügelter Bruder, und ich kann es verstehen, wenn du sie alleine suchen willst.“

„Oh nein, Bruder Zweibein, so leicht entschlüpfst du mir nicht noch einmal!“, schnaufte der Drache, und seine Augen glitzerten blaugrün.

Eðrik lachte schläfrig. „Nun gut, dann nimm mich mit.“

„Das werde ich. Aber erst morgen. Jetzt schlaf erst einmal.“ Damit drehte er seinen Körper und spannte seinen Flügel über Eðrik, um ihn vor der Kälte der Nacht und dem Tau zu schützen. Und Eðrik kuschelte sich an seinen großen Freund und schlief zum ersten Mal, seit sie am feurigen Berg Irdena gewesen waren, ruhig und tief.

***

9: Die Suche beginnt

Am nächsten Morgen verabschiedete sich Kishéal von den Drachen und von Eðrik, und als er sich im Licht der aufgehenden Sonne von der weiten Wiese erhob und gen Osten davonflog, verdunkelte sein riesiger Körper für eine kleine Weile den anbrechenden Tag, so dass die Vögel, die gerade ihren Morgengesang begonnen hatten, verwirrt wieder schwiegen.

Eðrik und die Drachen frühstückten von dem Wild, das Kalém in den Waldgebieten der Insel erlegt hatte, und danach schaute der Mann seine geflügelten Freunde an und sagte: „Ich bin bereit.“

„Gut“, gab Awnkledan zurück und reckte sich ausgiebig in der Wärme der Sonne, „ich auch, es kann losgehen.“

„Dann wünschen wir euch viel Erfolg“, erklang die sanfte Stimme der Goldenen, „und einen guten Flug.“

„Werdet ihr denn nicht mit uns kommen?“, fragte Eðrik.

„Nein“, antwortete die Goldene, „Kalém und mir liegt nichts daran, nach Grünblaus Liebster zu suchen. Wir warten hier auf Kaléms Bruder, und dann werden wir zurück nach Westen fliegen.“

„Viel Glück bei der Suche, Grünblau“, grummelte Kalém, aber seine grünen Augen blitzten freundlich auf.

„Nun gut, dann werden ich und mein Bruder Zweibein eben alleine die Inseln durchsuchen“, erklärte Awnkledan mit mutig blitzenden stahlblauen Augen, doch Eðrik konnte sehen, dass seinem Freund nicht ganz so zumute war. Dennoch verabschiedete sich das ungleiche Paar herzlich von den beiden großen Drachen und nahm von ihnen einige gute Ratschläge entgegen als Abschiedsgeschenk. Dann erklomm Eðrik Awnkledans Rücken, und der grünblaue Drache warf sich in den Wind und stieg empor in den Himmel, den Kurs gesetzt auf Südost.

Eðrik hatte sich inzwischen an den Flug hoch über der Erde gewöhnt und schaute nach unten, bis Kalém und die Goldene nur noch verschwommene Flecken auf dem Grün der großen Insel Aylinn waren, und schließlich ließen sie auch Aylinn hinter sich. Da ließ er seinen Blick wandern über die zahllosen kleinen Inseln und Inselchen und Klippen, die vor ihnen lagen, denn gleich nach Aylinn beginnt das Inselreich Shridanor.

„Auf irgendeiner dieser Inseln muss sie sein“, rief Awnkledan über seine Schulter hinweg, „das hoffe ich wenigstens. Denn wenn sie hier nicht ist, dann ist sie im südlichen Inselreich, und dort kenne ich mich nicht gut aus – die Sterne sind fremd und unfreundlich dort.“

„Aber vielleicht finden wir sie ja“, rief Eðrik zurück, um seinen Freund zu beruhigen.

Awnkledan, der übermütig zunächst hoch in die Lüfte gestiegen war, ließ sich nun herabsinken, um einen besseren Blick auf die Landflecken inmitten des Meeres werfen zu können. „Sie ist etwa so groß wie ich“, sagte er Eðrik, „und von dunkelblauer Färbung, aber an den Rändern ihrer Schuppen ist Silber.“

„Sie muss sehr schön aussehen“, befand Eðrik, und in Awnkledans Auge, das zu ihm nach hinten schielte, sah er Freude über dieses Lob.

„Das tut sie“, antwortete der Drache. „Halt Ausschau nach ihr!“

„Das werde ich“, gab Eðrik zurück, „aber bedenke, dass selbst die Falken auf eure Augen neidisch sind, und die sehen vieles, was unseren kleinen Menschenäuglein entgeht.“

Awnkledan lachte, dass sich Eðrik erschrocken an seinen Flügeln festkrallte. „Du wirst schon noch sehen, dass deine Augen so schlecht nicht sind.“

Sie flogen langsam und niedrig über die unbewohnten Inseln hinweg. Wenn Awnkledan Weiden oder Häuser oder Schiffe sah, stieg er rasch höher, um die Menschen nicht zu erschrecken; danach jedoch sank er immer wieder herab, um besser sehen zu können. Der Wind blies noch immer von Norden, doch nun war er eine Hilfe, denn Awnkledan glitt auf ihm friedlich dahin und musste kaum mit den Flügeln schlagen.

Es war ein Rätsel für Eðrik, wie sie auf diesen unzähligen Stückchen Land im blauen Meer einen einzelnen, nicht einmal großen blauen Drachen ausmachen sollten. Und so verlief ihre Suche an diesem ersten Tag auch erfolglos, und als die Sonne rot im Westen im Meer versank, glitt Awnkledan über eine einigermaßen große Insel, auf der er einen kleinen Bach erspäht hatte, landete und ließ Eðrik absteigen.

„Das Glück scheint es diesmal nicht gut mit uns zu meinen“, seufzte Eðrik und reckte seine vom langen Sitzen und Festhalten steifen Glieder.

„Noch nicht“, antwortete Awnkledan.

Dann aß Eðrik den Rest von dem Wild, das er am Morgen in die Tasche gesteckt hatte, während Awnkledan sich zusammenrollte und einschlief. Eðrik aber hatte den ganzen Tag still auf dem Rücken seines Freundes gesessen und war noch nicht müde, und so begann er, die kleine Insel zu erkunden, nachdem er sich in dem kleinen Bach gewaschen hatte.

Die Insel thronte auf steilen Klippen über dem Meer, und nur an der Südseite glitt sie sanft hinunter zu einem schmalen Sandstreifen, an dem Eðrik ein paar Krebse fing, um sie am nächsten Morgen zu essen. Dann jedoch verließ er den Strand wieder, denn die Flut kam herein und fraß mehr und mehr Land.

In der Mitte der Insel befand sich ein kleines Waldstück, umgeben von weiten Wiesen und Geröllfeldern. Eðrik beschloss, das Wäldchen etwas näher zu untersuchen, da er hoffte, darin ein paar Beeren oder Früchte zu finden, um sein Krebsfrühstück abwechslungsreicher zu machen. So drückte er sich im Mondlicht durch die ersten Zweige des Waldes und schlich so leise, wie es nur ging, einen Wildpfad hinein ins Dickicht.

Er war erst ein kleines Stück gegangen, als vor ihm auf einmal das Unterholz knackte, und ehe er wusste, wie ihm geschah, stand auf einmal ein Tegwin vor ihm und funkelte ihn unter seinen grauen Zottelhaaren her unfreundlich an.

„Wind auf deinem Weg“, grüßte Eðrik, denn er war so verdattert von der plötzlichen Begegnung, dass er versehentlich den Gruß der Drachen benutzte statt einen der Menschenvölker.

Der Tegwin antwortete nicht, sondern musterte ihn einen Augenblick. „Gib mich dis da!“, befahl er dann und deutete auf die Krebse, die Eðrik auf einer Schnur aufgezogen über der Schulter trug.

Eðrik schüttelte den Kopf und antwortete: „Das ist mein Frühstück für morgen. Geh doch an den Strand und hol dir selbst welche.“

„Gib mich dis da!“, wiederholte der Tegwin mit listigem Blick. „Ich hab Knüppel!“. Damit zog er hinter seinem Rücken einen dicken Ast hervor.

„Ich hab ein Messer“, antwortete Eðrik, nun langsam gereizt.

„Und ich hab Frau mit Knüppel hinter dich!“

Eðrik schielte über die Schulter und sah einen zweiten Tegwin nur wenige Schritte hinter sich stehen. „Und ich hab einen Freund, der auf mich wartet“, gab er dann zurück, „und wenn ich nicht gleich da bin, kommt er her, dann habt ihr es mit zweien zu tun.“

Der erste Tegwin schaute für einen Moment verunsichert zum zweiten und gab dann zurück: „Jetz is aber nieman hier außer du. Gib mich dis, sofort! Ich hab Kinder in Höhle, die sin schon groß!“

„Und ich hab einen zwanzig Mann langen Drachen auf der Wiese mit dem Bach“, sagte Eðrik, dem das Spiel langsam zu bunt wurde.

Der Tegwin kicherte spöttisch.

„Ich meine es ernst,“ drohte Eðrik. „Wenn ihr mir die Krebse nehmt, holen wir sie zurück.“

„Laufen wir weg“, erklärte der Tegwin überlegen.

„Wohin denn? Das hier ist eine Insel. Oder wollt ihr wegschwimmen, weg von eurer Höhle?“

„Wette, da is kein Drache nich auf der Bachwiese, also gib uns dis“, sagte die Tegwinfrau hinter ihm und lachte.

„Wette, sie hat Recht“, sagte ihr Mann vor Eðrik und lachte ebenfalls.

„Das hat sie, ich bin nämlich hinter euch“, erklang da Awnkledans tiefe Stimme hinter dem Dickicht neben ihnen, und als Eðrik den Kopf drehte, sah er das Gesicht seines großen Freundes durch die Dornen blinzeln. Und als er sich wieder den Tegwins zuwandte, waren sie verschwunden.

„Komm, Bruder Zweibein“, sagte Awnkledan, „du solltest es besser wissen, als dich mit solchem Gesindel herumzutreiben.“ Dann lachte er donnernd, und er und Eðrik gingen zurück zur Wiese, wo Awnkledan seinem Freund ein Feuer entzündete, und dort verbrachten sie die Nacht. Am nächsten Morgen aß Eðrik seine Krebse, und dann verließen die beiden Freunde die Insel mit den ungastlichen Einwohnern, um weiter nach der blausilbernen Drachin zu suchen.

***

10: Awnkledans Geschichte

Die nächsten Tage verbrachten Awnkledan und sein Reiter damit, hoch über das Meer und die Inseln Shridanors dahinzugleiten und nach Awnkledans Gefährtin Ausschau zu halten. Nachts landete der grünblaue Drache auf kleinen Inseln, obwohl er selbst schon wieder kräftig genug war, tagelang ohne Pause zu fliegen.

„Aber, Bruder Zweibein“, sagte er zwinkernd zu Eðrik, „ich glaube, dass du schon deine Glieder ab und zu strecken willst, und auch Futter und Wasser willst du bestimmt ab und zu haben, oder?“

Ansonsten sprachen sie nicht viel miteinander. Während des Flugs waren beide zu sehr mit Suchen beschäftigt, und nachts war Eðrik zu müde, um sich mit seinem Freund zu unterhalten. Doch nach und nach bedrückte ihn das Schweigen, und so sprach er den Drachen eines Mittags an, als sie wieder einmal tief über bewaldete, unbewohnte Inseln daherglitten.

„Hör mal, geflügelter Bruder“, sagte Eðrik, „wir haben jetzt bald das gesamte nördliche Inselreich durchkämmt, doch ich habe nicht einmal die Schuppe irgendeines Drachen gesehen, geschweige denn deine blausilberne Freundin. Warum habt ihr keinen Treffpunkt vereinbart? Sind Drachen etwa weniger weise als mein Volk?“

Awnkledan schnaufte, doch als er seinen Kopf nach hinten drehte und Eðrik aus einem Auge anschielte, funkelten seine Augen blitzblau auf, und ein Lächeln lag in ihnen. Aber es war ein trauriges Lächeln. „Weise sind wir, Bruder Zweibein“, antwortete er, „doch bin ich weniger weise, als es gut für mich wäre, fürchte ich. Denn vor einiger Zeit stritt ich mich furchtbar mit der Silberblauen, und als sie wütend davonflog, rief sie mir noch zu, dass sie mich im Inselreich erwarten würde, wenn ich sie eines Tages wiedersehen wollte. Doch wo, das hat sie nicht gesagt.“

„Worum ging denn euer Streit?“, fragte Eðrik mitleidig.

„Um dies und das“, seufzte Awnkledan, „wie man sich eben streitet.“

„Erzähl mir von ihr“, bat sein Reiter. „Wie habt ihr euch kennengelernt?“

Der Drache blickte wieder nach vorne und schwieg eine Weile. Dann begann er zu erzählen: „Ich kenne sie schon, seit ich ein kleiner Schlupfdrache weit im Süden war, wo das Wasser vor der Sonne flieht und die Sterne klarer funkeln als Diamanten. Wir sind nahezu gleich alt, würdet ihr Menschenkinder wohl sagen, und wie es bei jungen Drachen so üblich ist, taten wir uns mit einigen anderen Jungdrachen zusammen, um besseren Schutz vor bösen Wesen zu erlangen, die uns verletzen können.“

„Aber kann denn überhaupt ein Wesen einen Drachen verletzen?“, fragte Eðrik.

„Natürlich! Ich habe doch selbst den Drachen in Anoramila bekämpft! Und der Ausgestoßene am Feuerberg hat uns in die Flammen getrieben und uns beinahe getötet. Auch Drachen kämpfen, jedoch weniger als Menschen. Doch auch unsere Tanten und Onkel, die Visha, die Geistwesen und Hüter der Erde, können uns verletzen und töten, und einige von ihnen hassen unsere Art und jagen uns. Deswegen waren wir zu sechst dort unten in den Feuerländern unserer Jugend, doch Silberblau und ich waren schon damals die meiste Zeit zusammen, und wenn die anderen vier schliefen, lagen wir noch wach unter den Sternen im Sand vergraben und erzählten uns unsere Gedanken. Ich sang ihr auch oft Lieder. Sie mochte meine Lieder sehr gerne, obwohl ich nicht der geschickteste Dichter bin.

So verbrachten wir einige Zeit – lange Zeit für euch Menschen, denke ich; jedenfalls wuchsen wir langsam zu ausgewachsenen Drachen heran, und damit war für uns die Zeit gekommen, unsere kleine Herde aufzulösen und die Welt jenseits der Sandmeere zu erkunden. Krummflügel verließ uns als erster, und Grünschupp folgte ihm bald; sie flogen gen Süden, in die Tiefen der Welt jenseits der Sande, die noch kein Menschenvolk betreten hat. Weißrücken wandte sich gen Osten und Große nach Westen. Doch Silberblau und ich beschlossen, zusammen durch die Welt zu ziehen und flogen nach Norden, über das große Gebirge und die weiten Ebenen und Wälder bis hin nach Yador, und dort ließen wir uns in den Bergen von Ranell wieder, in eben der Höhle, in der du mich getroffen hast.“

„Dann ist es Zufall, dass wir uns nicht früher begegnet sind“, unterbrach Eðrik, „denn dort oben habe ich schon öfter Schafe gehütet.“

Die Augen des Drachen funkelten grün. „Das mag schon sein, Bruder Zweibein, doch warst du noch ein Kind, als wir uns trafen, und da war meine Gefährtin schon eine Weile fort. Doch lass mich weiter erzählen.

Dort in der Höhle jedenfalls lebten wir eine Weile, und es war eine schöne Zeit. Wir jagten zusammen auf den Hochebenen, badeten in den Flüssen und Seen des Gebirges und flogen um die Wette so hoch, wie wir nur konnten. Junge Drachen können sehr albern sein, Bruder Zweibein, vor allem, wenn sie verliebt sind.“

Awnkledan grunzte, und Eðrik dachte sich, dass das wohl ein drachisches Kichern sein sollte. „Jedenfalls ging lange alles gut, und ich liebte sie von Tag zu Tag mehr und brachte ihr Geschenke und sang ihr Lieder, doch ich begann, Fehler zu machen. Ich wurde eifersüchtig. Wenn andere Drachen uns besuchen kamen, war ich unfreundlich und schickte sie rasch wieder fort, denn ich wusste, wie schön Silberblau nach den Maßstäben meines Volkes war, und sie wusste es auch. Doch ich war jung und dumm. Ich sah nicht, dass sie mich ebenso liebte wie ich sie, und indem ich versuchte, sie noch mehr an mich zu binden, verlor ich sie.“

Eðrik strich mit seiner Hand über den Rücken des Drachen. „Armer geflügelter Bruder“, murmelte er, „konntest du ihr deinen Fehler nicht erklären?“

„Nein, das konnte ich nicht“, seufzte der Drache, „denn sie verstand sehr wohl, warum ich das tat, doch sie missbilligte es. Sie hatte gerne Gesellschaft, doch ich vertrieb stets alle Besucher, selbst Kalém und andere mächtige Drachen. Doch eines Tages reichte es ihr, und sie flog einfach davon und meinte nur, dass es wohl an der Zeit sei, dass ich erwachsen werde, und dass sie mir dabei anscheinend nicht helfen könne. Ich war wütend! Ich war so wütend, dass ich einige Jahre planlos umherflog, bevor ich nach Hause zurückkehrte, und dort war ich noch immer so wütend, dass ich nicht achtgab und in einem Wutausbruch den Steinschlag auslöste, von dem du mich damals als Kind befreit hast.“

„So war das also!“, rief Eðrik aus. „Ich hatte mich schon gewundert, wie der Stein auf dich gekommen war, denn Erdbeben gibt es ja nicht in den Bergen meiner Heimat.“

„In der Tat. Nun, nachdem du mich befreit hattest, hatte ich ja einige Zeit, meine Gedanken zu ordnen, und nach und nach fasste ich den Entschluss, Silberblau zu suchen und sie um Vergebung zu bitten. Dann traf ich dich, und ich dachte mir, ein Reisegefährte sei doch sehr angenehm bei dieser schwierigen und recht aussichtslosen Suche. Und so haben wir uns auf den Weg gemacht.“

Eðrik seufzte und reckte seine steifen Glieder etwas. „Eine traurige Geschichte erzählst du mir da, geflügelter Bruder“, meinte er nachdenklich, „doch ich glaube, ich kann dich verstehen, auch wenn ich selbst noch nie wahrhaftig verliebt war. Und ich werde dir so lange bei der Suche helfen, wie du mich dabeihaben willst.“

Der Drache blinzelte liebevoll nach hinten. „Ich weiß wohl, warum ich dich als meinen Reiter erdulde, Eðrik“, sagte er dann leise, „und wahrhaftig, ich wünschte, du hättest eigene Flügel, um neben mir zu fliegen, anstatt wie ein hilfloses Tier zwischen meinen Flügeln zu kauern.“

„Es kauert sich sehr bequem hier“, lachte Eðrik, doch insgeheim seufzte er, denn in ihm war der Wunsch erwacht, einmal selbst auf so mächtigen Schwingen durch die Lüfte zu gleiten, dem Wind zu trotzen und mit ihm zu spielen oder auf ihm zu reiten.

„Das beruhigt mich“, gab Awnkledan zurück, und seine Augen leuchteten mit einem sanften Grün. „Doch was mich beunruhigt, ist, dass ich weder Silberblau gefunden habe noch andere Drachen, die ich nach ihr hätte fragen können. Es scheint, dass alle Drachen Shridanor verlassen haben, und da bleibt mir eigentlich nur eins übrig: nach Süden zu fliegen, in das südliche Inselreich, und dort weiter nach Spuren zu suchen, es sei denn, wir zwei wollen den weiten Weg zurück nach Yador alleine zurücklegen, was ich nicht annehme.“

„Wirklich nicht, nein, geflügelter Bruder, das muss nicht sein“, sagte Eðrik und erschauderte bei dem Gedanken, die endlose Wasserwüste ohne die Kraft von Kalém und der Goldenen zu durchqueren. „Doch meinst du wirklich, dass du sie im Süden finden wirst?“

„Denk an den seltsamen Wind, der uns stets nach Süden getragen hat und der noch immer streng und kühl von Norden bläst“, antwortete Awnkledan, „vielleicht hat er auch die anderen fortgetragen.“

„Dann lass es uns versuchen“, meinte Eðrik, „auch wenn der Süden des Inselreichs fast ebenso seltsam sein soll wie das magische Elfenreich des Festlandes.“

Awnkledan lachte. „Das mag schon sein. Doch weiß man wenig an Wahrheiten über diese Länder, und ich bin gewillt, mehr über sie zu erfahren.“

„Das bin ich auch, geflügelter Bruder, denn mein Volk erzählt sich viele Märchen und Legenden über diese Gegend: man sagt, dass dort die Heimat meines Volkes lag, lange Zeit, bevor es zuerst ins nördliche Inselreich und von dort nach Yador auswanderte. Wer weiß, es mag sein, dass ich entfernte Verwandte dort treffe.“

„Mag sein“, meinte der Drache, „doch ich glaube es nicht. Kein Drache hat seit langer Zeit von Menschenwesen auf den südlichen Inseln gehört. Doch anderes seltsames Volk soll dort leben: von Meereselfen erzählt man sich, die auf Flößen auf dem Meer leben; und von zauberndem Wasservolk, halb Fisch oder Vogel, halb Menschenwesen.“

„Nun, geflügelter Bruder, dann lass uns doch die Geheimnisse des Südens erkunden, gleich, ob wir Silberblau finden oder nicht. Doch natürlich“, beeilte sich Eðrik zu versichern, „natürlich wünsche ich dir, dass du sie findest, auch wenn das bedeutet, dass sich unsere Wege wieder trennen.“

„Nur für eine Weile, wenn überhaupt“, antwortete Awnkledan, „denn es ist nicht die Art von Drachen, neue Freunde für eine alte Liebe aufzugeben, wenn man beides haben kann.“

Damit änderte der Drache abrupt seinen Kurs und hörte auf, gegen den Nordwind zu kreuzen, sondern gab sich seinem Weg hin und ließ sich hoch in der Luft von ihm tragen, so dass die weit entfernten Flecken der Inseln im blauen Tuch des Meeres unter ihnen dahinschossen wie Blätter, die auf einem Bach treiben.

***

11: Die Inseln des Südens

Tage am Himmel und Nächte auf Inseln und Schären verstrichen, als sich der Drache und sein Reiter gen Süden wandten, um dort nach Silberblau zu suchen. Mit jeder Meile, die Awnkledan flog, wurde die Luft milder und der Wind sanfter. An den Stränden fand Eðrik nun ihm unbekannte Krebsarten, und seltsame Pflanzen überwucherten die Inseln, die allesamt unbewohnt waren. Daher verlängerte sich ihre Reise: sie konnten getrost jede einzelne Insel tief überfliegen, ohne Angst zu haben, dass sich Menschen erschrecken könnten; und außerdem waren die meisten Inseln von dichten Wäldern überwuchert waren, die durchaus einen Drachen verbergen konnten, so dass die zwei Suchenden genau nachschauen mussten.

Doch trotz der genauen Suche vergingen viele Tage, ohne dass sie auch nur einen Drachen getroffen hätten.

An einem späten, warmen Abend erreichte Awnkledan eine sehr große Insel, in deren Mitte sich ein Berg erhob. Aus dem Innern des Berges glomm rote Glut in den Abendhimmel und schien sich mit dem Feuer der untergehenden Sonne zu verbinden.

„Ein weiterer Feuerberg“, lächelte Awnkledan Eðrik zu, als dieser von seinem Rücken auf den weichen, warmen Sand des Strandes sprang, „ich hoffe nur, dass sein Bewohner freundlicher ist als der vom Irdena, wenn es denn einen Bewohner hier gibt.“

„Das werden wir morgen herausfinden“, gab Eðrik zurück und gähnte, während er sich umschaute, um einen geeigneten Schlafplatz zu finden.

Am nächsten Morgen wurde Eðrik von Stimmen geweckt.

„Aber wie sonst soll der Mensch hierher gekommen sein?“, sagte eine von ihnen.

„Vielleicht ist er geschwommen?“, meinte eine andere.

„Niemand schwimmt hierher, kein Mensch jedenfalls“, sagte die erste Stimme wieder.

„Nun ja, jedenfalls fliegt auch kein Mensch auf dem Rücken eines Drachens durch die Gegend“, gab die zweite Stimme zurück.

Eðrik setzte sich auf und wandte sich den Stimmen zu und war nicht schlecht überrascht, zwei recht kleine und zierliche Wesen vor sich stehen zu sehen, die ein wenig so aussahen wie die Elfen aus den Sagen seiner Heimat, nur dass sie nicht in Leder gekleidet waren, sondern in locker fallende, gewebte Kleidung von graubrauner Farbe. Ihre Haut und ihr welliges Haar waren bräunlich, ebenso wie ihre Augen, mit denen sie Eðrik skeptisch betrachteten.

„Guten Morgen, Blondschopf“, sagte einer von ihnen, und Eðrik erkannte die erste Stimme wieder.

„Guten Morgen, und Verzeihung, falls ich Euer Gebiet ohne Erlaubnis betreten habe“, antwortete Eðrik.

„Dies ist nicht unser Gebiet. Wir suchen nur nach Holz für unsere Flöße“, gab das Wesen zurück, und Eðrik war sich nun ziemlich sicher, dass es ein Mann war, auch wenn er kleiner und zierlicher war als alle Frauen aus Eðriks Volk.

„Nun, wir ruhen uns hier bloß aus auf unserer Reise“, antwortete Eðrik, „und sicher brechen wir bald wieder auf, sobald mein geflügelter Bruder hier wach ist.“ Denn Awnkledan schlief noch immer fest auf der Wiese am Strand, die sie zu ihrem Schlafplatz erklärt hatten.

„Dann bist du wirklich mit dem Drachen unterwegs?“, fragte das zweite Wesen ungläubig.

„Ja, das bin ich. Wir suchen eine silberblaue Drachin, habt ihr sie gesehen?“

Die beiden Wesen sahen sich an und schüttelten dann den Kopf. „Wir kommen nicht oft in die Nähe von Land“, erklärte das erste Wesen, „und Drachen wohnen selten auf der offenen See.“

Awnkledan grunzte und begann, sich zu räkeln, und die beiden Wesen wichen vorsichtig ein paar Schritte zurück.

„Guten Morgen, geflügelter Bruder“, lächelte Eðrik, als er sah, wie sich eines der großen Drachenaugen öffnete.

„Guten Morgen, Bruder Zweibein“, brummelte Awnkledan verschlafen, „und ein schöner Morgen ist es mit warmem Wind. Die Reise wird heute angenehm werden.“

„Und voller Überraschungen, Bruder Windreiter“, gab Eðrik zurück und zeigte auf die beiden verunsicherten Wesen.

Awnkledan blinzelte sie an, doch dann weiteten sich seine Augen mit Überraschung. „Meereselfen!“, rief er aus und erhob sich endlich, breitete die Flügel aus und reckte sie beeindruckend. „Welch Ehre, dass ich Euch treffe. Ich habe viel von Eurem Volk gehört.“

„Auch wir haben viel über Drachen gehört“, sagte der erste Meereself etwas schüchtern, „und auch wir sind geehrt.“

„Da wir nun alle geehrt sind“, lächelte Awnkledan, „wie wäre es mit Frühstück?“

Am Abend zuvor hatte Eðrik noch einige Muscheln und Krabben gesammelt und Awnkledan hatte am Strand einen gerade erst verendeten Seehund gefunden, und so machten sich die zwei Reisenden über ihre Mahlzeit her, während die beiden Meereselfen höflich warteten.

„Hier gibt es keine Drachen“, sagte der zweite Elf schließlich, „ich habe jedenfalls noch nie einen gesehen.“

„Hier gibt es nur die Meeresdrachen, die Großen Wanderer in den Ozeanen“, stimmte der erste Elf zu.

„Von ihnen habe ich gehört“, sagte Awnkledan, „sie fliegen im Wasser wie mein Volk in der Luft. Aber sagt, wisst ihr vielleicht, wo sie Drachen aufhalten könnten?“

„Nein“, sagten die Elfen und schüttelten ihre Köpfe. „Aber vielleicht weiß Großmutter es“, meinte der erste Elf, „sie kennt die Meere und Länder hier wie niemand sonst.“

„Wo ist denn diese Großmutter?“, fragte Eðrik.

„In unserem Dorf. Kommt mit“, sagte der zweite Elf, „wir bringen euch hin.“

„Wenn Drachen schwimmen können“, meinte der erste Elf etwas skeptisch, „ich habe gehört, euer Feuer verlöscht im Wasser.“

„Da mach dir mal keine Sorgen“, antwortete Awnkledan und seine Augen blitzten auf mit einem Lächeln, „wir schwimmen nicht so gut wie Meeresdrachen, doch besser als so mancher Mensch.“

Also erklomm Eðrik den Rücken seines Freundes und dieser schwang sich in die Luft, während die beiden Meereselfen zu dem kleinen Boot liefen, das am Strand lag, und es ins Wasser schoben. Es war etwas mühselig, den Elfen zu folgen, da sie langsamer ruderten als ein Drache fliegen kann, und so flog Awnkledan oft etwas voraus oder zurück, drehte Schleifen und spielte mit der Luft, was Eðrik gut gefiel. Er konnte sich gar nicht mehr vorstellen, nicht zu wissen, wie es sich anfühlt, sein Leben dem Wind anzuvertrauen.

Nach einer Weile schaute Awnkledan nach vorne und sagte dann zu Eðrik: „Ich glaube, ich sehe dieses Dorf bereits. Es ist auf dem Meer gebaut und schwimmt.“

„Können wir nicht einfach vorausfliegen?“, fragte Eðrik ungeduldig.

Aber Awnkledan entschied, dass es besser war, auf die beiden Elfen zu warten, damit ihr Volk nicht erschrak, wenn plötzlich ein Drache neben ihrem Dorf aufs Wasser platschte.

So dauerte es noch eine Stunde, bis sie endlich landen konnten, und obwohl Awnkledan vorsichtig war, wurde Eðrik doch recht durchgeweicht bei der Landung, was jedoch im warmem Wasser nicht so schlimm war. Er erklomm eines der Flöße, die dicht nebeneinander lagen und mit Tauen verbunden waren, schüttelte das Wasser ab und schaute hinunter auf die neugierigen Meereselfen.

Der zweite Elf trat vor. „Mein Bruder spricht gerade mit der Großmutter“, sagte er. „Ich bin übrigens Talidin.“

Eðrik nannte seinen Namen und nahm dankbar einen Becher mit Wasser entgegen, den ihm ein Meereselfenkind reichte. Kaum hatte er es geleert, da kam auch schon Talidins Bruder mit der Großmutter über die Flöße gesprungen.

„Gruß Euch Wanderern“, sagte die Großmutter, die keinen Tag älter aussah als Talidin, „auf der Suche nach Drachen, so hörte ich?“

„Das ist wahr“, erwiderte Awnkledan.

„Ich habe in der Tat vor einiger Zeit gehört, dass drei Drachen etwas weiter südwestlich gesehen worden sind, und einer von ihnen soll wahrhaftig von silberblauer Farbe gewesen sein“, berichtete die Großmutter, „allerdings ist dies schon drei oder vier Monde zurück.“

„Könnt Ihr uns beschreiben, wo sie gesehen wurden?“, fragte Awnkledan.

„Es ist eine kleine Insel, die einzige in der Gegend“, gab die Großmutter zurück und beschrieb anhand der Sterne und Winde den Weg zu dieser Insel.

„Wir danken Euch“, sagte Eðrik und verbeugte sich. „Und ohne unhöflich sein zu wollen, müssen wir uns doch gleich verabschieden und uns auf den Weg machen, denn die Suche dauert nun schon lange und wir hoffen, dass sie bald vorbei ist.“

Sie tauschten noch einige freundliche Worte und machten sich dann auf den Weg nach Südwesten, wobei sie ein freundlicher Wind sanft unterstützte. Unter ihnen erstreckte sich meilenweit nur das offene, friedliche Meer, durchzogen von Korallenriffen; doch gen Abend, als es schon recht dunkel war, erspähte Awnkledan am Horizont den Schatten von Land, und so erreichten sie in der Nacht doch noch Festland und mussten nicht in der Luft oder auf dem Wasser schlafen, sonder auf einem warmen, weißen Strand.

***

12: Die Dracheninsel

Als Eðrik erwachte, schien die Sonne bereits hoch am Himmel, und Awnkledan war nicht zu sehen. Aber es lagen einige Fische im warmen Sand des Strandes und etliche trockene Zweige daneben, und so frühstückte Eðrik leckeren gebratenen Fisch und wusch sich und seine Kleidung dann im Meer. Während seine Kleider an einem merkwürdigen Baum am Strand im warmen Wind trockneten, dachte Eðrik bei sich, dass sie bald zu einer Menschensiedlung würden fliegen müssen, denn der Stoff wurde langsam dünn und fransig und verlangte nach Nadel und Faden und einigen Flicken.

Nach einer Weile kehrte Awnkledan zurück, zu Fuß kam er aus dem Unterholz des nahen, dunklen Waldes gekrochen, wobei er einige Sträucher mitbrachte, die sich in seinen Schuppen verfangen hatten.

„Gut geschlafen, Bruder Zweibein?“, rief er Eðrik entgegen und ließ sich schließlich schnaufend neben ihm in den Sand fallen.

„Das habe ich, geflügelter Bruder“, sagte Eðrik, „und danke für den Fisch. Sag, hast du Spuren von Silberblau gefunden?“

Awnkledan schaute ihn nachdenklich an. „Mag sein, mag auch nicht sein“, meinte er dann, „ich habe Spuren von Drachen gefunden, ebenso eine Höhle, in der es sich ein Drache meiner Größe durchaus bequem machen könnte. Es mag gut sein, dass am fernen Ende der Insel weitere Höhlen sind, denn dort fällt die Küste steil ins Meer ab, und an solchen Küsten findet man oft Höhlen, die auch bei Flut noch teilweise trockenliegen.“

„Dann lass uns dort nachschauen!“ Eðrik sprang auf die Füße, doch Awnkledan lachte.

„Bruder Zweibein ist gerade erst aufgewacht, doch Bruder Flügelpaar hat schon Stunden damit verbracht, sich durch Gestrüpp und Schlingpflanzen zu wälzen. Deswegen ruhe ich mich erst einmal hier aus, doch wenn du magst, dann schau dich ruhig etwas um.“

Das ließ sich Eðrik nicht zweimal sagen, denn er hatte gut geschlafen und war frisch und erholt, und so begann er, die Küste der Insel entlangzustreifen, wo es keine hohen Bäume gab und man gut sehen konnte. Die Insel war nicht sehr groß, so schien es ihm zunächst, doch nach einer Weile stellte er fest, dass sie einfach sehr langgezogen war und er die kurze Seite entlangging. So kam er rasch zum anderen Ende der Insel, ohne jedoch wirklich wissen zu können, wie groß sie war, denn die Längsseite zog sich weit vor seinen Augen hin.

Doch Eðrik kletterte zunächst die steile Felswand hinab auf den schmalen, schwarzen Strand mit Felsblöcken, der darunter lag. Gerade, als er den letzten Meter herabsprang, bebte die Erde unter seinen Füßen, so dass er stolperte und auf den Sand fiel, und als er sich hochrappelte, konnte er über sich dunklen Rauch sehen.

„Ein weiterer Feuerberg, scheint es mir“, murmelte er zu sich selbst, „falls hier noch Drachen leben, so hoffe ich, dass sie freundlicher sind als das Ungeheuer auf Dalas Arm.“

„Falls hier noch Drachen leben, sollte ein Zweibein vielleicht lieber verschwinden und nicht vor ihrer Wohnung herumlungern“, erklang eine grollende Stimme links von ihm aus der Felswand, und ein großer, blauer Kopf mit hellen Schuppenspitzen schob sich aus einer schmalen Höhle.

„Grüß dich, Silberblau“, sagte Eðrik freundlich. „Ich bin mit deinem grünblauen Freund hier, der auch mein Freund ist; er schläft auf der anderen Seite der Insel. Er hat dich sehr vermisst.“

Die Drachin starrte ihn einen Moment an. „Du scherzt“, sagte sie schließlich. „Ich weiß nicht, woher du etwas von mir oder ihm weißt, aber freche Menschen mag ich nicht.“

„Ich scherze nicht“, sagte Eðrik. „Komm einfach mit zum langen Sandstrand. Awnkledan wird sich so freuen, dich zu sehen.“ Und während die Drachin ihn noch völlig entgeistert anstarrte, nachdem sie den wahren Namen ihres ehemaligen Gefährten aus dem Mund eines Menschen gehört hatte, kletterte Eðrik schon wieder die Steilwand hinauf.

„Warte!“, rief Silberblau schließlich. „Kletter auf meinen Rücken. So eine kleine Ameise wie du braucht viel zu lange bis zum Strand.“

Eðrik lächelte und erklomm den glänzend blauen Rücken, und Silberblau schwang sich in die Luft, und nach einem kurzen Flug, der kaum mehr als ein nachlässiges Gleiten über die Baumwipfel war, landeten sie neben Awnkledans schlafendem Körper im feinen, hellen Sand.

„Wach auf, geflügelter Bruder!“, rief Eðrik und sprang von Silberblaus Rücken herab. „Schau, man findet die seltsamsten Sachen am Strand!“

Awnkledan öffnete verschlafen seine Augen, doch dann richtete er sich ruckartig auf alle vier Klauen auf und starrte Silberblau an, und noch bevor einer von ihnen etwas sagte, schlich sich Eðrik in den Wald, denn er wollte das Wiedersehen nicht belauschen. So verbrachte er eine Weile mit der Suche nach leckeren Früchten und bestaunte kleine, bunte Vögel, bis ihn Awnkledans Stimme rief.

Die nächsten Tage verbrachten Awnkledan und Silberblau in erneuertem Glück, doch so sehr sich Eðrik zunächst für sie freute, so langweilig wurde ihm nach einer Weile, denn die zwei hielten sich meist am Strand auf und raunten sich Worte zu und rieben ihre Köpfe aneinander. So erforschte Eðrik nach und nach die Insel mit dem Feuerberg im Südosten, von dem stets ein dünner Rauchfaden aufstieg und dessen Umland von häufigen Ausbrüchen gezeichnet war. Überall sonst jedoch war die Insel wirklich schön, nur recht einsam.

Awnkledan bemerkte dies bald, und er und Silberblau gaben sich redlich Mühe, ihren zweibeinigen Freund zu unterhalten. Mal flogen sie zur Nachbarinsel, mal schwammen sie im grünen, warmen, ruhigen Meer. Eðrik war erstaunt von der Eleganz, mit der sich die beiden großen Drachen auch im Wasser bewegten, als schwömmen sie durch die Wellen ebenso leicht wie durch die Winde des Himmels. Und selbst ihm, dem einfachen Yinn aus Yador, fiel auf, wie anmutig Silberblaus Bewegungen waren und wie grazil ihre Flügel, wenn sie übermütig Spiralen und Überschläge flog, auf die Awnkledan wegen seines Reiters verzichtete.

„Sie ist wirklich eine Schönheit“, sagte er eines Abends, als Silberblau unterwegs war, um für sie drei zu jagen.

Awnkledans Augen glommen gelblich auf vor Freude. „Ja, das ist sie.“

„Heiraten Drachen?“

Awnkledan grollte ein leises Lacen. „Nein, Bruder Zweibein. Aber nicht selten beschließen zwei Drachen, dass sie zusammenbleiben wollen. Wir leben lange, aber langsam, und nach der Rechnung unseres Volkes sind Silberblau und ich noch junge, unerfahrene Hüpfer.“

„Also sind noch keine Dracheneier in Sicht?“, neckte Eðrik, worauf der große Drache verlegen den Kopf abwandte und ins Meer tauchte, um nach Fischen zu suchen.

Silberblau war sehr freundlich zu Eðrik, nachdem sie sich daran gewöhnt hatte, dass Awnkledans bester Freund keine Flügel und nur zwei Beine hatte. Sie mochte eigentlich keine Menschen, hatte sie ihm erklärt, wegen all der üblen Dinge, die man so über sie hörte, dass sie Drachen töteten und ähnliches.

„Deswegen mögen viele Menschen auch Drachen nicht“, hatte Eðrik ihr erklärt, „denn viele glauben, ihr jagt Menschen und stiehlt ihre Töchter und ihre Schätze und hortet alles Gestohlene in euren Höhlen.“

„Was sollten denn Drachen mit Schätzen anfangen?“, fragte Silberblau verwundert. „Wer nichts besitzt, kann auch nicht besessen werden. Wir besitzen im Leben nur eines, unseren Namen, doch ansonsten sind wir das freieste Volk der Welt und können kommen und gehen, wie es uns beliebt.“

„Ja, das könnt ihr“, seufzte Eðrik, „und darum sollten euch die Menschen beneiden, und vielleicht tun sie es und erfinden darum diese grauslichen Geschichten.“

„Mag sein.“ Silberblau reckte ihre anmutigen Schwingen. „Doch darf man nicht vergessen, dass es leider auch in meinem Volk unfreundliche Gesellen gibt, die nicht davor zurückscheuen, selbst ihre Brüder des Windes in einen Feuerberg zu treiben.“

Da konnte Eðrik nur nicken.

„Aber“, fuhr Silberblau weise fort, „dieser Ausgestoßene ist eine Ausnahme, wie es sie wohl in jedem Volk gibt. Denn schau uns an, Eðrik: kein Wesen dieser Erde ist mächtiger als wir mit unseren Schwingen, unserer Sprache und unserem Feuer, und dennoch führen wir keine Kriege und erobern keine Länder, obwohl es uns leicht möglich wäre.“

„Was sollten denn Drachen mit Ländern anfangen?“, fragte Eðrik spitzbübisch und lachte. „Wer nichts besitzt, kann auch nicht besessen werden.“

Auch Silberblau lachte hierauf. „Recht hast du, doch kommt es immer wieder vor, dass Menschen oder andere Wesen in Höhlen siedeln, die uns als Schlafplätze dienen. Doch die Welt ist groß, und wir Windreiter können leicht ein paar hundert Meilen weiterfliegen zu einer anderen Höhle, wogegen ihr Erdgebundenen mühsam auf euren kleinen Beinchen herumwandern müsstet.“

„So seid ihr Drachen mächtig und weise, und wir Menschen sind töricht und schwach“, lächelte Eðrik, „und dennoch können wir Freunde sein.“

Silberblaus Augen glommen sanft auf wie Mondschein. „Ja, das können wir.“ Und dann flog sie fort, um Eðrik etwas besonders Leckeres aus dem Meer zu fischen.

Eines Morgens wachte Eðrik auf und wunderte sich, denn keine Sonne schien ihm wie sonst ins Gesicht, und so setzte er sich blinzelnd auf und schaute auf eine schwarze Wand. So schien es ihm jedenfalls, doch als er den Blick hob, sah er, dass es Kishéal war, dessen riesiger Körper vor ihm halb im Meer, halb auf dem Strand lag und so die Sonnenstrahlen fing, die eigentlich auf Eðriks Gesicht hätten fallen sollen.

Eðrik stützte sich auf die Ellbogen und nickte. „Guten Morgen, hoher Herr!“

„Guten Morgen, Eðrik aus Yador,“ antwortete der Drachenkönig, und die Insel vibrierte von seiner grollenden Stimme, so dass auch Awnkledan und Silberblau erwachten. „Frisch Verliebte schwimmen im Glück, doch nur zwei machen ein Pärchen, und ein kleines Zweibein findet auf dieser Insel nicht viel zu tun. Darum wollte ich dich auf einen Flug durch die Inselreiche einladen, falls du magst.“

Eðrik sprang auf. „Oh ja, hoher Herr, das mag ich in der Tat gerne tun!“

„Dann steig auf“, sagte Kishéal, und seine grünen Augen blitzten. „Sorg dich nicht, Grünblau, ich werde deinen Freund pfleglich behandeln, und in einigen Tagen sind wir bereits zurück, denn gemessen an meinen Schwingen sind die Inselreiche des Nordens und Südens klein.“

Eðrik erklomm mühsam den mächtigen Körper am Kopf des Drachen und setzte sich in sein Genick, denn während er auf Awnkledans Rücken noch bequem sitzen konnte, so war Kishéals Rücken zwischen den Flügeln so mächtig, dass Eðrik dort nur hätte kauern können. So stützte er sich mit den Händen an Kishéals Kopf ab, als dieser den Wind mit seinen Flügeln fing und sich in die Luft erhob, und wenn er sich vorbeugte, konnte er die großen Augen des Drachen unter sich sehen, während sie die kleine Insel verließen und weiter nach Süden flogen.

***

13: Fremde Küsten

Wie soll man beschreiben, was es heißt, auf dem Rücken des Vaters aller Drachen über die Eilande und Riffe des Inselreiches hinwegzugleiten? Eðrik fand dafür niemals Worte, und er versuchte auch gar nicht wirklich, sie zu finden. Er genoss einfach den sanften, schnellen Flug und den Blick auf Blau und Grün unter ihm. Sie flogen sehr hoch, so hoch, dass Eðrik nicht selten der Schwindel ergriff und er die Augen schließen musste, doch nach einigen Stunden hatte er sich daran gewöhnt und freute sich über die Aussicht, die sich ihm darbot. Der Wind war eiskalt in dieser Höhe, und wenn sie durch die Wolken stießen, so hafteten danach feine Eiskristalle an Eðriks Kleidung.

„Geht es dir gut, Eðrik aus Westyador?“, vibrierte die Stimme des Drachenkönigs unter ihm.

„Sehr gut, hoher Herr!“, rief Eðrik gegen den frostigen Wind, und der Drachenkönig lachte.

Nach einer Weile senkte er sich hinab, so sanft wie eine kleine schwarze Feder trotz seiner Größe, und glitt hinab aufs Meer.

„Schau nach Westen“, sagte er, und kleine Wellen liefen vor ihm fort, als sei seine mächtige Stimme ein Seebeben.

Eðrik gehorchte und erblickte in einiger Entfernung eine weiße Linie am Horizont, die sich aus dem tiefen Blaugrün des Meeres erhob, dessen Farbe der Awnkledans ähnelte. „Was ist das?“, fragte er.

„Das ist eine Küste des Südens“, antwortete Kishéal. „Wir sind weit entfernt von Yador und dem Gefahrenberg, wo der Verstoßene lebt, doch dies ist immer noch dasselbe Land.“ Bevor Eðrik etwas sagen konnte, faltete der Drachenkönig die Schwingen zusammen und schlängelte sich rasch durch das Wasser näher an die weiße Linie heran. Als sie sich der Linie näherten, erkannte Eðrik, dass es in Wirklichkeit hellgraue Felsen waren, die sich aus dem weiten Meer erhoben, und hinter ihnen sah er das Grün von Bäumen ganz wie die Wälder seiner Heimat. Doch die Luft hier war anders als in Yador, denn wie auf den Inseln war sie sanft und warm, und die Fische, die neugierig um den Körper des Drachenkönigs herumtanzten, ähnelten nicht den Fischen Yadors.

Kishéal schwamm bis zu einem Riff, das einige hundert Schritt vor der Küste lag, und schob sich halb hinauf. Eðrik kletterte vom Drachen hinab, recht froh, wieder seine Füße benutzen zu können nach dem langen Ritt auf dem Rücken eines Drachen. Von der Kante der Klippen glitten immer wieder Schemen hinab, und nach einer Weile erkannte Eðrik, dass es keine Vögel waren, wie er zunächst gedacht hatte, sondern etwas, das ähnlich aussah wie Menschen.

„Man kann sie wohl Flugler nennen“, sagte Kishéal neben ihm. „Zumindest lautet das Wort, das wir für sie haben, ähnlich, wenn man es in deine Sprache übersetzt. Wie wir sind sie Windfreunde, und wie du haben sie zwei Beine und zwei Arme.“

Sie schauten eine Weile lang den Gestalten zu, die auf den starken, warmen Windböen hinab aufs Wasser glitten, um Fische zu fangen, und dann wiederum die Klippen erklommen, um sich oben auszuruhen, bis sie wieder zur Jagd hinabstießen.

„Ich habe noch nie von ihnen gehört“, sagte Eðrik.

„Es gibt vieles, von dem du noch nie gehört hast“, antwortete Kishéal, und seine großen grünen Augen glitzerten. „Oder weißt du, wie der Berg der Gefahr, der Irdena, entstanden ist? Weißt du, warum viele unserer Jungen in der Wüste schlüpfen und nicht nur im Wasser wie einst? Weißt du, warum es die Welt gibt?“

Eðrik antwortete eine Weile nicht. „Nein“, sagte er dann, „aber du bist ein Gott, und es ist nicht erstaunlich, dass Götter solche Dinge wissen, denn wenn sie es nicht wissen, wozu sind sie dann Götter?“

Kishéal grollte ein leises Lachen, das das Riff erzittern ließ, und dann wurde Eðrik plötzlich schwindelig und er musste zwinkern, und als sein Kopf wieder standhaft war, war der gigantische Drachenkönig plötzlich verschwunden, und an seiner Stelle stand ein fremdartig aussehender Mensch mit dunklen Haaren und Kishéals grünen Augen.

„Es stimmt wohl“, sagte er, „dass wir Götter mehr wissen als ihr Menschen. Meine Kinder jedoch wissen von den meisten Dingen ebensoviel wie wir, und von etlichen mehr, als es die meisten meiner Geschwister je lernen werden.“

Eðrik starrte ihn nur stumm an.

„Die Götter, wie du sie nennst, sind nicht so verschieden von vielen Menschen“, sagte Kishéals menschliche Gestalt, während sie nachdenklich die Klippen hinaufblickte, „denn die meiste Zeit verbringen sie mit unnützen Dingen, die mit Eitelkeit und Stolz und Macht zu tun haben.“

„Drachen tun das nicht“, wagte es Eðrik endlich, sein Schweigen zu brechen.

„Nein“, antwortete Kishéal, „Drachen tun das nicht. Und warum nicht?“

„Weil sie nichts besitzen“, sagte Eðrik, „nichts außer ihrem Namen; und weil sie auch nichts besitzen wollen, denn alles, was sie brauchen, finden sie auf der Welt, und wer würde einem Drachen Grenzen setzen und ihm am Überqueren dieser Grenzen hindern wollen?“

„Dann sind Drachen also grausame, furchterregende Wesen, die die Menschen fürchten müssen? Oder weshalb wagen es Menschen nicht, sie am Betreten ihrer Länder zu hindern?“, fragte Kishéal und wandte seinen Blick fort von der Küste und in Eðriks Gesicht hinein, und Eðrik war wie gebannt von den uralten grünen Augen, die in seine blickten.

„Sie können furchterregend sein“, antwortete er schließlich, „und deswegen fürchten Menschen sie auch, obwohl sie bisher keinen Grund dafür haben.“

„Und weshalb haben die Menschen keinen Grund dafür?“, fuhr Kishéal mit seinen Fragen fort.

„Weil Drachen die Menschen nicht angreifen“, antwortete Eðrik, „denn solange die Menschen den Drachen keine Grenzen setzen, haben die Drachen keinen Grund für Gewalt. Jedoch“, fügte er nachdenklich hinzu, „wenn das so ist, wieso hat uns dann der Drache am Irdena vertrieben, als verteidige er sein Land?“

Die grünen Drachenaugen in Kishéals Menschengesicht erblassten leicht. „Ja“, sagte er leise, „das ist eine gute Frage.“

Und dann sagte er nichts mehr, sondern wandelte seine Gestalt und lag als riesiger Drachenkönig vor Eðrik. „Steig nun auf, Eðrik Drachenfreund“, sagte er etwas traurig, „dies ist kein Ort zum Schlafen für Menschen, und der Abend ist nah.“

Und wirklich, hinter den Klippen begann sich die Sonne bereits zu senken, und die Schatten der Felsen auf dem Wasser wurden länger.

Mit Bedauern erklomm Eðrik den Rücken des Drachenkönigs. „Wie schön diese Felsen wohl im Sonnenuntergang aussehen müssen“, seufzte er.

„Das tun sie“, antwortete Kishéal, so dass alles um sie herum vibrierte, „und eines Tages wirst du es vielleicht sehen. Doch nun lass mich einen sicheren Platz finden, an dem Zweibeiner aus Yador in Ruhe schlafen können.“

„Wenn man mit dem Drachengott fliegt“, schrie Eðrik gegen die Winde an, die sich erhoben, als Kishéal seine Schwingen ausbreitete und sich in die Lüfte erhob, „dann erscheint mir jeder Ort der Erde sicher genug dafür!“

Eðrik und der Drachenkönig verbrachten die Nacht auf einem Eiland vor der Küste des Festlandes. Am nächsten Morgen fing sich Eðrik einen Fisch und nahm als Wegzehrung noch Früchte mit, und dann bestieg er abermals den Rücken des Drachenkönigs und dieser schwang sich wieder in die Luft.

Diesmal ging der Flug noch weiter nach Süden und war dabei ostwärts gerichtet, fort vom Festland. Zunächst flogen sie daher der Sonne entgegen, so dass Eðrik die meiste Zeit die Augen schließen musste, doch je weiter und weiter sie flogen, desto mehr wanderte die Sonne auf ihrem Weg über den Himmel, und mittags schließlich stand sie fast seitlich zu ihrem Flug.

„Wohin geht es diesmal, Herr?“, fragte Eðrik schließlich. „Mir scheint, wir fliegen immer weiter fort von Awnkledans und Silberblaus Insel.“

„Du hast ein gutes Gespür für Richtungen“, erklang die Stimme des riesigen Drachen unter ihm, „denn ich will dir heute wieder etwas zeigen. Die beiden Kinder werden dich noch einen weiteren Tag entbehren können.“

Damit hatte der Drachenvater sicherlich recht, und so gab sich Eðrik damit zufrieden, rasch und hoch über ewiger Weite der See hinwegzufliegen. Am Nachmittag schließlich sank Kishéal sachte hinab, als am Horizont eine große Insel erschien, und dann verlangsamte er seinen Flug, um neben ihr mit überraschender Sanftheit ins Wasser zu gleiten.

Jetzt, wo der kalte Flugwind der Höhe nicht mehr an seiner Kleidung zerrte, brach Eðrik der Schweiß aus, denn die Luft hier war noch wärmer als an der Küste der Flugler. Er sprang also vom Rücken Kishéals ins Wasser und schwamm an Land, wo er seinen Umhang und seine Hosen an einer Palme zum Trocknen aufhängte und nur im Unterzeug umherlief.

„Schau ans andere Ende der Insel!“, rief Kishéal ihm zu. „Ich werde dorthin schwimmen.“

Eðrik tat, wie ihm geheißen, und erreichte alsbald einen unglaublich breiten und langen Strand, dessen gelbweißer Sand in der sich langsam senkenden Sonne hell gleißte. Am Strand lagen etliche seltsame Geschöpfe, die den Waranen dieser Gegend ähnelten, mit ihren stummeligen Auswüchsen an den Schultern jedoch auch an Drachen erinnerten. Einige der Geschöpfe hoben träge die Köpfe, als er sich näherte, aber sie ließen sich nicht weiter von ihm stören.

Einige hundert Schritte vom Strand entfernt lag der mächtige Körper des Drachenvaters bereits im Wasser. Die Insel hatte hier eine weite Bucht, die durch ein Riff fast vollständig vom Meer abgegrenzt war. Gerade jetzt sah Eðrik, wie zwei der seltsamen Geschöpfe aus dem Ozean emporschnellten und ihre Körper aufs Riff warfen, es überquerten und schließlich in die Lagune glitten, um auf ihre sich sonnenden Artgenossen zuzusteuern. Ein weiteres Wesen tauchte plötzlich in der Mitte der Lagune auf, es schien durch einen unterirdischen Tunnel im Riff geschwommen zu sein.

Die Neuankömmlinge wurden mit Nasenstupsen und Grunzen begrüßt, und es dauerte eine Weile, bis wieder Ruhe einkehrte und jedes Wesen einen Platz für sich gefunden hatte.

Dann, weil er sah, dass die Sonne jetzt im Sinken begriffen war, wandte sich Eðrik um und ging zurück an dem Ort, wo Kishéal mit ihm gelandet war. Abermals war der Drachenvater vor ihm da, und da die Küste hier steil und felsig war, konnte er direkt ans Ufer schwimmen und seinen mächtigen Kopf auf die Felsen legen, während Eðrik auf einem Stein saß und die letzten seiner Früchte verzehrte.

„Was sind das für merkwürdige Wesen?“, fragte er. „Zuerst dachte ich fast, es seien Drachen, doch sie können ja anscheinend gar nicht sprechen.“

„Es sind Drachen“, gab Kishéal freundlich zurück, „oder sie werden einmal Drachen sein, wenn die Zeit dafür gekommen ist: es sind Drachenlarven, die man auch Drachinger nennt. Wenn du in den Wald hineingehst, wirst du viele seltsame Gebilde sehen: das sind verpuppte Drachinger, aus denen dann die jungen Drachen ausschlüpfen. Dies ist einer der beiden Orte, an denen meine Kinder ihre Kinder zur Welt bringen; der andere Ort liegt jenseits der Fluglerküste in einer heißen Sandwüste.“

Eðrik kaute auf seiner Frucht und war beeindruckt. „Es muss schön sein“, meinte er schließlich, „wenn man nicht einfach in die Welt gestoßen wird und sich darin zurechtfinden muss, vor allem, wenn man so mächtig ist wie ein Drache. Stattdessen können sie erst die Welt kennenlernen, bevor sie wirklich sie selbst werden.“

„Ja“, stimmte Kishéal ihm zu und grollte ein Lächeln, „du solltest deinen Freund Awnkledan einmal nach seiner Zeit als Drachinger fragen. Die meisten Drachen erinnern sich mit Freude an diese Zeit zurück, denn sie ist einfach und sorglos.“

„Das werde ich tun“, nahm Eðrik sich vor, „gleich wenn ich ihn wiedersehe.“

***

14: Die Kinder der Windbrüder

Viele Tage lang studierte Eðrik die Drachinger auf der großen Insel, er sah ihnen zu und lernte von ihnen. Sie waren längst nicht so furchteinflößend und imposant wie die erwachsenen Drachen, sondern eher verspielt – ganz so wie freundliche, neugierige Tierchen. Oft erinnerten sie ihn an die beiden Hunde seiner Familie weit weg in Yador, mit denen er als Kind gespielt hatte.

Währenddessen flog Kishéal hierhin und dorthin übers Meer, zu anderen Inseln oder zum Festland, Eðrik wusste es nicht genau. Doch alle paar Tage landete der Drachenkönig im Meer vor der Insel, schwamm zur Lagune und redete dort mit Eðrik und den Drachingern. Diese liebten seine Besuchte ganz offensichtlich: landete er, kamen sie aus dem Wasser und aus den Wäldern der Insel herbeigekrochen, plump und tollpatschig, um sich am Strand und auf den Brandungsfelsen zu versammeln und ihm zuzuhören.

Ob sie ihn verstanden, wusste Eðrik nicht, aber sie mochten den Klang seiner mächtigen Stimme. Dafür aber erschien es Eðrik so, als verstünde er die Sprache der Drachen immer besser, denn Kishéal sprach nur in dieser zu den Drachingern, doch Eðrik verstand bald, was er ihnen erzählte: Von seinen Flügen berichtete er, von den Namen der Inseln und der Wasserströmungen, von den Windrichtungen und von guter und schlechter Nahrung.

Nach und nach wurde Eðrik wagemutiger. Er schwamm zusammen mit den Drachingern in der Lagune, wo sie ihn anstupsten, hochhoben oder spielerisch untertauchten. Trotz ihrer Größe waren sie dabei äußerst vorsichtig. Manchmal brachte ihm ein Drachinger einen Fisch, und Eðrik zahlte diese Freundlichkeiten zurück, indem er ihnen Obst von den hohen Bäumen der Insel hinunterwarf.

Einmal rief Kishéal ihn zu sich, als er wieder einmal wie eine Bank aus schwarzem Sand vor der Insel lag.

„Gefällt es dir hier, Eðrik Drachenfreund?“, fragte er gemütlich grummelnd.

„Sehr, mein König“, antwortete Eðrik eifrig. „Aber hast du Nachricht von meinem Freund Grünblau?“

„Er und Silberblau verbringen viel Zeit damit, sich neu kennenzulernen“, antwortete Kishéal, „die Insel vibriert vom Klang ihrer Stimmen. Aber wenn du diesen Ort leid bist, bringe ich dich gerne zurück zu ihnen.“

„In einigen Tagen vielleicht“, gab Eðrik schmunzelnd zurück, „denn die Drachinger und ich erkunden gerade den Berg dort drüben – ich glaube, dass dort eine Höhle ist, die sie mir zeigen möchten.“

„Du scheinst dich gut mit ihnen zu verstehen“, sagte der Drachenkönig mit einem gelben Glitzern in seinen grünen Augen. „Darum kannst du mir vielleicht eine Frage beantworten.“

„Ich will es versuchen.“

„Warum ist es so gut, ein Drache zu sein?“, fragte Kishéal.

Eðrik lächelte. „Weil man ein Drache ist“, antwortete er in der Sprache der Drachen, und da dies die älteste und genaueste Sprache der Welt ist und viele Wörter für die Drachen kennt, sagte er eigentlich: „Weil man ein Kind Kishéals ist, dessen Bruder uns den Wind für unsere Flügel, den festen Grund für unsere Rast und das Wasser für unser Spiel schenkt.“

Kishéal sah Eðrik lange an. „So ist es“, sagte er schließlich in der Sprache der Drachen, „ich sehe, wir verstehen uns.“ Damit breitete er die Schwingen aus und flog von dannen, und Eðrik schwamm an Land und kletterte einen Baum hinauf, um den Drachingern eine Staude Stabfrüchte zu bringen.

Eines Tages gerieten die Drachinger am Strand in Aufregung, und nach einer Weile erkannten auch Eðriks kurzsichtige Menschenaugen den Grund hierfür: Zwei Formen näherten sich aus nördlicher Richtung hoch am Himmel, die eine glitzerte blausilber, die andere blaugrün. Sanft schraubten sie sich auf die Insel herunter, überflogen sie halb, wendeten und landeten schließlich zwischen den Drachingern am Strand.

Eðrik eilte schnell zu seinem Freund und nahm den großen Kopf in seine Arme, und Awnkledan schloss mit einem behaglichen Grunzen die Augen.

„Du hast mir gefehlt, geflügelter Bruder.“

„Du mir auch, Bruder Zweibein.“

Dann begrüßte Eðrik Silberblau, die ihm freundlich mit der Flügelspitze über den Kopf fuhr. Die langen Gespräche mit Awnkledan hatten ihre Meinung über Menschen offensichtlich stark verbessert.

Sie ließen sich am Strand nieder und begannen zu reden: über Edhriks Zeit mit den Drachingern, über die Vögel, die über sie hinwegflogen, und über die Geräusche der Wellen an der Steilküste, wo die beiden Drachen die letzten Tage verbracht hatten. Neugierige Drachinger krabbelten heran und legten sich mit halb geschlossenen Augen neben sie, so dass Eðrik lächelte und bei sich dachte, dass sie eigentlich nur noch zu schnurren brauchten, um wie übergroße, schuppige, wasserliebende Katzen zu wirken.

„Im Süden des Festlandes ist doch Wüste“, sagte er zu Awnkledan, „dort, wo ihr beide Drachinger wart. Hat euch das Wasser nicht gefehlt?“

„Wasser, Strand oder Luft“, antwortete Awnkledan mit einem Schmunzeln in den Augen, „welchen Unterschied macht das für einen Drachen?“

Eðrik lächelte. „Keinen. Ich verstehe. Es ist dieselbe Welt.“

„Es ist dieselbe Welt“, bestätigte Silberblau sanft. „Und unsere Kinder schwimmen auch im Sand – weniger flink als im Wasser, aber flinker als jedes Zweibein.“

„Es gibt dort im Sand keine Raubfische“, sagte Awnkledan, „nur Zweibeiner wie du, doch diese tun uns nichts. Fische und Vögel aber fressen unsere Eier. Ich hatte eine sehr glückliche Drachingerzeit in der Wüste, und eine ohne große Gefahren.“

„Und du, Jayenkledan?“, fragte Eðrik keck.

Silberblau sah ihn groß an.

„Ich habe etwas von eurer Sprache gelernt“, sagte Eðrik stolz auf Drachisch.

„In der Tat“, brummelte Silberblau halb stolz und halb bestürzt darüber, dass ein Mensch ihren Namen kannte. Eðrik tätschelte ihr beruhigend die rechte Vorderkralle, und Awnkledan trollte sich amüsiert grollend ins Wasser, um ihr Abendbrot zu fangen.

Während Jayenkledan und Eðrik warteten, schob sich ein schwerer, schuppiger Drachingerkopf neben Eðrik, und Eðrik kraulte ihn geistesabwesend, während er über all das nachdachte, was er über Drachen gelernt hatte, seit er als Junge einen Drachen aus seiner Höhle befreit hatte.

***

15: Eðrik der Drachenfürst

Nach einigen Tagen beschlossen Awnkledan und Jayenkledan, die Inseln im Westen der Dracheninsel zu erkunden. Eðrik wollte noch eine Weile bei den Drachingern bleiben, denn einige unter ihnen waren ihm sehr ans Herz gewachsen und begannen gerade, sich zu verpuppen, um in einigen Jahrzehnten als junge Schlupfdrachen das Licht der Welt zu erblicken.

„Nur ein paar Tage“, bat er daher die beiden Drachen, „bis sie ihre Hülle fertig haben und ich weiß, dass sie sicher sind.“

„Wie du möchtest, Bruder Zweibein“, brummelte Awnkledan gutmütig, „wir kommen dann auf den Rückweg vorbei, um dich abzuholen.“

„Danke, geflügelter Bruder, und auch geflügelte Schwester.“

Die beiden Drachen verabschiedeten sich herzlich von ihm und schwangen sich in die Luft, und Eðrik sah nach seinen Drachingern.

Später am Tag zog von Westen her ein heftiger Sturm auf, wie es sie nur an den Küsten in der südlichen Welt gibt, und Eðrik verkroch sich in der Höhle auf einem Berg der Insel, die ihm die Drachinger gezeigt hatten. Der Sturm wütete etliche Stunden lang, entwurzelte uralte Bäume und durchweichte die Berghänge, so dass die Drachinger, die noch nicht dabei waren, sich zu verpuppen, in die Tiefe der Lagune flüchteten, wo das Wasser sie vor fallendem Geröll und Ästen schützte. Andere versteckten sich bei Eðrik in der Höhle und harrten geduldig bei ihm aus, bis der Donner leiser wurde und der Wind abflaute und der Regen nur noch als feiner Niesel fiel.

Da verließ Eðrik die Höhle und schaute vom Berg hinab auf die verwüstete Insel und auf die schwarzen Wolken, die eilig vor dem Wind her nach Osten zogen, aufs Festland zu. Er wagte es nicht, nach Westen zu blicken, dorthin, woher der Sturm gekommen war und wohin vor wenigen Stunden die beiden Drachen geflogen waren.

Am Abend sah Eðrik einen großen, schwarzen Schatten von Südwesten herbeifliegen und er eilte hoffnungsvoll zum Strand, doch es war nicht Kishéal, der dort landete, sondern der Drachenfürst Kalém. Kaum, dass er Eðrik erspäht hatte, ließ er sich auf die Lagune herab.

„Mein Vater ist auf der Suche nach deinen Freunden“, rief er dem herbeihastenden Eðrik schon von weitem zu. „Ich werde bei dir warten, bis wir mehr wissen.“

„Also sind sie wirklich in den Sturm geraten“, murmelte Eðrik bedrückt.

„So scheint es jedenfalls“, brummte Kalém, „der Wind ist unser Freund, doch manchmal geht sein Temperament mit ihm durch.“

Eðrik antwortete nicht, sondern schwamm zu Kalém und erkletterte seinen großen Körper, um sich zwischen den Flügeln gegen die schwarzen Schuppen zu kuscheln. Die Nacht kam mit ihren freundlichen Sternen, und Eðrik schlief trotz aller Sorgen ein.

Die gewaltige Stimme des Drachenkönigs weckte ihn am Morgen, und schnell erwachte er völlig, als Kaléms Körper beim Antworten vibrierte. Kishéals Kopf lag neben dem seines Sohnes und schaute Eðrik an.

„Der Wind hat sie gegen eine Steilküste getrieben“, sagte der Drachenkönig mitleidig. „Die letzte Flut hat ihre Körper mitgenommen für die Wassertiere – so ist dieses Unglück wenigstens für einige Wesen von Nutzen.“

Eðrik konnte nichts sagen.

„Klettere zu mir herüber“, sagte Kishéal freundlich. „Das Leben endet eines Tages: Das ist eines der ersten Mysterien, das die Erdwesen begriffen haben. Selbst Kinder verstehen es schon, obwohl es keineswegs das einfachste der Geheimnisse der Welt ist. Nun komm her, ich möchte mir dir reden, Eðrik Drachenfreund.“

Eðrik gehorchte und krabbelte wie taub über Kaléms ausgestreckten Flügel auf Kishéals Kopf. Mechanisch hielt er sich an den riesigen Schuppen fest, während sich der Drachenkönig in die Luft erhob. Als sie weit oben auf dem jetzt freundlichen Wind ritten, kamen Eðrik endlich die Tränen, und er ließ sie eine ganze Weile lang fließen.

Schließlich landete der Drachenkönig neben einer der vielen kleinen Inseln des südlichen Inselreichs und ließ Eðrik an Land gehen, wo dieser sich in den von der Sonne durchglühten Sand fallen ließ. Er weinte nicht mehr, denn seine Tränen waren alle, aber in ihm weinte es noch lange weiter.

„Was nun, Eðrik Drachenbruder?“, fragte Kishéal sanft. „Dein geflügelter Bruder ist Opfer seines Wesens geworden: Nur ein Drache wäre in diesen Sturm geflogen, und nur ein junger Drache hätte nicht erkannt, dass dies zu gefährlich ist. Doch solche Dinge geschehen nun einmal und das nicht gerade selten. Du aber bist jetzt hier gestrandet, wo keine Menschen leben, und das geschieht nicht oft. Was sollen wir jetzt mit dir tun?“

„Ich weiß es nicht“, seufzte Eðrik und schloss die Augen. „Es ist mir auch gleich. Ich wollte mit Awnkledan und Jayenkledan durch die Welt streifen. An das, was ich danach tun könnte, habe ich nie gedacht.“

„Ich könnte dich zurück zu deiner Familie bringen“, sagte Kishéal, „nach Yador, wo du aufgewachsen bist, oder aber an jeden anderen Ort der Welt.“

„Ich glaube nicht, dass ich je wieder an nur einem Ort der Welt leben kann“, gab Eðrik traurig zurück, „nicht, nachdem ich sie vom Rücken eines Drachen gesehen habe und weiß, wie viele Orte es noch zu entdecken gibt. Ich bin nun ein Drachenfreund, aber gefangen im Körper eines Menschen, und Menschen haben keine Flügel.“

„Menschen freunden sich auch nicht mit Drachen an“, antwortete Kishéal.

„Manche schon“, sagte Eðrik.

„Manche schon“, echote Kishéal mit einem sanften Glimmen in den Augen. „Und manche Menschen unterscheiden sich so stark von anderen Menschen, dass sie am Ende vielleicht gar keine Menschen mehr sind.“

Eðrik sah den Drachenkönig verwirrt an.

„Ich habe dich liebgewonnen auf unseren Reisen“, fuhr Kishéal fort, „und mir gefallen die Antworten, die du auf meine Fragen hast. Mir gefällt es, wie Awnkledan über dich gesprochen hat und wie Kalém mit dir redet, als wärest du wirklich mehr als ein schlaues Tierchen auf zwei Beinen, denn normalerweise haben meine beiden Söhne für Menschen nicht viel übrig. Du schaust mir aus wie einer unserer Drachinger: gefangen in einer Hülle, die noch nicht wirklich passt, weil ihr einiges fehlt. Deswegen müssen Drachinger einige Jahrzehnte schlafen, damit ihr Körper zu dem eines echten Windbruders wird. Habe ich Recht?“

„Wer bin ich, dein Wort anzuzweifeln, großer König?“, antwortete Eðrik. „Auch, wenn ich es nicht verstehe.“

„Vielleicht verstehst du diese Frage: Kannst du noch unter Menschen glücklich leben?“

„Ich weiß es nicht“, seufzte Eðrik, „ich werde es wohl versuchen müssen.“

„Warum wirst du dies tun müssen?“

„Weil ich ein Mensch bin und sich daran so schnell nichts ändern wird.“

„Schnell nicht“, gab Kishéal zu, „denn das vermag selbst ich nicht. Doch wenn du dich vierzig Jahre gedulden kannst, wirst du als einer von uns erwachen und die Lücke füllen, die der Tod deines Freundes in unsere Reihen gerissen hat, falls du dies möchtest.“

„Ein Drache? Ich?“ Eðrik lachte und schüttelte den Kopf. „Wer bin ich denn schon, dass du mir ein solch großes Angebot machst? Ein Bauernjunge von einem Hof mit schlechtem Land und viel zu vielen Kindern!“

„Und der Freund zweier Drachen“, Kishéals Augen schmunzelten, „und wie du gelernt hast, ist das mehr, als so manch ein Drache vorzuweisen hat. Das Angebot gilt. Entscheide dich so, wie es dir richtig erscheint.“

Eðrik sah den Drachenkönig lange, lange an. „Was für eine Entscheidung kann ich da schon treffen?“, sagte er leise. „Du kanntest die Antwort schon, bevor du mich gefragt hast, und ich kannte sie, bevor ich anfing, es dir auszureden.“

Kishéals Augen glommen sanft grün. „Ich komme vorbei, wenn es Zeit für dich ist, und sollte ich verhindert sein, schicke ich Kalém zu dir. Bis in vierzig Jahren, Zweibein aus Yador, und dann werde ich dich mit einem neuen Namen ansprechen: Eðrik Dayilkishal, der Drachenfürst, denn ich will dich als mein Eigen annehmen und gleichstellen mit meinem Sohn Kalém. Und nun schlaf.“

Der Drachenkönig breitete die Flügel aus, und Eðrik fühlte, wie ihn die Müdigkeit überkam. Er kroch noch einige Schritt weiter ins Innere der Insel, bevor er zu Boden sank und tief und fest einschlief.

Und als er wieder aufwachte, zwängte er seinen Körper aus der harten, viel zu engen Hülle, breitete seine Schwingen aus und erhob sich in die Luft, um die beiden mächtigen schwarzen Körper zu grüßen, die dort auf ihn warteten.

Und von dem Tage an ist Eðrik der Drachenherr ein Drache unter vielen, und doch ist er der einzige Drache, dessen wahrer, geheimer Name der eines einfachen Bauernjungen aus Ostyador ist.

Und woher ich diese ganze Geschichte kenne? Der Eðrikdrache erzählte sie dem Bruder meines Schwagers vor langer Zeit, oder vielleicht auch dessen Vetter oder Großvater, nun, irgendwann hat er sie jedenfalls erzählt, und mag sie auch im Lauf der Jahrhunderte andere Formen angenommen haben, so steckt doch ein Fünkchen Wahrheit darin.

Eðriks Reisekarte

Hier kannst du Eðriks Reisen mit den Drachen nachvollziehen. Jeder Punkt auf der Karte entspricht einem Kapitel, außer dem letzten – das spielt ja am selben Ort wie Kapitel 14.

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