Dieser kleine Königssohn entstand recht spontan in meinem Kopf und fing an, Tagebuch über sein abenteuerliches Leben zu schreiben. Entsprechend seines jugendlichen Alters ist alles etwas unsortiert und nicht wirklich plotzentriert, und ich weiß nicht, wie gut man das alles hier versteht, wenn man nicht viel über šyukische Kultur weiß, aber es wird ja keiner zum Lesen gezwungen und der Junge hat es verdient, einen Platz auf der Website zu bekommen, kannste wissen, Mann, aber auch!

Ankunft

Mein Name ist Šwithan Mešúr, ich bin dreizehn Jahre alt, seit einer Woche Vollwaise und auf der Flucht. Mein Vater war der König von Šukath und wurde mitsamt seinem halben Hofstaat ermordet. Ich bin wohl der nächste auf der Liste seiner Feinde. Man sagt ja, dass das Leben seltsam ist, und das ist wohl wirklich so. Bis vor knapp einer Woche war ich Kronprinz des größten Reiches der Welt und lebte im Palast. Ich bin nur einige Male in meinem Leben aus dem Palast herausgekommen. Und nun bin ich ein Flüchtling irgendwo im Nichts des Reichs, das ich eigentlich in ein paar Jahren führen sollte.

Ich hoffe, ich lebe in ein paar Jahren noch.

Momentan bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich die nächsten Tage überleben werde. Die Leute meines Vaters, mit denen ich unterwegs bin, kenn ich kaum und ich weiß nicht wirklich, ob ich ihnen trauen kann. Im besten Fall bringen sie mich zu den Verwandten meiner Mutter nach Thoitheakh, worum ich sie gebeten habe, aber der Gedanke hat sie nicht gerade begeistert. Wahrscheinlich bringen sie mich irgendwohin, wo sie mich verstecken können, bis sie mich zu ihrem Gewinn einsetzen können – auf welche Art auch immer. Im schlimmsten Fall verschachern sie mich an Vaters Feinde und die bringen mich um.

Ich hoffe, dass ich nicht ganz so viel Pech habe.

Damit ich’s später nicht vergesse, schreibe ich hier mal Vorstellungen meiner Gefährten, so sie es denn sein mögen.

Šwiko Meška ist ein entfernter Vetter aus einem armen Zweig meines Hauses. Er stammt gerüchteweise aus der Weststadt, obwohl ich mir das nicht so recht vorstellen kann, denn wie sollte er da Anstellung im Palast finden? Dort war er Torwächter. Er ist noch recht jung, gerade dreißig, aber er war bei der Armee und weiß ziemlich genau, was er wil und wie. (Anscheinend will er mich. Hoffentlich kann ich ihm das ausreden. Ich finde das eine ziemlich gruselige Vorstellung, für sowas fühle ich mich eindeutig zu jung.)

Kakhali ist meine Kleidersklavin. Ich kenne sie schon mein ganzes Leben und eigentlich vertraue ich ihr blind, sie hatte immer frieen Zutritt zu meinen Gemächern und hat dies nie ausgenutzt. Sie stammt aus Thoitheakh, meine Tante hat sie vor Jahren geschickt. Ich glaube, sie könnte sich mittlerweile freikaufen, und dass sie es nicht getan hat, macht mir Hoffnung, dass sie wirklich vertrauenswürdig ist.

Elithakh war Vaters Privatsekräter und Vertrauter. Er ist seit vielen Jahren Sklave meiner Familie und hat irgendwie das Attentat überlebt. Das macht mich skeptisch. Schließlich haben es sonst nicht viele von Vaters engstem Kreis geschafft, wie so dann ausgerechnet seine rechte Hand Elithakh? Aber niemand kennt sich mit Vater Geschäften und Kontakten so gut aus wie er, also muss ich ihm vertrauen, bis er sich als unwürdig erweise.

Ihm verdanke ich auch die acht Soldaten, die uns begleiten und zumindest auf marodierende Sangrati sicherlich abschreckend wirken, auch wenn sich meine Feinde kaum durch acht Männer von einem Anschlag abhalten lassen werden.

Das sind wir also. Zwölf Flüchtige in der Steppe. Immerhin – eine heilige Zahl, vielleicht bin ich doch noch nicht zum Sterben verdammt…

Ich schrieb eben Steppe, doch die scheinen wir zu verlassen. Die Flucht führte uns erst westwärts, um Verfolger zu verwirren, dann nach Norden und schließlich nach Osten auf die Berge zu. Thoitheakh liegt nördlich von uns am Bergrand, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass wir morgen weiter nach Osten reisen werden. Hinauf ins Gebirge. Warum auch immer. Wahrscheinlich gibt es dort ein Versteck, in das wir uns verkriechen können.

Das hoffe ich zumindest.

#

Ich hatte recht. Seit zwei Tagen befinden wir uns nun auf einem Pfad hinauf ins Bergland von Drakh. Ehrlich gesagt sahen die Berge von Šyuk aus bedeutend kleiner und zahmer aus, ich bin mir nicht ganz sicher, ob man da wirklich hochkommt. Elithakh sagt, dass wir gar nicht ganz hinauf wollen, sondern nur auf einen Pfad, der uns nordwärts führen wird. Diesem will er dann folgen und von dort aus sollen wir uns westwärts nach Thoitheakh wenden, ganz wie geplant, aber der kann mir viel erzählen, auch wenn er sich immer noch ganz wie der alte, besorgte Sklave benimmt.

Heute Nacht bin ich wegen irgendwas aufgewacht und habe ihn mit Vetter Šwiko tuscheln hören. Ich habe zwar nicht viel verstanden, aber die zwei planen etwas, das steht fest, und Šwiko ist davon nicht begeistert, macht aber wohl mit. Die Soldaten tun, was immer Šwiko ihnen sagt. Und Kakhali ist nur eine Haussklavin, was könnte dir mir schon gegen neun ausgebildete Soldaten helfen?

Ich würde gerne wissen, wo wir eigentlich hinwollen. Nicht direkt zu meinen Feinden, das ist immerhin schon eine Erleichterung, denn sonst hätten sie mich schnurstracks zurück nach Šyik gebracht und nicht in die Berge hinauf, wo es kaum richtige Wege gibt und noch weniger Leute undwo man uns sicher nicht schnell finden wird. Schon immer haben sich Leute mit Problemen in Drakh versteckt, das wird schon seinen Grund haben.

Ich bin heute von meinem Pferd abgeworfen worden. Nichts schlimmes, es ist gestolpert und ich bin halt ein furchtbar schlechter Reiter, aber natürlich musste ich mit der Wade einen Dornbusch erwischen.Vetter Šwiko hat es sich nicht nehmen lassen, mein Bein selbst zu verarzten, auch wenn ich das lieber Kakhali hätte machen lassen, aber mir ist keine Ausrede eingefallen – er ist nun einmal das älteste anwesende Familienmitglied, wenn auch nur entfernt und mit ausgesprochen schlechten Manieren. Ich habe ihm die Fingernägel in die Hand gehauen, als er meinen Oberschenkel untersuchen wollte, der von den Dornen nichts abbekommen hat. Das hat ihm nicht besonders gefallen, aber er hat es hingenommen. Wahrscheinlich wartet er auf eine bessere Gelegenheit, oder zumindest auf eine bequemere. Ich muss dringend mit Elithakh reden und ihn diesbezüglich auf meine Seite ziehen; was immer er auch mit mir vorhat, es kann nicht hilfreich sein, wenn sich ein Verwandter an mir vergreift. Wahrscheinlich hat Elithakh ohnehin vor, mich in diese Richtung zu verschachern. Die Deserteure der Khaji treiben sich in Drakh herum, und jeder weiß, was Heerführer Iroš Ketir so mit heranwachsenden Jungen anzustellen beliebt.

Vom Regen in die Traufe also. Aber immerhin muss er als Heerführer ein Ehrenmann sein, selbst wenn er ein Yist ist – flegelhafter als Vetter Šwiko kann er ja kaum sein.

Ich habe noch nie einen Yist gesehen.

Ob sie wirklich schwarze Haare haben?

#

Heute haben wir die Schneegrenze erreicht. Ich wusste gar nicht, dass der Schnee so nah ist, aber der Pfad war auch wirklich sehr steil, da ging das schnell. Ich hatte mir Schnee irgendwie anders vorgestellt, weicher und fluffiger, nicht so ein feuchtkaltes Zeug mit Kruste drauf.

Ehrlich gesagt habe ich auf den paar Tagen meiner Flucht schon mehr gelernt als in meinem Leben im Palast, über das Reich und vor allem über Menschen. Ich habe Elithakh vom Übergriff meines Vetters erzählt und er hat mir versprochen, sich darum zu kümmern, Da wir immer noch nordöstlich weiter hoch ins Gebirge ziehen, fragte ich ihn, wann wir wieder westwärts Richtung Thoitheakh gehen. Ganz wie erwartet wich er aus und meinte nur, er müsste sichergehen, dass und niemand folgt, weil Thoitheakh nicht sicher sei, denn die Stadt ist sehr offen gebaut und nicht zu verteidigen, falls Soldaten aus Šyuk kommen sollten. Klingt für mich stark nach einer billigen Ausrede, aber das habe ich ihm natürlich nicht gesagt. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass sie mich zur Khaji bringen. Ob das mit denen abgesprochen oder einfach ein Versuch ist, mich als Geisel zu verkaufen, kann ich nicht sagen.

Am Leben werde ich wohl erst einmal bleiben, das ist das wichtigste. Aber ich habe schreckliches Heimweh und würde so gerne mit jemandem reden, dem ich vertraue. Kakhali ist nicht sonderlich gesprächig, wahrscheinlich hat sie genauso viel Angst wie ich und will nicht weiter in meine Probleme hineingezogen werden. Immerhin kümmert sie sich jetzt um mein Bein, einer der Dornenstiche von gestern hat sich entzündet und ich bin froh, dass sie daran herumdoktort und nicht Vetter Šwiko.

#

Mein Bein hat sich irgendwie ziemlich verschlechtert, ich hoffe, wir kommen bald irgendwo an, damit ich nicht mehr reiten muss. Ich bin ohnehin nicht der große Reiter, aber jetzt tut es einfach richtig weh und ich habe die Nase voll davon. Außerdem bin ich müde, schmutzig, wundgeritten und habe Angst vor Šwiko und Elithakh.

Ich will einfach nur noch irgendwohin und nicht mehr unterwegs sein.

#

Wir sind heute im Lager der Deserteure angekommen. Elithakh tat sehr überrascht, als ein Spähtrupp von ihnen uns fand und zum Lager brachte, aber ich bin mir sicher, dass er dies von Anfang an geplant hatte.

Immerhin wurde ich überraschend ehrenvoll empfangen. Heerführer Iroš Ketir hat mir sein Zelt und seinen Leibdiener überlassen, einen yistischen Burschen, der nicht viel älter sein kann als ich. Sieht ziemlich merkwürdig aus. Aber das haben Yisti wohl so an sich, mit der hellen Haut und den dunklen Haaren sehen sie irgendwie aus wie Gespenster.

Den Heerführer hatte ich mir anders vorgestellt, man soll eben nicht auf Hoftratsch hören. Er sieht eigentlich ziemlich gut aus, obwohl er ein Yist ist, und er hat sehr gute Manieren und Sprache. Von einem Soldaten erwartet man das ja nicht gerade, vor allem, wenn er ein Untermensch ist. Er scheint bei seinen Leuten wirklich sehr beliebt zu sein. Leider habe ich noch nicht viel mit ihm reden können, weil Elithakh darauf besteht, dass ich mich ausruhe. Viel lieber würde ich mit Iroš oder seinen Offizieren reden und ihnen meine Lage erklären. Die meisten von ihnen gelten ja als Ehrenmänner und in jedem Fall scheinen sie nichts mit meinen Feinden am Hut zu haben, obwohl sie damals Vater den Gehorsam verweitert haben (was ich ihnen eingedenk seines Geisteszustandes kaum verdenken kann, auch wenn sie deswegen alle unter Todesurteil stehen).

Etwas später.

Einer der Offiziere war gerade hier, um mein Bein zu verarzten. Šwiko hat das gar nicht gepasst, aber er hat zum Glück vor den Khaji-Soldaten einen Riesenrespekt, also hat er sich wie befohlen getrollt. Haril Fenan heißt der Offizier und er ist wohl die rechte Hand des Heerführers, ein äußerst gutaussehender Kerl, ich frage mich, warum der nicht irgendwo verheiratet ist und einen angenehmeren Beruf hat.

Zu meinem ziemlichen Ekel hat er zwei Fyari-Maden aus meinem Bein gezogen und es mit einer streng riechenden Salbe verbunden. Im Gegensatz zu Šwiko hat er sich tadellos benommen und war äußerst höflich, das macht mir Hoffnung. Morgen kann ich dann mit dem Heerführer reden. Endlich.

#

Ich habe in einem Bett geschlafen, mich mit warmem Wasser gewaschen (sogar die Haare) und ich trage saubere Kleidung, die mir zwar einiges zu groß ist, aber den Umständen entsprechend durchaus standesgemäß. Sehr soldatisch. Kein Wunder, dass Soldaten immer herumlaufen, als gehöre ihnen die Welt – das ist in dieser Kleidung auch deutlich leichter als mit all dem höfischen Gedöns, über das man ständig fast stolpert.

Elithakh hat mir die Nägel und die Haare gemacht, ich bin jetzt also wieder einigermaßen gesellschaftsfähig. Ansonsten habe ich heute noch keinen von meinen Leuten gesehen. Um Šwiko ist es nicht schade, aber ich mache mir Gedanken um Kakhali. Vielleicht schläft sie sich einfach aus.

Das Zelt ist ziemlich gemütlich. Ich hatte immer gedacht, Zelte seien niedrige, enge, instabile Dinger und fürchterlich unbequem und schlicht, aber das Zelt des Heerführers ist schon ziemlich schick, fast wie ein kleines Haus. Man kann darin stehen und es ist durchaus ansprechend eingerichtet. Es gibt sogar einen Spiegel.

Der Sklave oder Diener oder was er sein mag hat sich hier um das meiste gekümmert, Wasser holen und solche Dinge, er kennt sich ja aus. Er spricht zwar kein Wort, hat aber Elithakh ziemlich schnell klargemacht, wer in diesem Zelt das Sagen hat. Elithakh sieht heute deutlich weniger selbstzufrieden aus als gestern, ich hoffe, sehr, dass es daran liegt, dass seine Pläne mit mir nicht aufgehen. Vielleicht bietet mir die Khaji ja Asyl oder wenigstens Geleit bis nach Thoitheakh.

Haril-tawe war hier, um mir Frühstück zu bringen und sich mein Bein noch einmal anzusehen. Er hat noch eine Made herausgepult und alles frisch verbunden. Ich wollte ihn etwas über den Heerführer ausfragen, aber er scheint leider äußerst diskret zu sein. Elithakh hat dann blöderweise seinen Kopf durchgesetzt und mich weiter zum Ausruhen verdonnert, obwohl ich nichts sehnlicher möchte als rauszugehen und etwas frische Luft und Sonne zu tanken, so kalt es draußen auch sein mag. Stattdessen kann mir Elithakh wieder mit seinem Geheuchele auf die Nerven gehen.

Ich wünschte, Iroš-methya würde endlich zu einem Gespräch vorbeikommen, damit ich meine Lage mit ihm besprechen kann.

Ich fühle mich ziemlich alleine.

Später.

Iroš-methya war eben hier, hat Elithakh äußert höflich hochkant aus dem Zelt geworfen, dass ich mich beinahe vor Schadenfreude schlappgelacht hätte, weil Elithakh keine Form des Protests einfiel. Er ist nunmal ein Sklave und Iroš-methya ist Heerführer und Prinzgemahl, da hat Elithakh nicht mehr viel zu melden.

Endlich konnten wir uns unterhalten.

Ich muss meinen ersten Eindruck von gestern leicht korrigieren: Er sieht nicht recht gut aus, sondern umwerfend, wenn man sich erst einmal an die Züge von Yisti gewöhnt hat. Wenn er nicht mit einem Mann verheiratet wäre, hätte er sicher eine šyukische Frau aus etlichen Bewerberinnen auswählen können. Außerdem scheint er ein recht humorvoller Kerl zu sein und er legt Wert auf eine tadellose Erscheinung. Ich habe noch nie einen Soldaten gesehen, der so anständig frisiert war. Ich hatte Elithakh ja angemault, weil er über eine Stunde an mir herumgewerkelt hat, aber eben war ich doch ganz froh, dass er mein Erscheinungsbild etwas salonfähiger gemacht hat. Ich hätte ungern mit halb aufgelösten Zotteln mit Iroš-methya gesprochen.

Ansonsten war er die reine Höflichkeit. Nein, halt, das gibt einen falschen Eindruck – er war höflich, aber nicht oberflächlich. Ich habe ihm von den Ereignissen daheim erzählt und von der Reise, und schließlich sogar von Šwikos Annäherungsversuchen und meinem Verdacht gegen Elithakh. Er scheint mich trotz meiner Jugend ernstzunehmen und ist gerade gegangen, um sich mit seinen Offizieren zu besprechen. Vor dem Zelt stehen nun zehn Khaji-Soldaten, was ich ziemlich beruhigend finde. Die acht Männer von Šwiko und Elithakh sind jedenfalls verschwunden. Der stumme Yist räumt hier gerade auf und findet Elithakhs Versuch, sich einzurichten, offensichtlich blöd. Er wird mir immer sympathischer.

#

Nach einer zweiten Nacht in halbwegs zivilisierter Umgebung fühle ich mich schon deutlich besser. Es gab auch keine neuen Maden mehr in meinem Bein, mir haben die drei auch dicke gereicht (das sagt man hier so: dicke dies, dicke das. Ist Soldatisch. Jawoll). Ich hatte noch nie so eine schlimme Verletzung, das sieht nicht nur eklig aus, sondern tut auch echt weh. Nach dem Frühstück, das mir wieder Haril-tawe brachte, wollte ich eigentlich das Lager erkunden, da er mir seine Begleitung anbot, aber ich kam nicht weit, weil mir das blöde Bein wehtat. Bei jedem Schritt. Ausgesprochen lästig.

Also habe ich noch nicht viel gesehen, nur dies: es ist ziemlich groß. Das ist schon fast eine Stadt. Ich dachte mir, für eine khaji von Menschen braucht man nicht viel Platz, wenn man sie zu zweit in Zelte verfrachtet, aber da habe ich auch nicht bedacht, dass ein Drittel von ihnen auch Pferde hat und dann gibt es die Diener und Sklaven, und außerdem die Ausreißer und Streuner, die ständig hier herumlungern und auf Arbeit hoffen. Ich vermute, dass ein großer Teil von ihnen bei Bedarf auch als Prostituierte arbeitet, da auch ein gewisser Teil Frauen darunter ist und ziemlich viele heruntergekommene, aber nicht hässliche Jungen. Naja. Sowas muss es in einem Armeelager wohl auch geben. Ich kann mir allerdings nicht vorstellen, dass es für die Moral der Truppe sonderlich hilfreich ist.

Jetzt sitze ich in der Mittagssonne vor dem Zelt und schreibe mein Tagebuch, so gut das eben geht, wenn man unter einem ganzen Berg Decken begraben ist, weil Elithakh befürchtet, ich könnte in der ungewohnten Umgebung krank werden. Ich war noch nie krank. Jedenfalls nicht, soweit ich mich erinnern kann.

Elithakh nervt.

Ach ja, und ich habe zwei neue Suffixe gelernt. Man sollte ja meinen, dass man als Kronprinz nach ein paar Jahren alle gängigen Anredesuffixe kennt, aber in Punkto Militär hat meine Erziehung versagt. -tawe ist die Anrede für einen Offizier, und -methya für den jeweils ranghöchsten Offizier der Truppe. Im Fall der Khaji also für Heerführer Iroš Ketir. Normale Soldaten bekommen kein eigenes Suffix, außer halt -še wie der Rest der Welt.

Später.

Iroš-methya hat mich zum Mittagessen eingeladen. Er wohnt jetzt wegen mir im Zelt von Haril-tawe, das auch ausgesprochen geräumig ist, wenn auch weniger stil voll eingerichtet als das des Heerführers.

Es gab ein Ragout und dazu irgendwelche gekochten Wurzeln – schmeckte eigentlich ziemlich gut.

Und ich darf vorerst im Lager bleiben, den Göttern sei Dank. Iroš-methya hat mir zugesichert, dass ich unter seinem persönlichen Schutz stehe und wir erst einmal abwarten werden, wie sich die Dinge daheim entwickeln. Thoitheakh hält er für nicht sicher, da hat Elithakh wohl doch nicht gelogen. Ich habe Iroš-methya gesagt, dass ich seine Gastfreundschaft sehr gerne annehme, denn ich weiß nicht, wo ich einen besseren Unterschlupf finden könnte. Swarhi wäre wohl ein Anlaufpunkt, aber meine Verwandten dort kenne ich nicht, und da haben sowieso immer alle nur Politik im Kopf und verschachern für Ämter ihre Kinder, sagt man. Immerhin ist es die Thekhal-Hochburg schlechthin, also stimmt es wahrscheinlich. Pfuh.

Iroš-methya hat gesagt, dass er sich selbst nicht als Deserteur sieht, da er nicht gegen meinen Vater agiert, sondern nur inakzeptable Befehler verweigert hat, wie es dem Heerführer der Khaji anscheinend zusteht. Er sagte aber, er sehe es absolut als seine Aufgabe als Heerführer an, für die Sicherheit des Kronprinzen zu sorgen. Sehr beruhigend!

Ich bin gerade wieder im Zelt, weil Schnee fällt und Haril-tawe und Iroš-methya sich um ein paar Dinge kümmern müssen. Sobald das Wetter besser ist, werden Elithakh und Vetter Šwiko mitsamt ihren Soldaten fortgeschickt. Was für eine Erleichterung!

Elithakh ist gerade am Durchdrehen deswegen und regt sich fürchterlich über diesen „Übergriff“ auf. Der Heerführer dürfe meine Wünsche nicht auf diese Art ignorieren. Dass sich unsere Wünsche in diesem Bereich decken, habe ich ihm lieber nicht gesagt, sonst kommt er noch auf dumme Gedanken. Außerdem weiß ich, dass Iroš-methya ihm und Šwiko nicht wenig zahlen wird, offiziell als Entlohnung ihrer Bemühungen zu meinem Schutz. Aber wahrscheinlich ist es dennoch drastisch weniger, als die beiden sich erhofft hatten. Mir soll es recht sein.

Kakhali wird bleiben. Sie versucht gerade, meine Kleidung zu waschen und wird sie danach umschneidern, damit sie etwas alltagstauglicher wird. Außerdem ist Kakhali im Frisieren noch geschickter als Elithakh, der beim Kämmen immer so grob ist. Und sie ist ein bisschen Zuhause. Ich bin froh, dass sie es von sich aus angeboten hat. Schließlich wird es für sie deutlich unangenehmer, als wenn sie sich um eine Anstellung in einem netten Haus bemüht hätte. Hier gibt es außer den Huren auch keine anderen Frauen, mit denen sie reden könnte. Ich bin ihr sehr dankbar, dass sie trotzdem bleibt.

Hoffentlich kann ich bald nach Hause.

Kleiner Exkurs zu den Suffixen

Ja. Das muss sein.

Es ist durchaus üblich, auch in Abwesenheit von Leuten das für sie passende Suffix zu verwenden, wenn man über sie spricht. Mešúr ist gut erzogen und macht das auch bei den Offizieren, wie man sieht. Daran kann man sehen, dass er ziemlichen Respekt vor ihnen hat und sich noch nicht vertraut genug fühlt, bei privaten Notizen über sie einfach nur die Namen zu verwenden (wenn er kein Suffixe verwendet, benutzt er ja z.B. den Titel Heerführer, das hat einen ähnlichen Effekt). Er kann sie aber offensichtlich gut leiden, da er nur noch den Erstnamen mit Suffix benutzt und nicht mehr die vollständigen Namen, was mehr Distanz schaffen würde – obwohl er im direkten Gespräch momentan garantiert noch beide Namen plus Suffix benutzt, zumindest bei Iroš Ketir. Haril Fenan hat ihn immerhin ärztlich behandelt und es kann gut sein, dass es darüber wirklich zum schlichten Haril-tawe gekommen ist, zumal Haril niederer Adel ist (er stammt nicht aus einem der Fünfzehn Häuser).

Anders sieht es bei Mešúrs eigenen Leuten aus. Die beiden Sklaven Elithakh und Kakhali bekommen im Tagebuch kein Suffix, obwohl er sie garantiert mit einem anspricht. Das gängige Suffix für eigene Sklaven ist -ne, da Elithkah aber ein Vertrauter von Mešúrs Vater war, wird er ihn wie dieser wohl eher mit -súra ansprechen – Anreden können sich vererben. Daran ändert auch nichts, dass Mešúr Elithakh nicht ausstehen kann und ihm misstraut, er wird trotzdem das in der Familie verwendete Suffix benutzen. Im Gegensatz dazu bleibt Kakhali mit Sicherheit -ne, obwohl er sie sehr gern hat, denn erstens ist sie eine Frau und ein -súra könnte als Indiz für eine Affäre gewertet werden, und zweitens steht sie als einfache Haussklavin weit unter dem hochqualifizierten Elithakh und darf somit nicht mit einem gleichwertigen Suffix angesprochen werden wie er.

Šwiko Meška ist als Verwandter so ein Ding. Dass Mešúr ihn mit Šwiko anredet, zeigt schon, dass er ihn ordentlich auf Distanz hält; unter Verwandten benutzt man sonst recht rasch den intimeren zweiten Namen. Die Benutzung beider Namen, die die größte Distanz schafft, traut er sich wohl nicht, denn dann wäre Šwiko zu recht ziemlich eingeschnappt. Zudem schreibt er ihn konsequent als „Vetter Šwiko“ an, benutzt also quasi Titel mit Namen, was ebenfalls die größtmögliche Distanz ausdrückt, da Suffixe um einiges gängiger sind als Titel (man sieht ja, dass er die Offiziere mit ihren Suffixen anspricht, sobald er diese gelernt hat – ganz einfach, weil sie ihm sympathisch sind). Es gibt durchaus ein Suffix für entfernte männliche Verwandte, also Cousins, Onkel und dergleichen, nämlich -heydhi; aber obwohl er dies garantiert bei Gesprächen benutzt, schreibt er es bei privaten Notizen nicht auf, weil er den Kerl wirklich sowas von gar nicht leiden kann (wer kann es ihm verdenken).

Übrigens hat es so ein Kronprinz mit den Suffixen auch verflixt schwer, weil er für alle das passende rauskramen muss. Normalerweise kann er nämlich, wie er selbst schreibt, so ziemlich alle mit -še, also als niedriggestelltere Leute, anreden. Aber die Leute sind verständlicherweise ziemlich pissig, wenn z.B. Iroš Ketir mit dem selben Suffix angesprochen wird wie die Kleidersklavin, also gibt es als Alternative nichtwertende Suffixe, die eher Titeln entsprechen. Damit drückt man einen gewissen Grad von Respekt aus und bleibt dennoch auf Distanz.

Mešúr selbst ist übrigens für alle Anwesenden Šwithan Mešúr-ahanš. Auch für seinen Vetter Šwiko. Schließlich hat er ihm garantiert noch nichts anderes angeboten – möglich wären z.B. Šwithan-ahanš oder für vertraute Verwandte auch Mešúr-ahanš. Bis das kronprinzliche -ahanš fällt und durch ein normaleres Suffix ersetzt wird, muss schon so einiges passieren – Blutsbrüderschaft, feste Beziehung, vor dem sicheren Tod retten oder ähnliches.

Einleben

Heute ist der vierte Tag im Lager der Khaji. Gerade eben sind Elithakh und Vetter Šwiko mitsamt ihren Soldaten ziemlich wütend abgezogen. Ich muss gestehen, dass ich nicht besonders traurig bin – einerseits. Andererseits tut mir Elithakhs Verhalten weh. Ich kenne ihn, seit ich auf der Welt bin, er hat mir das Lesen beigebracht und Familienhistorie und meine Lieblingsfrisur und noch ganz viele andere Sachen. Er war einfach Elithakh und immer da, und jetzt ist er weg, weil er sich richtig blöd verhalten hat. Was ist bloß in ihn gefahren?

Um Vetter Šwiko ist es nicht schade. Seine Herkunft scheint wirklich nicht die beste zu sein, denn kein Ehrenmann hätte sich so verhalten wie er. Es stimmt also wohl doch, was man sich über die Weststadt erzählt. Hoffentlich muss ich da nie hin…

Aber das Problem habe ich erst einmal ohnehin nicht, weil ich nicht zurück nach Hause kann.

Seufz.

Aber es ist ja nicht alles schlecht. Mein Bein verheilt gut und ich esse jeden Abend mit Iroš-methya und Haril-tawe in deren Zelt, und das Essen ist erstens immer durchaus lecker und zweitens sehr informativ. Ich bin jetzt voll informiert über die Befehlsstrukturen innerhalb der Khaji, über die jüngere Geschichte der Truppe (so die letzten 40 Jahre etwa) und über ein paar Lebensgeschichten der Offiziere. Über Iroš-methya erzählt man sich ja so einiges, aber der Rest ist außerhalb der Khaji ziemlich unbekannt. Nur Haril-tawe hält sich bedeckt, aber Iroš-methya hat angedeutet, dass er in jungen Jahren wohl an einer der Bühnen in Šyuk war.

Überhaupt scheinen relativ viele ehemalige Tänzer oder Schauspieler hier einen neuen Lebensabschnitt angefangen zu haben. Iroš-methya meint, wenn er neue Mitglieder für die Khaji rekrutiert, fragt er in den Truppen immer zuerst nach ehemaligen Tänzern, die sich als Soldaten bewährt haben. Er meint, das Tanztraining der Hohen Schule und sogar der Thokh-Bühne sei so hart, dass sich die Männer das Nörgeln abgewöhnt hätten und ausgesprochen genügsame Soldaten abgäben, was für die Khaji von Vorteil wäre.

Ehrlich gesagt kann ich mir das nicht so recht vorstellen. Tanz ist schließlich Kunst, kein Kampf.

Kakhali und Iroš-methyas Diener Khomiy kümmern sich jetzt um mich, außer ihnen dürfen nur Iroš-methya und Haril-tawe ins Zelt, und die zwei nur für kurze Besuche. Es geht also alles äußerst anständig und sittsam vor, kein Grund zur Klage. Nur sehe ich deutlich mehr Leute als zuhause im Palast, wenn ich nach draußen gehe. Ungewohnt, aber nett – ich muss mich erst an den Trubel gewöhnen, aber ich glaube, das schaffe ich. Wenn die nur nicht alle so laut wären… Normale Gespräche scheinen verpönt zu sein, die rufen sich ständig über zwei Zelte oder auch über zwanzig hinweg Sachen zu, die zum Teil so persönlich sind, dass ich sie daheim nicht einmal Elithakh erzählt hätte.

Zum Beispiel streiten sie sich ziemlich oft über gewisse Jungs oder Mädchen und Frauen aus dem heruntergekommenen Haufen. Man stelle sich vor, dass Affären und deren Untreue daheim öffentlich auch nur gewispert worden wären! Und hier brüllen sie das heraus, beschimpfen sich deswegen und vertragen sich anschließend, indem sie etwas saufen, bis einer der Offiziere dazwischengeht und sie zur Ordnung ruft – und das in ziemlich kumpelhaftem Ton, so dass ich mich frage, warum die Männer überhaupt hören.

Aber es scheint zu funktionieren: Bisher habe ich hier noch keine Prügelei gesehen. Irgendwie verstehe ich nicht, wie diese Truppe funktioniert.

#

Iroš-methya hat mir erzählt, dass Haus Thekhal mir in Swarhi Asyl angeboten hat. Ich bin jetzt etwas verwirrt. Es wäre wohl absolut angebracht, das Angebot dankend anzunehmen und zu Alšog Thekhtas Familie aufzubrechen – ein Geleit von Khaji-Soldaten wurde mir versichert, falls ich diesen Weg einschlagen möchte. Was ich tun sollte. Rein aus Sitte und Anstand und so.

Andererseits verspüre ich keinerlei Lust, schon wieder eine nervenaufreibende Reise auf mich zu nehmen, bei der ich ständig rechnen muss, dass irgendwo ein Attentäter auf mich lauert. Es scheint uns niemand bis hierher gefolgt zu sein – die Soldaten sind täglich auf weitläufiger Patrouille – aber wer kann das schon garantieren?

Außerdem bin ich ziemlich stinkig, weil meine eigene Familie in Swarhi NICHTS von sich hat hören lassen. Feiger Haufen. Immerhin weiß ich jetzt, was ich von denen zu halten habe.

Haril-tawe hat angeboten, mir etwas Reitunterricht zu geben, wenn mein Bein völlig verheilt ist. Ich habe angenommen. Der Ritt hierher war anstrengend, peinlich und beängstigend, ich konnte nur froh sein, dass mein Pferd meistens einfach hinter Vetter Šwikos hergelatscht ist. Wenn ich mal König bin, will ich aber an der Spitze reiten können!

Iroš-methya hat gemeint, falls ich mich zum Bleiben entschiede, könnte es ziemlich lange dauern, bis ich die Khaji wieder verlasse. Ich fürchte, da hat er recht – es hat einfach keinen Sinn, nach Thoitheakh zu gehen. Hier bin ich weitaus sicherer. Ich werde es mir bis morgen überlegen, und falls ich bleibe, muss ich mit Iroš-methya irgendeine Vereinbarung bezüglich seines Zeltes treffen. Ich kann ihn doch nicht wochenlang aus seiner Wohnung schicken, als Notlösung ist das akzeptabel, aber ich fände es ehrverletzend, ihm das noch länger zuzumuten und ihm obendrein auch noch seinen Diener zu stehlen (obwohl er sich mit keiner Silbe beklagt hat, und Khomiy scheint durchaus fähig zu sein, uns beide zu versorgen).

#

Ich habe das Asyl bei den Thekhal abgelehnt. Ich weiß nicht, ob das besonders klug war, aber ich habe mich hier gerade so schön eingelebt und will nicht schon wieder durch die Gegend reiten, bis mir der Hintern wehtut und mein blöder Gaul stolpert und ich wieder in Dornen falle. Ich will einfach mal meine Ruhe haben. Also bleibe ich hier. Hoffentlich habe ich mich im Ton gegenüber Alšog Thekhta nicht zu sehr vergriffen; ich fürchte, ich war viel zu höflich und jetzt ist mir das ziemlich peinlich…

#

Haril-tawe hat mir heute meine erste Reitstunde gegeben! Ich habe doch gewusst, dass ich keine Ahnung habe, was man eigentlich auf Pferden so tun soll. Aber er ist ja ein sehr charmanter Kerl und hat es geschafft, mir klarzumachen, dass ich völlig planlos bin, ohne dass ich dumm aussah. Man sollte ihm mal vorschlagen, Diplomat zu werden!

Jedenfalls habe ich jetzt gelernt, dass ich die Zügel zumindest aus Soldatensicht immer völlig falsch gehalten habe. Mir soll’s recht sein, jetzt lerne ich eben reiten auf soldatische Art und nicht mehr auf die höfische, denn ehrlich gesagt sieht das, was die Reiter hier machen, viel beeindruckender und lässiger aus. Sogar die Lagerjungen reiten besser als ich – viel besser sogar teilweise. Diejenigen, die sich um die Pferde der Soldaten kümmern, dürfen zur Belohnung immer mal wieder reiten und bekommen sogar manchmal Unterricht. Und das nicht nur im Reiten, ich habe vorhin gesehen, wie zwei Soldaten einigen Jungen Kampftraining gegen haben, so richtig, mit scharfen Schwertern. Ehrlich gesagt war ich ziemlich sprachlos. Ich meine – das sind doch bloß so ein paar Ausreißer, und jetzt dürfen die von den besten Kämpfern unseres Volkes lernen, einfach so, und als Bezahlung waschen sie Wäsche oder kommen für ein, zwei Kupfermünzen mit in ein Zelt…

Ich weiß, dass ich mich wiederhole, aber ich verstehe nicht, wie dieses Heerlager funktioniert.

Und meine Beine tun von der Reitstunde ziemlich peinlich weh.

Später.

Ich habe eine Antwort von Alšog Thekhta erhalten, die mich in meinem Verdacht bestätigt hat, dass ich absolut übertrieben höflich zu ihm war. Jetzt habe ich den Salat. Ich fürchte, ich muss jetzt mit ihm befreundet sein, dabei haben mich alle immer vor den Thekhal an sich und vor allem vor ihm gewarnt. Thekhal ist nunmal eines der Großen Häuser und damit immer unsere ärgste Konkurrenz, und dem werten Ratsherrn kann man glaube ich nicht mal trauen, wenn man seine zwielichtige persönliche Historie ausblendet. Elithakh war ja überzeugt davon, dass er bei den Plänen gegen meinen Vater zumindest nicht ganz unbeteiligt war.

Andererseits glaube ich, dass Elithakh selbst mit drinsteckte. Iroš-methya hat so etwas angedeutet. Ich weiß ja nicht, was er mit Elithakh und Vetter Šwiko besprochen hat, bevor er die beiden weggeschickt hat.

Iroš-methya hat gefragt, ob er seinen Spiegel in Haril-tawes Zelt bringen lassen darf. Naja, was soll ich schon sagen – ist ja seiner. Ich fand es aber schön, so einen großen und auch guten Spiegel in meinem Zelt zu haben. Beziehungsweise in seinem Zelt, das ich benutze, bis – na – wer weiß. Anscheinend gibt es noch keinen neuen Plan, wie ich standesgemäß untergebracht werden kann, ohne dass Heerführer Iroš mit einem seiner Offiziere zusammenwohnen muss.

Nachher bin ich wieder zum Essen eingeladen. Hoffentlich schaffe ich es, mich auf die Sitzmatten zu knien, ohne dass alle merken, wie saumäßig weh meine inneren Oberschenkel tun.

Ich hatte ja schon länger den Verdacht, ein absolutes Weichei zu sein, aber jetzt ist es kein Verdacht mehr, sondern Gewissheit.

Da helfen wohl nur regelmäßige Reitstunden.

Aua.

#

Tante Kelma hat mir geschrieben und dem Boten ein dickes Paket voller Sachen mitgegeben. Wobei die dicke Wolldecke nicht hätte sein müssen, den Platz hätte sie besser mit mehr Zuckerzeug füllen können, oder mit anderen sinnvollen Dingen… aber ich habe mich mächtig gefreut. Leider bin ich jetzt auch ziemlich traurig. Ich würde so gerne nach Thoitheakh gehen und bei ihr und meinem Onkel und den Kindern wohnen. Nichts gegen die Soldaten, sie geben sich ja redlich Mühe, aber sie sind eben keine Familie…

Ich glaube, ich werde nie ein guter Reiter werden. Iroš-methya und Haril-tawe sagen zwar, dass ich mich mache, aber die sind sicher nur höflich – ich fühle mich jedenfalls auf dem Pferderücken immer noch hochgradig inkompetent.

Und bei Haril-tawe, der mir ja Unterricht gibt, weiß ich gerade gar nicht mehr, wie ich mich verhalten soll. Ein paar der Soldaten haben mich gestern nämlich angequatscht (anders kann man es nicht nennen, sie waren mir ja nicht vorgestellt), ob ich denn über die Vergangenheit des Ersten Offiziers Bescheid wüsste. Ich wollte es gar nicht hören, schließlich ist so eine Unterhaltung kaum angemessen, aber die haben sicher darum nicht gekümmert und behauptet, Haril-tawe sei früher Sklave gewesen, und zwar bei niemand anderem als Alšog Thekhta, und dass man gar munkelte, er sei als Kajthšin geboren.

Ich will darauf nichts geben, aber ich kriege es auch nicht aus meinem Kopf heraus. Aber ich kann ja schlecht nachfragen. Sehr unangenehm.

#

Iroš-methya war früher auch Sklave. Gibt es eigentlich irgendwelche normalen Leute in der Leitung der Khaji?

Ich bin heute mit Haril-tawe ausgeritten. Es hat richtig Spaß gemacht, ich habe mich endlich mal nicht völlig unfähig im Gelände gefühlt und wir sind sogar ein Stück über ein Schneefeld galoppiert, und danach konnte ich mein Pferd sogar wieder langsamer machen! Ich glaube, ich lerne glatt noch irgendwann reiten.

Als wir zurückkamen, habe ich einen ziemlichen Schreck bekommen. Es waren nämlich Sangrati im Lager. Anscheinend ist die Khaji mit einigen gemäßigten Kayrs annähernd befreundet oder steht zumindest in engem Kontakt mit ihnen. Ich wusste nicht, dass Sangrati Handel treiben, aber diese hier fungieren wohl als Zwischenhändler – die Khaji handelt mit den Nomaden, da die Städte Deserteure nicht unterstützen, und die Sangrati transportieren dann immer mal Sachen hin und her.

Ich hätte gerne die Sangrati kennengelernt, aber – welch Überraschung – davon wollte Haril-tawe nichts hören und hat mich gleich wieder in mein Zelt gebracht und den Wachen gesagt, dass ich gefälligst drinbleiben soll, bis die Sangrati weg sind. Also ehrlich. Irgendwie wird man als Kronprinz weitaus mehr irgendwo eingesperrt als jeder Sklave! Es ist zum Ausrasten!

Einer meiner Zeltwachen hat eine Affäre, habe ich beobachtet. Der huscht nach seiner Wachablösung immer ziemlich zielsicher zu einem der Zelte, auch wenn er dabei betont unschuldig kleine Abstecher hierhin und dorthin macht. Ich frage mich, warum er nicht öffentlich eine Beziehung führt, das ist hier doch normalerweise kein Problem. Hm.

Und Khomiy, der stille Diener von Iroš-methya, ist in eines der Lagermädchen übelst verschossen. Wenn sie in der Nähe ist, wird er so still, dass man ihn gar nicht mehr hört, nichtmal sein Atmen. Armer Kerl, wie soll so jemand bloß ein Mädchen ansprechen?

Hm. Sage ausgerechnet ich. Ich habe in meinem ganzen Leben noch mit keinem Mädchen gesprochen, mit dem ich nicht eng verwandt war, weil ich sonst keine getroffen habe…

Meine Finger sehen schlimm aus. Meine Nagelbetten reißen ein und ich musste mir die Nägel kürzen, weil ich den Dreck darunter nicht mehr wegkriege. Totale Bauernhände. Gruselig. Und ich hätte gerne ein Fußbad mit Duftölen, ich kriege überall Hornhaut, es ist echt eklig. Und ich bin froh, dass Iroš-methya seinen Spiegel hat abholen lassen, weil ich glaube, dass die Frisuren, die Kakhali mir macht, nicht gerade höfischem Standard entspricht, aber zum Glück kann ich das ja nicht ständig überprüfen (nicht mal beim Abendessen mit Iroš-methya, weil der Spiegel zum Glück hinter einem Sichtschutz steht).

Ich sehe gerade, dass in den Päckchen der Sangrati ziemlich viel Zeugs war, das nach Zeltbau aussieht. Frage: Bauen die jetzt mir ein neues Zelt, oder Iroš-methya?

Ich bin gespannt.

Die Sangrati brechen auf. Dann gehe ich gleich mal raus und frage – falls die Wachen mich rauslassen.

#

Puh, ich komme kaum noch dazu, hier reinzuschreiben. Ich habe jetzt nämlich nicht nur Reit-, sondern auch Literaturunterricht, und ehrlich gesagt ist Fenan-tawe ein weitaus besserer Lehrer als die meisten, die mir zuhause was beibringen wollten. Und er weiß unglaublich viel über diese ganzen alten Texte, die er mich lesen lässt. Ich verstehe von dem Zeug nur die Hälfte, weil die Schreibweise zum Teil sehr merkwürdig ist, einige Buchstaben erkennt man kaum. Außerdem benutzen einige diese Uraltformen von Wörtern, die heute kein normaler Mensch mehr kennt. Ich hatte das zwar mal im Unterricht, aber von können kann keine Rede sein.

Ein paar der Lagerjungen sind dabei, ein Zelt zusammenzuschustern. Iroš-methya meint, je nachdem, wie es hinterher aussieht, ist es für Fenan-tawe, für ihn selbst oder für mich… Ich bin ja mal gespannt.

Außerdem ist Iroš-methyas Bruder zu Besuch gekommen, aber ich habe ihn nur ganz kurz gesehen, und da konnte ich nicht viel erkennen – er sah halt wie jemand aus, der längere Zeit alleine durch Steppe und Gebirge gereist ist, und ansonsten ziemlich yistisch. Nur auffallend klein und dünn, jedenfalls verglichen mit Iroš-methya. Aber vielleicht ist der ja auch auffallend groß und kräftig für einen Yist? Ich kenne mich damit ja nicht aus.

Ich bin ziemlich neidisch, weil ich hier wieder einmal im Zeltschatten unter Aufsicht rumsitzen muss, während hinten auf der kleinen Wiese einige Lagerjungen Kampfunterricht bekommen. Ich finde das unfair. Ich hoffe sehr, dass mich niemand vor meiner Geburt gefragt hat, ob ich Kronprinz werden möchte, denn wenn ich da ja gesagt haben sollte, würde ich mir das nie verzeihen. An dem Tag, an dem ich mal irgendwas alleine tun kann, wird wohl die Welt untergehen…

Aber vor dem Abendessen holt mich Fenan-tawe noch zu einem Ausritt ab. Wenigstens das. Er meint, dass ich als Reiter gut vorankomme. Selbst Iroš-metyha meinte gestern, als er uns nach dem Ausritt erwartete, dass ich langsam glatt sowas wie einen Sitz hätte. Das ist für den Heerführer schon außergewöhnlich lobend, der macht nicht gerne viele Worte. Momentan scheint er auch irgendwie schlecht gelaunt zu sein, die Männer werden heute ganz schön gedrillt und sind den ganzen Tag schon am Üben, Tun, Machen, Putzen, Exerzieren, Reiten und sonstwas. So geschäftig habe ich das Lager noch nie gesehen, jetzt sieht es auch eher nach dem aus, was ich unter einem Armeelager verstehe – halt Soldaten, die soldatische Dinge tun. Mal abgesehen von den paar Männern, die auf der Wiese da hinten mit den Jungen herumalbern.

Seufz.

Die haben’s gut.

Einer meiner Wachen fragte mich gerade, was ich eigentlich immer so schreibe. Dabei schreibe ich ja eigentlich nichts wichtiges, das habe ich ihm auch gesagt. Ich erlebe ja nicht viel. Darauf wurde er ziemlich anzüglich mit Andeutungen dessen, was ich mit ihm erleben könnte. Frecher Kerl. Ich werde mich beim Abendessen über ihn beschweren! Jedenfalls will ich den nie wieder als Wache haben.

Kakhali bittet mich zum Haareschneiden ins Zelt. Muss wohl sein, die Spitzen sehen gruselig aus. Wie schafft Iroš-methya es nur, in dieser Umgebung so gepflegte Haare zu behalten?

Merkwürdiger Kerl.

#

So, endlich mal wieder eine freie Minute für mich…

Also, wo fange ich an? Iroš-methyas Bruder ist schon wieder weg, ich habe ihn kaum gesehen und nur ein paar Mal kurz mit ihm sprechen können. Er wirkte ziemlich niedergeschlagen und abwesend, fand ich. Aber er scheint hier im Lager sehr beliebt zu sein und war früher wohl mal Sänger und ähnliches an den Bühnen. Ich kenne mich ja leider nicht mit Kultur aus, deswegen waren meine Wachen auch ziemlich enttäuscht, dass ich mit seinem Namen so gar nichts anfangen konnte… Aber die haben mir dann eine halbe Stunde etwas vorgeschwärmt, bis ich angemessen drapiert für den Empfang meines Gastes war, von daher bin ich jetzt über Ekhroš Darven einigermaßen im Bilde.

Tja, und mein Gast. Er heißt Thekhvan Althay und ist Alšog Thekhtas zweiter Sohn. Und ein furchtbarer Langweiler. Ich habe mich noch nie so gelangweilt wie in seiner Gegenwart. Ich weiß nicht, wie seine Familie es mit ihm aushält. Wenn er mein Bruder wäre, würde ich darum betteln, in Pflegschaft gegeben zu werden, nur damit ich ihn nicht ertragen muss. Ich habe Iroš-methya schon um Hilfe gebeten, damit ich ihn höflich, aber schnellstmöglich loswerden kann.

Was für ein langweiliger, langweiliger, langweiliger Langweiler!

Aber echt!

Das sagen Soldaten ständig: „Aber echt“. Wenn sie es verstärken wollen, setzen sie noch ein „Mann“ dahinter: „Ich habe schon wieder Wachdienst, immer ich, aber echt, Mann!“ Und wenn sie echt sauer sind, kommt hinter das „Mann“ noch ein „aber auch“. Ich mag Soldatisch. Man benutzt nur gefühlt 50 Wörter für die komplette Kommunikation, und die Hälfte jedes Gesprächs scheint aus „echt“, „aber“ und „Mann“ zu bestehen… Und aus Sätzen, denen der Anfang fehlt, und aus Wiederholungen.

Ich demonstriere:

Aber echt, meine Wachen, Mann, die sind jetzt echt in Ordnung. Nicht mehr so aufdringlich, weißte? Die ersten waren was, aber echt, Mann, aber auch, waren die aufdringlich, echt!

Hm. Vielleicht ein wenig übertrieben, aber ich kriege den Bogen schon noch heraus.

Übermorgen habe ich Geburtstag. Ob irgendjemand hier daran denkt? Vierzehn ist zwar kein wichtiger Geburtstag, aber trotzdem…

Fenan-tawe hat jetzt das neu gebaute Zelt bekommen, allerdings muss er es sich schon wieder mit Iroš-methya teilen, weil der entsetzliche Langweiler ja angemessen untergebracht sein muss. Ein Grund mehr, ihn möglichst rasch loszuwerden. Langsam wird es peinlich. Iroš-methya ist richtig genervt… und er hat noch gesagt, dass ein Mitglied seines Hauses auf dem Weg ist und auch noch eine Delegation meines Hauses. Ich habe ihn gebeten, letztere gleich wegzuschicken, weil ich wetten möchte, dass die mindestens so langweilig sind wie Thekhvan Althay, und wenn jetzt ständig Delegationen von Langweilern hier auflaufen und ich die ganze Zeit herausgeputzt und artig frisiert in meinem Zelt warten muss, bis meine Gäste sich ihrerseits herausgeputzt haben, um mich zu besuchen, schaffe ich es nie auf den Ausritt, den Fenan-tawe mir versprochen hat!

Ich hasse dieses repräsentative Herumsitzen! Ich will endlich wieder Reitstunden! Seit drei Tagen ist der König aller Langweiler hier und ich darf nichts machen, was irgendwie meinem Ruf schaden könnte, hat Iroš-methya angeordnet. Also nichts, das Spaß macht. Außer Tagebuchschreiben, das darf ich immerhin, und zugegebenermaßen ist das auch nicht so schlecht, weil ich sonst vor lauter Reiterei und Lektüre dazu gar nicht komme…

Iroš-methya ist gerade dabei, mir einen eigenen Diener zu organisieren. Schließlich braucht er Khomiy langfristig selbst. Mal gucken, wen er da so auftreibt; das ist ja nicht gerade die perfekte Gegend für Diener, denke ich. Wenn ich Glück habe, bekomme ich einen, der mir heimlich Kämpfen beibringt. Das darf ich nämlich nicht, hat Iroš-methya beschlossen.

Der Mann ist ein furchtbarer Spielverderber. Aber echt, Mann, aber auch!

Vierzehn

Heute ist mein Geburtstag!

Jetzt bin ich vierzehn und fühle mich nicht viel anders als mit dreizehn. Naja, ist ja auch kein wichtiger Geburtstag. Nur, dass es der erste ist, den ich mitten im Nichts mit einer Armee feiere, weil ich außer meiner Tante keine Familie mehr habe.

Irgendwie ist mir nicht so richtig nach Feiern zumute…

Später

Jetzt ist mir doch noch feierlich geworden! Fenan-tawe hat mir ein echtes Armeezaumzeug geschenkt, falls ich demnächst endlich mal wieder in der Zivilisation leben kann und dort ein eigenes Pferd habe. Nichts gegen die höfischen Prunkzäume, aber so ein echter Khajizaum, der sogar mal in einer Schlacht war, das ist doch etwas anderes!

Meine Zeltwachen haben zusammengelegt und mir eine Schachtel voller Kleinzeugs geschenkt – Holzperlen und bunte Schnüre für die Haare und ein paar Knöpfe aus Tierknochen, die sie wohl von Nomaden gekauft haben. Sowas habe ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen. Ich habe Kakhali gleich genötigt, mich damit neu zu frisieren und die Knöpfe an meine Lieblingsjacke anzunähen, damit meine Wachen auch sehen, dass ich ihr Geschenk toll finde – aber echt, Mann, aber auch, so richtig, Mann! Echt!

Iroš-methya hat sich bisher entschuldigen lassen – er hat Besuch von einem entfernten Verwandten bekommen, scheint ein ziemlich wichtiger Mann zu sein, weil er wohl auch heute Abend beim Essen in Fenan-tawes Zelt anwesend sein wird, um mich kennenzulernen.

Hoffentlich schenkt mir Iroš-methya auch noch etwas. Es muss ja nichts tolles sein, aber ich kriege einfach so gerne Geschenke. Außerdem bilde ich mir ein, dass ich den Leuten nicht so unerträglich auf die Nerven gehen kann, wenn sie sich noch die Mühe machen, nette Geschenke für mich auszusuchen. Und ich glaube, dass ich Iroš-methya gewaltig auf die Nerven gehe…

Immerhin hat er jetzt endlich wieder ein eigenes Zelt, weil der König der Langweiler weg ist. Wobei er das Zelt wohl einige Tage mit seinem Verwandten teilen muss, außer er quartiert den wo anders ein. Irgendwie kann der arme Mann nie alleine schlafen – wobei, also, anscheinend schläft er generell nicht oft alleine, allerdings in einem anderen Sinne als den, den ich eben meinte. Das haben zumindest meine beiden Zeltwachen von der Morgenschicht letztens angedeutet, also, dass er wohl öfter die Dienste von einigen Lagerjungen in Anspruch nimmt, und wohl nicht nur zum Stiefelputzen oder Wäsche waschen.

Ähm.

Ja.

Ich denke besser nicht darüber nach. Ist wohl so in einem Armeelager. Hat ja auch niemand nich von den Soldaten ’n Problem mit, ehrlich, kannste wissen. (Ich habe noch mehr Soldatisch gelernt!)

#

So, ich habe endlich gefrühstückt, auch wenn man das zu dieser Tageszeit kaum so nennen kann. Irgendwie wurde das gestern ganz schön spät und ich habe etwas wichtiges gelernt: Ketir-methya weiß meistens, wovon er spricht, und wenn er einem sagt, dass man nicht so viel Wein trinken sollte, dann täte man gut daran, auf ihn zu hören.

Mir ist immer noch schlecht.

Dass ich mich ausgerechnet vor einem so wichtigen Mann wie Kedhan Irlo derart blamieren musste! Ich kann nur hoffen, dass er davon nicht viel mitbekommen hat, weil er auch ziemlich oft seinen Becher geleert hat – oder, wie man auf Soldatisch sagt: „der hat auch muckmäßig was runtergebechert“, hat mir meine Zeltwache Hevya gerade beigebracht. Und ich soll mich „nich im Kopf trullig machen lassen, nur weil’s im Bauch rumpelt, is sich nachher eh wieder Essig“ (letzteres ist auch so ein Standardspruch, der hier ständig herumschwirrt).

Nun, Kedhan Irlo ist jedenfalls der neue Vorstand von Haus Irke. Und damit, irgendwie jedenfalls, ein Kollege. Mir wurde nämlich gestern beim Abendessen klar, dass ich eigentlich Vorstand meines Hauses ein müsste, denn vor mir war es mein Vater und seitdem wurde kein neuer gewählt, also ist es das ranghöchste Mitglied des Hauses, und das ist in diesem Fall der Kronprinz. Allerdings kann ich nicht Vorstand sein, weil ich minderjährig bin. Andererseits kann ich es auch nicht NICHT sein, weil es nämlich sonst auch keiner ist.

Was machen wir jetzt bloß??

Kedhan Irlo jedenfalls weiß ziemlich genau, was er will, das ist klar. Erstens will er Ketir-methya auf seine Seite ziehen und dann zweitens mit der Khaji im Rücken für Ruhe in Šyuk sorgen. Das klingt ja prinzipiell edel, aber es ist klar, dass er sich drittens den Thron unter den Nagel reißen will, bevor ich alt genug für die Königswahl werde. Eigentlich ist mir Politik ja egal, aber ich fand es doch extrem dreist, dass er das mehr oder weniger offen in meiner Anwesenheit bei meinem Geburtstagsessen angedeutet hat.

Hallo?

Das war MEIN Geburtstag, du drotzdusskadeliger Bretze! Aber echt, Mann, aber auch, ehrlich, echt! Mann!

Aber es war ja nicht alles furchtbar gestern. Eigentlich fing es richtig toll an, weil man sich gewaltig ins Zeug gelegt hatte, um mir ein richtiges Festmahl zu bieten: Wachteleiomelett, frittierte Hühnerbrust mit allerlei exotischen Kräutern und dazu ein kräftiges Nussbrot. Hinterher dann noch diverse Leckereien und Fleischküchlein. Für ein Armeelager wahrlich königlich, ich muss nachher dringend noch die Köche ausfindig machen und mich bei ihnen bedanken!

Und davor hat mir Ketir-methya allen ernstes ein echtes Khaji-Schwert geschenkt mit einem Brief dabei, in dem er feierlich verspricht, mir Grundlagen des Kämpfens zu vermitteln, damit ich mich selbst verteidigen kann. (Später hat Kedhan Irlo den Brief auch gelesen und ziemlich negativ begeistert dreingeschaut; irgendwie hatte er wohl eher gehofft, dass Ketir-methya ihn unterstützt und nicht mich …)

Also werde ich endlich mal den Lagerjungen gleichgestellt, die die ganze Zeit schon von den Soldaten Unterricht kriegen, und bin nicht mehr das zarte Pflänzchen, das ab und an mal etwas reiten darf. Ha! Meine Zeltwachen waren vorhin auch richtig begeistert, als ich ihnen davon erzählt habe; die meinten, es wurde aber auch Zeit. Recht haben sie! Und sie haben mir auch gesagt, dass Ketir-methya etwa in meinem Alter bei der Khaji als Lagerjunge angefangen und auch von den Soldaten das Kämpfen (und halt auch, ähm, den anderen üblichen Zeitvertreib) gelernt hat, was mich zugegebenermaßen, äh, sagen wir mal schockiert hat. Um es gemäßigt auszudrücken. Ehrlich, sowas erzählt man doch niemandem, der gerade seinen ersten Kater auskuriert… Ich denke lieber nicht darüber nach, nein, nee, is nich.

Also.

Gestern Abend.

Ketir-methya hat mich also begrüßt und beschenkt, dann kam Fenan-tawe mit den anderen Offizieren und schließlich Kedhan Irlo, der mir ein Buch geschenkt hat. Durchaus nett von ihm. Andererseits kann er ja kaum den Kronprinzen an seinem Geburtstag besuchen, ohne ein Geschenk mitzubringen, oder? Ich werde nachher mal schauen, ob es mir gefällt. Ich hoffe ja fast, dass es mir nicht gefällt, weil mir der Schenker auch überhaupt nicht gefällt. Was für ein arroganter Schnösel. Aber das sagte ich oben ja bereits auf Soldatisch.

Dann wurde erst einmal getafelt. Beziehungsweise gespachtelt. Und nebenher wurde natürlich Konversation getrieben, und schon da konnte man gleich merken, dass das ein anstrengender Abend werden sollte: Die Offiziere plauderten natürlich erst einmal über Pferde und Soldaten oder Probleme und Glanzleistungen ihrer Einheiten (die Khaji hat ja zwölf Untereinheiten, und jede Einheit hat einen eigenen Offizier). Bei den Pferden konnte ich immerhin gut mitreden. Dann erkundigte sich Fenan-tawe bei Kedhan Irlo nach den Umständen in Swarhi, worauf dieser auch zunächst antwortete, aber dann ziemlich schnell übelst politisch wurde, dass mir der Kopf schwirrte – viel zu viele Namen von viel zu vielen wichtigen Leuten, mit denen ich nichts anfangen konnte, aber hätte anfangen können müssen.

Allerdings schien Ketir-methya das Ganze äußerst gering zu interessieren, und irgendwann versuchte er dann, das Gespräch wieder auf normale Plauderei zu lenken; aber da hatte Kedhan Irlo schon stark dem Wein zugesprochen und ließ sich kaum noch bremsen. Ab da wurde es unangenehm. Um die rapide abwärts sausende Stimmung besser zu ertragen, habe ich dann auch Wein getrunken, entgegen Ketir-methyas freundlicher privat zugeflüsterter Warnung. Sehr rücksichtsvoll von ihm. Hätte ich bloß auf ihn gehört!

Irgendwann reichte es Ketir-methya dann offensichtlich, er erklärte den Abend für beendet, was sein gutes Recht als Gastgeber war. Ich glaube, außer Kedhan Irlo waren alle ziemlich erleichtert. Die meisten der Offiziere sind recht einfache Leute, niederer Adel oder gar Bürger; die ganzen hochadeligen Bemerkungen des wertgeschätzten arroganten Mistkerls fanden sie ungefähr genauso spannend wie ich.

Ich bin dann schlafen gegangen und wachte nach einer Weile wieder auf, um mich obenheraus in meinen Nachttopf zu erleichtern, und danach hatte Kakhali ein paar Stunden damit zu tun, sich um mich zu kümmern. Arme Kakhali. Besonders angenehm kann das nicht gewesen sein.

Ketir-methya hat gerade Khomiy vorbeigeschickt und bittet mich heute Nachmittag zu sich. Entsetzt muss ich feststellen, dass es schon fast Nachmittag ist, und ich bin noch nicht einmal frisiert. Also höre ich jetzt besser auf und bereite mich äußerlich und innerlich auf die vermutlich zu erwartende Standpauke bezüglich Alkohol vor.

Uff.

#

Ich habe gerade meinen Tagebucheintrag von gestern gelesen und sehe, dass er damit endet, dass ich eine Standpauke befürchtete.

Eine Standpauke klingt himmlisch. Ich wünsche, ich hätte gestern eine ordentliche Standpauke bekommen anstatt dem, was Ketir-methya mir gegeben hat: meine erste Trainingseinheit im Schwertkampf. Mein Kopf tat weh, mein Magen rebellierte, ich war zittrig, mir war schlecht. Und Ketir-methya hat die ganze Zeit breit gegrinst und KEIN WORT über den Wein vom Vorabend verloren. Nichts. Mit voller Absicht. Stattdessen hat er mir dann gezeigt, wie Liegestütze gehen und exorbitante Zahlen genannt, mit denen er wohl andeuten will, dass ich TÄGLICH so viele von den Dingern machen soll (ich hatte erst gedacht, das sei das Wochenpensum…).

Immerhin durfte ich sein Schwert mal halten, er hat mir nämlich damit gezeigt, wie man ein Schwert richtig anfasst. Das muss ich jetzt auch üben, mit so ein paar Schwüngen hin und her. Klingt leichter, als es ist, so’n Ding wiegt beim Schwingen auf einmal ganz schön viel und rutscht in der Hand. Vor allem, wenn die schwitzig ist, weil man sich total verkatert fühlt.

Nachher bekomme ich die zweite Lektion, diesmal geht es um den Stand und Schritte und so. Man gut, dass wir das nicht gestern gemacht haben, ich habe mich schon beim Schwertschwingen fast (wie man so schön auf Soldatisch sagt) nasnach auf die Zähne gepackt.

So richtig gut ist mir immer noch nicht. Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder Wein trinken möchte. Trotzdem habe ich vorhin artig versucht, die Liegestütze zu machen. Geschafft habe ich acht. Gesollt hätte ich dreißig. Ketir-me spinnt, aber echt!

#

Ich komme gar nicht mehr zum Tagebuchschreiben. Irgendwie habe ich immer weniger Zeit, je weniger hier los ist – als ständig irgendwelche Bretzen hier aufgetaucht sind, um mich zu bezirzen, kam ich wenigstens noch zu was, aber jetzt? Hier herrscht totaler Alltag, und ich werde komplett mit eingespannt. Nein, ich beschwere mich ja nicht, dass ich jetzt Kampfunterricht von Ketir-me bekomme oder dass Fenan-tawe ein neues Epos für mich hat, in dem es ordentlich dramatisch und blutig zur Sache geht – aber es ist ungewohnt, so wenig Zeit für mich selbst zu haben.

Ich habe jetzt täglich Reitstunden, meist bei Fenan-tawe, manchmal (leider!) bei Ketir-methya, den ich weitaus lieber als Kampflehrer habe. Da ist er nämlich streng, aber wirklich hilfreich. Beim Reiten habe ich immer den Eindruck, er möchte möglichst viele Begriffe erfinden, mit denen er meine Reitweise lächerlich machen kann. Dabei kann ich weitaus besser reiten als kämpfen – habe ich schon einmal erwähnt, dass ich aus dem Kerl nicht schlau werde?

Zusätzlich zum Reitunterricht übe ich brav meine Liegestütze, auch wenn ich die dreißig noch lange nicht erreiche. Aber ich arbeite dran.

Jedenfalls bin ich abends immer so müde, dass ich gar nicht mehr zum Tagebuchschreiben komme. Aber heute waren Sangratihändler hier, deswegen fiel so einiges aus, und jetzt warte ich auf die Einladung zum Abendessen.

Politisch gibt es nicht viel neues – es kommen zwar ab und an Nachrichten durch, aber immer nur Kampf dies, Mord das, Bürgerkrieg hier und da, und so weiter.

Tante Kelma hat mal wieder ein Päckchen hergeschickt, mjamm, ich sollte wohl ein wenig davon den Offizieren abgeben. Zumindest Fenan-tawe und Ketir-me. Vielleicht die Kekse mit Rosinen, die mag ich ja nicht soooo gerne …

Herrje, das klingt jetzt so missgünstig.

Peinlich.

Nee, die kriegen dann wohl doch besser die kandierten Mandeln. Jawoll.

Ketir-me hat meine Ausdrucksweise getadelt und meint, ich soll aufhören, Soldatenplatt zu lernen. Und das jetzt, wo ich langsam richtige Fortschritte mache! Meine Zeltwachen sind jedenfalls begeistert, aber echt, kannste wissen. Die habe ich langsam auch richtig gern, die ollen Idioten, auch wenn sie mich immer mit allem aufziehen, was ihnen einfällt. Aber die machen das so nett… Seit neuestem verteilen sie morgens Noten für meine Frisur, weiß auch nicht, was ich davon halten soll – mehr als unschicklich ist es definitiv, aber sie meinen es ja nicht so, und irgendwie ist es ja auch schmeichelhaft. Außerdem freut sich Kakhali, wenn ihre Haarnadelakrobatiken mal gewürdigt werden. Ich wollte mich letztens ja eigentlich mal selbst frisieren, aber das erlaubt sie nicht.

Ketir-me war gerade hier, um zu fragen, ob ich ihn bei seinem Morgenlauf begleiten will. „Bei deinem was?“, hab ich gefragt, und dann ziemlich entgeistert erfahren, dass der Mann jeden Morgen vor dem Frühstück zweimal ums Lager läuft. Das Lager ist GROSS! Ja sachma, Dusskarl, haste’n Vetter von Farik im Deetz oder hallo, was, aber echt? ZWEIMAL?? Morgens? VOR dem Frühstück?

Ich habe natürlich ja gesagt.

Falls ich das überlebe, schreibe ich morgen, wie es war.

#

Es ist erstaunlich, wie sehr ein Körper schmerzen kann, der eigentlich noch gar nicht so groß ist.

Ich habe mich vom Reitunterricht, vom Kampfunterricht und sogar vom Literaturunterricht entschuldigen lassen, weil ich nichtmal denken kann, ohne dass mir alles wehtut.

Ich werde definitiv nie, nie, NIE wieder auch nur halb ums Lager laufen.

Ketir-me spinnt nicht nur, sondern ist komplett wahnsinnig und kein normaler Mensch. Da hätte ich eigentlich selbst drauf kommen müssen, weil er ein Yist ist, und denen sagt man ja nach, dass sie doch eigentlich Tiere sind. Aber bei Ketir-me kommt man auf sowas nicht, der benimmt sich ja immer perfekt. Aber normal ist der nicht. Nee. Gar nicht.

Aua.

Sogar schreiben tut weh.

Außerdem will ich zurück ins Bett, weil ich müde bin, aber ich kann ja schlecht einfach tagsüber ins Bett gehen, wie sieht das denn aus?

Ich habe übrigens seit einigen Wochen einen eigenen Diener, weil Khomiy wieder bei Ketir wohnt. Er heißt Yašan und ist anscheinend zum Teil Sangrati, zumindest sind seine Haare irgendwie … rötlich. Aber er scheint aus dem niederen Adel von Swarhi zu stammen, jedenfalls hat Ketir mir versichert, dass er zwar eines Kronprinzen nicht angemessen, aber auch nicht unschicklich ist.

Naja.

Ehrlich gesagt …

Jemand mit roten Haaren ist nicht wirklich hoftauglich. Mitnehmen kann ich ihn nicht, wenn ich jemals nach Šyuk zurückkehre. Aber er ist wirklich sehr ordentlich und gewissenhaft und putzt wie wild. Kakhali dreht schon durch, weil er ständig dort herumräumt, wo sie Ordnung halten will.

Ich glaube, er mag Kakhali ziemlich gerne, weil er ständig in ihrer Nähe herumputzt… Hihi.

Aua.

Lachen tut weh.

Meine Zeltwache Hevya meint, ich sei auch schön baschig im Deetz, gleich mit dem Heerführer laufen zu wollen. Ich habe ihm uneingeschränkt Recht gegeben und ihn gefragt, warum er das nicht vorher gesagt hat. Und was hat der Bretze geantwortet? Grinst und meint „dann hätten wir ja das hier verpasst“.

Grmpf.

Jetzt aber!

Ab morgen trainiere ich Laufen. Jeden Tag ein bisschen. Jawoll. Und in einigen Wochen laufe ich dann mit Ketir-me mit und Hevya kann mir die Stiefel polieren.

Ha!

Wie der dann wohl guckt, hä?

Jetzt müsste ich eigentlich ausspucken, das macht man als Soldat nämlich, wenn man aufgewühlte Emotionen hat und die besonders ausdrücken möchte, aber wenn ich hier ins Zelt rotze, kriege ich ja nicht nur von Kakhali, sondern auch von Yašan Ärger, und das lohnt sich nicht.

Ich mache stattdessen einfach ein X:

X

So.

Aber echt!

#

Ich hatte heute Reitunterricht bei Fenan-yel, Kampfunterricht bei Ketir-me, habe zehn Liegestütze ohne Pause gemacht und bin danach noch sicherlich eine Meile gelaufen. Naja, gut, zwischendurch musste ich etwas gehen, und zwischen den einzelnen Sachen lagen noch Dinge wie Literaturunterricht, Rhetorik und reichlich Briefeschreiben an, aber für einen Tag war das doch wirklich nicht schlecht.

Vor allem, weil mir immer noch alles wehtut.

Aber ich bilde mir ein, dass Ketir-me mich mit sowas wie Respekt angeschaut hat, als ich vorhin zu meinem Lauf aufgebrochen bin. Das alleine war’s wert!

Dafür habe ich mich beim Reitunterricht blamiert ohne Ende. Ich bin ein neues Pferd geritten, nicht meinen braven, faulen Braunen, sondern einen Grauen. Puh. Bei dem hat irgendwie nichts funktioniert, der hat nämlich leider eine Meinung zu den Sachen, die ich von ihm wollte. Das fing schon beim Antraben an, das fand er völlig überflüssig, vom Galopp fange ich gar nicht erst an. Gebuckelt hat er auch einmal, da wurde mir ziemlich flau im Magen. Aber Fenan-yel meint (und er hat ja nicht Unrecht), dass ich auf einem Anfängerpferd nie richtig reiten lernen kann, weil ich damit immer ein Anfänger bleibe.

Kann ja sein.

Aber irgendwie habe ich nichts dagegen, Anfänger zu sein. Es macht doch Spaß, auf einem braven Pferd herumzujuckeln und sich keine Gedanken machen zu müssen.

Seufz.

Nächstes Mal darf ich meinen Braunen auch wieder reiten, aber wohl nicht mehr ausschließlich, sondern ab und zu auch andere Pferde. Hilfe.

Meine Zeltwachen werden immer unverschämter, was meine Frisuren angeht. Ich muss eigentlich mal streng mit ihnen reden, aber ich kann sowas nicht gut. Vielleicht sollte ich Ketir-me bitten, streng mit ihnen zu reden, aber dann verliert er gleich wieder den Respekt, den ich mit meinem Lauf verdient habe. Blöd. Aber die werden wirklich langsam frech. Das geht so nicht. Nee. Echt nicht, Mann, sowas von nicht!

X!

#

Ich schwöre hiermit feierlich, dass ich irgendwann Iroš Ketir bis auf die Knochen blamieren werde. Ich weiß nicht, wie ich das anstellen soll, aber irgendwann werde ich das irgendwie tun. Als Ausgleich für all die Male, wo ich mich wegen seiner Kommentare in Grund und Boden geschämt habe.

So wie heute.

Fenan-tawe war sehr beschäftigt mit Organisiationszeugs, also hat Ketir-methya mal wieder meine Reitstunde übernommen. Ich hasse es, wenn er das tut, weil er so unglaublich negativ ist und ständig an allem herummeckern, was ich mache. Ich weiß ja, dass ich nicht besonders gut reite, aber das muss man mir doch nicht ständig um die Ohren hauen!

Und heute sollte ich mal eben die Reiterprüfung der Khaji machen. Mit einem Sprung. Einfach so. Ich kann gerade mal eben so auf dem Pferd sitzen, ohne ständig versehentlich die Zügel fallen zu lassen oder die Bügel zu verlieren oder sowas, und dann soll ich springen!

Entsprechend katastrophal war es also. Ich bin sogar am Ende runtergefallen, das tat zwar weniger weh, als ich gedacht habe, aber es war peinlich ohne Ende.

Ich sag’s ja: irgendwann blamiere ich ihn!

Davon abgesehen fand er es trotzdem nicht furchtbar und ich darf jetzt Ausritte machen, weil ich runterfallen kann, ohne mich zu verletzen. Ich bin mir nicht sicher, ob das eine Beleidigung oder ein Kompliment ist. Bei Ketir-methya weiß man das nie, der guckt immer gleich, egal, ob er jemandem den Strick oder einen guten Morgen oder baldige Genesung wünscht…

Aber er würde mich ja nicht ausreiten lassen, wenn ich richtig furchtbar reiten würde.

Oder?

Man weiß es nicht.

Ich habe jedenfalls einen blauen Fleck auf der Hüfte. Aua. Allerdings habe ich auch saubere Stiefel, weil Ketir-methya die mir allen Ernstes geputzt hat! Wie gesagt, ich werde nicht schlau aus ihm. Mal denke ich, ich nerve ihn, dann denke ich, er hat mich gern. Vielleicht beides?

Meine Zeltwachen haben mir jedenfalls viel zu gern. Also habe ich Thukha, dem Frechsten unter ihnen, erklärt, dass er mich mal gernhaben kann und dass ich Ketir um eine neue Wache bitten werde, wenn er seine Futterluke nicht endlich unter Kontrolle bringt, kannste wissen.

Er hat ziemlich dämlich geguckt, wurde glatt etwas rot, dann hat er sich entschuldigt. Und seitdem sitzt er artig und still vorm Zelt, nur vier Schritt von mir entfernt, während ich hier Tagebuch schreibe und Kakhali mir die Haare schneidet und frisiert, weil es im Zelt dafür zu dunkel ist.

Ich traue dem Frieden nicht ganz, aber momentan ist er jedenfalls still.

Und Hevya auch. Aber der hat sich auch nie so schlimm benommen wie Thukha.

Ich bin gespannt, wie lange das dauert!

#

Das Lager summt zur Zeit wie ein Bienenstock, und Schuld ist Ketir-mes Bruder, der hier wieder aufgetaucht ist. Da mir mittlerweile auch klargeworden ist, wieso er hier so beliebt ist, wechsele ich mal lieber galant das Thema.

Also wirklich.

Äh.

Ja.

Eben.

Genau deswegen halt.

Ich meine, mal ehrlich, der ist doch durch Adoption ein Ekhdar, also Hochadel. Da kann man sowas doch nicht machen! So mit einfachen Soldaten, meine ich. Wenn der jetzt mit Fenan-yel oder so … wobei … nee, das fände ich auch komisch. Wo doch Fenan-yel und Ketir-me Freunde sind, dass der dann mit dem Bruder …

Ich glaube, ich denke wirklich lieber über andere Dinge nach.

Wobei ich mich ja schon frage, wie das so ist. Meine Erziehung in diesem Bereich war definitiv äußerst lückenhaft. Man kriegt hier zwar im Lager natürlich einiges mit, aber das hat ja mit Wissen nichts zu tun, sondern mit Schmuddeligkeiten. Und ich kann ja auch schlecht irgendwen fragen, ich meine, wen denn?

Meine Zeltwachen? Ganz sicher nicht!

Fenan-yel? Dem wäre das sicher noch peinlicher als mir, oder er denkt glatt, dass ich ihn gutfinde oder sowas, heieiei, nee!

Ketir-me? Der mich schon beim Reiten runterputzt und sich über mich lustig macht? Bin ich irre?

Schade eigentlich, dass ich mit Ketir-mes Bruder immer noch nicht offiziell bekannt bin. Wenn ich mit ihm befreundet wäre, könnte ich vielleicht mit ihm darüber reden. Zumindest scheint er keine Probleme zu haben, darüber zu reden, und kennt meine Zeltwachen Hevya und Kharinsh anscheinend ziemlich, äh, intim. Die beiden haben vorhin darum gewürfelt, wer zuerst sein Glück versuchen darf.

Hast du Worte?!

Wo sind wir denn hier?

Aber eigentlich wollte ich ja das Thema wechseln.

Mir fällt nur leider gerade keins ein.

#

Ich bin mir langsam sicher, dass Ketir-me mich letztes Mal quasi vor seinem Bruder versteckt hat. Oder umgekehrt. Eben wegen – naja – seiner Freizügigkeit. Vermutlich hat Ketir-me Angst, dass er mir Dinge erzählen könnte, die ich nicht hören sollte.

Ich WILL die aber hören.

Manno!

Ich bin fast fünfzehn und weiß immer noch nicht mehr über diese Dinge als mit zehn, abgesehen von den soldatischen Schmuddeligkeiten und Šwiko Meškas Annäherungsversuche, und die waren echt eklig.

Ganz so leichtfüßig scheint Ketir-mes Bruder aber nicht zu sein, meine Zeltwachen hatten wohl bisher kein Glück, und wie es scheint, schläft er auch ganz einfach bei Ketir-me mit im Zelt. Die beiden sitzen viel da drin und reden – das Wetter ist ja auch grauslich, sonst würden sie vermutlich ausreiten.

Eigentlich ist heute Abendessentag mit Ketir-me und Fenan-yel. Mal gucken, ob das trotzdem stattfindet.

Fenan-yel hat mir jedenfalls heute wieder Reitstunden gegeben, wieder auf dem grauen Biest. Ich will meinen Braunen zurück. Wenn ich bei dem was falsch gemacht habe, wurde er im Zweifelsfall einfach langsamer und guckte sich so fragend nach mir um, das war immer so süß!

Der Graue wird dann nur bockig, drängelt gegen das Gebiss oder buckelt sogar.

Fenan-yel sagt, das geschieht mir recht, weil der Braune mir viel zu viel durchgehen lässt und ich deswegen mit den Beinen immer Unfug mache und das nun mit dem Grauen endlich lernen kann.

Trotzdem.

Ich mochte den Braunen! Ich bin jetzt immer ganz eifersüchtig, wenn einer der Lagerjungen mit ihm rumzockeln darf.

Mein Diener Yašan hat Kakhali vorhin ein paar Blumen geschenkt, die er beim Wäschewaschen gefunden hat. Sie hat ihn ziemlich rüde mit „danke“ angefaucht, aber ich glaube, sie hat sich gefreut. Bei Kakhali weiß man das nie. Ich habe Yašan gefragt und er hat gegrinst und gemeint „immerhin hat sie sie genommen und mir nicht in die Fresse gestopft, da ist noch Hoffnung“.

Vermutlich hat er recht.

Vorhin war Khomiy kurz hier und hat ein wenig aufgeräumt. Nun dreht Kakhali völlig durch, dass nicht nur Yašan ihre Ordnung in Unordnung bringt, sondern Khomiy auch noch Yašans Ordnung, die er für Unordnung hält.

Bin ich froh, dass ich nichts ordnen muss außer meinen Gedanken!

#

Ha! Ich habe endlich mit Ketir-mes Bruder geredet, was gar nicht so einfach war, weil ich beim besten Willen nicht weiß, wie ich ihn anreden soll – Ekhroš-še klingt so unfreundlich, aber beim Zweitnamen sind wir noch längst nicht, und suffixmäßig bleibt für ihn auch nichts anderes übrig. Irgendwie ist unsere Sprache sehr begrenzt, wenn man Kronprinz ist. Er hat ja nichtmal einen Titel, den man benutzen könnte.

Egal.

Ich verstehe jedenfalls gar nicht, weswegen Ketir-me mich von ihm fernhalten will. Es ist wirklich nicht so, als sei er prinzipiell unanständig, im Gegenteil, wir haben ganz unschuldig geplaudert, über Pferde, über die Khaji, über Šyuk und alles mögliche. Ich mag ihn jedenfalls. Er redet nicht mit mir, als sei ich ein Kind und auch nicht, als sei ich zu hochwohlgeboren, um normale Dinge zu besprechen. Er hat mir angeboten, mir nach Kriegsende die Stadt zu zeigen. Ich habe dankend angenommen – der kann mir garantiert mehr zeigen als all die Palastdiener, die selbst nie aus der Nordstadt rausgekommen sind.

Ich würde wirklich so gerne mal auf den Kelltakhsmarkt in der Weststadt! Was mir Ekhroš-še da alles drüber erzählt hat, oh ja, das will ich sehen (und riechen, hören und schmecken). Und er war ganz entsetzt, dass ich noch nie in einem Theater war. Und überhaupt.

Ein sehr netter Kerl, wirklich. Kaum zu glauben, dass er Ketir-mes Bruder ist – so umgänglich und freundlich und lustig, so gerade heraus und direkt. Sehr unšyukisch. Gefällt mir. Ketir ist šyukischer als jeder Šyukan, den ich kenne. Der hat es mit der Anpassung an die fremde Kultur wirklich übertrieben!

Alltag

Ich komme echt zu nix mehr hier, kannste wissen, ständig was tun. Vor allem Training, um Ketir-me zu beeindrucken, aber der lässt sich nicht leicht beeinrucken, echt Mann, dabei finde ichs für nen Kronprinzen duckig Jusse, wenn er in jeder freien Minute im Lager rumatzt und Muskeln kriegt und nicht mehr ständig nach kurzer Wetzerei die Lunge rausgöbelt.

Aber nix da, Hochwohlgeboren Heerführer merkt’s anscheinend nicht mal.

Bretze!

Immerhin lobt Fen-yel mich für meinen Einsatz. Und dann eult er wieder, das meine Kalligaphie immer schlechter wird und ich angeblich rede wie frisch aus einer Gosse inner Weststadt entkommen, was vollkommen dusslig ist weil hier kaum ein Junge jemals in Šyuk war. Die komen ja alle irgendwo aus wer weiß wo und manchmal nicht mal daher.

Kann nicht mehr schreiben, muss mit den Jungs los und trainieren. Kakhlali guckt schon wieder so böse, weil ich dabei ständig blaue Flecken und Kratzer kriege und meine Haare unordentlich werden, aber die kann mich echt kreuzweise.

X.

#

Na toll.

Ich bin verletzt, und was ist? Ich werde auch noch ausgeschimpft.

Immerhin hat Ketir-me mich bemerkt.

Und dann hat er mir eine Standpauke der Extraklasse gehalten. Dabei kann ich doch wirklich nichts dafür, Pech hat man halt manchmal, und außerdem ist mein Knöchel ja nicht sooo schlimm verletzt.

Verletzt genug, dass sich eigentlich alle um mich kümmern und mich bemitleiden sollten, das ja. Aber nicht verletzt genug, dass mir was von Verantwortungslosigkeit und Leichtsinn vorgehalten wird.

Und das von dem Kerl, der immer meinte, ich bewege mich zu wenig. Und wenn man dann mal ein wenig Wettklettern mit Freunden macht, ist es auch wieder nicht recht.

Ich erinnere mich noch gut, wie Ketir-me es absolut nicht gut fand, dass ich auf die Lagerjungs herabsehe und keine Freunde in meinem Alter habe – und jetzt sagt er, die Jungs sind kein Umgang für mich, ich müsse an meinen Stand denken und überhaupt sei meine Gesundheit wichtiger als mein Spaß.

Ich möchte den Mann gerade einfach nur noch beißen!

Außerdem hat er mich jetzt zum Tagebuchschreiben verdonnert. Kann man sich sowas vorstellen? Dreimal die Woche soll ich Tagebuch schreiben, damit ich nicht zu einem Wilden verwuchere, wie er sagte. Naja, das sind alle vier Tage ein Eintrag… ich arbeite etwas vor, mit meinem dicken Knöchel kann ich gerade nicht viel anderes machen.

Kakhali-še ist sauer auf mich, weil ich mich verletzt habe.

Ketir-me ist sauer auf mich, weil ich mich verletzt habe.

Fen-yel ist enttäuscht von mir, weil ich mich verletzt habe.

Alle hacken auf mir rum, außer meinen Zeltwachen – auf die ist halt Verlass! Obwohl ich Thukha gehört habe, wie er sagte, dass sie nun endlich mal wieder mehr von mir sehen würden, und das würde sich ja immer lohnen – ich bin mir nicht sicher, wo im Diagramm zwischen unflätig und schmeichelhaft ich diese Aussage anordnen soll.

Fen-yel hat mir ein dickes Buch mit Gedichten gebracht. Immerhin kann ich also etwas lesen. Und Ketir-me hat gedroht, dass er nachher noch kommt, um mir Militärtaktik beizubringen.

Lernen!

Ich bin verletzt!

Ich leide!

Ich wurde ausgeschimpft!

Und nun auch noch pauken?!

Ich glaube, es hackt!

X!

#

Mein Knöchel ist so dick wie meine Faust und bekommt eine äußerst interessante Farbmarmorierung. Wenn ich so daliege und ihn anschaue, ist er interessant. Wenn ich mich bewegen muss, ist er eine echte Plage! Fen-yel meint aber, er will ihn nicht bandagieren, weil das irgendwie das Abschwellen hindern könnte. Ich verstehe ja nichts von Heilkunst. Also habe ich Fen-yel gebeten, mir Lektüre zu besorgen, und nun habe ich zwei dicke Wälzer über Anatomie und einen über Heilkräuter hier liegen, die Fen-yel mir aus dem Lazarettzelt geholt hat.

Die Heilkräuter finde ich total spannend. Zuerst sind da Kräuter gezeichnet und beschrieben, alphabetisch geordnet – zwei Buchstaben habe ich schon durchgelesen. Und im Teil danach sind dann Krankheiten beschrieben und welche Kräuter und Kombinationen dort zur Heilung angewandt werden können. Und hinten ist ein Teil, wo es um Zubereitungsarten geht – trocknen, kochen, frisch anwenden, zu Pulver zermahlen und all sowas. Sehr spannend!

Die Bücher über Anatomie… ich fürchte, die würden mir Alpträume machen. Ich habe da mal kurz reingeschaut und da hatten sie doch tatsächlich ein Skelett aufgemalt, mit Teilen von Muskeln dran. Igittigitt! Ich will doch nicht wissen, wie das alles in mir aussieht! Sonst mache ich mir doch nur Sorgen, was noch alles kaputtgehen kann außer meinem Knöchel.

Auch wenn ich schon gerne wüsste, wie eine Verstauchung oder Zerrung eigentlich funktioniert. Blöd, dass Fen-yel mir das nicht vorlesen kann.

K’tir-me war vorhin hier und hat wie angedroht mit dem Unterricht in Militärstrategie begonnen, und ich muss ja gestehen, dass es interessant war. Es ist jedenfalls weitaus komplizierter als angenommen. Das hätte ich eigentlich wissen müssen, K’tir-me ist ja ein unglaublich schlauer Mann und sicher nicht ohne Grund Heerführer. Gut, ein Grund ist, dass die Offiziere und die meisten Soldaten ihn mögen. Aber wenn er ein schlechter Taktiker wäre, würden sie ihn sicher nicht mögen.

Übrigens finde ich es langsam wirklich nicht mehr angebracht, dass er mich nicht vernünftig anredet. Ich meine, er hält hier Standpauken von wegen mein Rang und angemessen hier und da und Anstand und Würde, und dann redet er mich mit Mešúr-jú an. Wie soll man sich da kronprinzlich fühlen? Fehlt nur, dass er das „úr“ auch noch weglässt, dann klingt er wie meine Tante…

Ich wollte mich dann revanchieren und habe ihn mit K’tir-yel angeredet, aber da wurde er echt ernst und hat mich gebeten, das nicht zu tun, damit niemand irgendwelche Schmutzigkeiten denkt. Und das bei einem -yel! Ich meine, ich rede ja auch Fenan so an, und da denkt auch niemand irgendwas!

K’tir-me ist selbst Schuld. Der hat nämlich wirklich einen schmuddeligen Ruf wegen der Lagerjungs. Fen-yel macht sowas nicht, zumindest habe ich davon noch nichts gehört.

Also bleibt er Ketir-me, auch wenn das sperrig ist. Der Kerl an sich ist ja auch sperrig genug, das passt.

Aber jetzt Schluss mit Tagebuch, Heilkräutern und schlauen Dingen – Fenans Gedichtband wartet, und ich habe heute morgen eine lange Ballade über ein Nomadenmädchen angefangen, das sich in einen Straßenräuber verliebt und ihm nachläuft. Dann wird sie getötet und er schwört Rache, weil er sich schuldig fühlt. Dann wurde es echt spannend, deswegen habe ich erstmal aufgehört, bevor ich mitten im spannenden Teil gestört werde….

#

Nee nee, dass der Straßenräuber in der Ballade jetzt auch noch sterben musste… was ist denn das für eine Ballade? Eine Liebesgeschichte, bei der die beiden nie zusammenkommen und am Ende beide tot sind? Wer kommt denn auf sowas? Der Kerl nennt sich Jelikhai, und von dem lese ich garantiert nie wieder ein Gedicht! So! Zum Glück ist von ihm auch kein anderes mehr im Fen-yels Gedichtband.

Ich empfinde ein gewisses Maß gerechtfertigter Vergrätzung.

(K’tir-me hat gesagt, ich soll mich dringend an meinen Wortschatz erinnern, aber ganz ehrlich – ein zünftiges „Dem dusskadeligen Bretze würd ich gern nen Khrath inne Hose stecken“ entspricht eher meiner Gemütslage.)

Heute habe ich einen Geburtstagsgruß für Fen-yel kalligraphiert. Ist gar nicht so schlecht geworden, auch wenn meine Verzierungen schonmal symmetrischer waren – aber ich habe hier auch keinen Schreibtisch. Und dafür, dass ich auf einem Tablett auf den Knien geschrieben habe, sieht es sehr ordentlich aus. Jetzt muss ich den Gruß nur noch bis zum Geburtstag nächste Woche verstecken.

Und außerdem habe ICH erstmal Geburtstag.

Übermorgen.

Fünfzehn.

Noch ein Jahr, dann bin ich volljährig – und dann erinnern sich bestimmt alle an mich, die jetzt mit anderen Dingen wie Bürgerkrieg, Meuchelmorde und Intrigen beschäftigt sind, und werden versuchen, mich umzubringen.

Ju-chu.

Manchmal wäre ich gerne wieder zwölf.

#

Morgen ist mein Geburtstag.

Ich werde fünfzehn und dabei humpeln.

Wie blöd ist das denn??

Fen-yel hat mir Krücken gebracht, weil ich den Fuß wieder vorsichtig belasten soll. Also stiefele ich nun mehrmals am Tag mit den blöden Holzdingern unter den Armen durchs Lager und versuche, nicht im Matsch auszurutschen. Kein sehr erhebendes Gefühl.

Einen Vorteil hat es immerhin: Die Jungs zeigen sich angemessen beeindruckt davon, dass ich eine echte Verletzung und echte Krücken habe. Da kommt man sich doch gleich ein wenig heldenhaft vor, auch wenn die Verletzung auf Dusseligkeit beruht. Prinzen sind eben nicht zum Felsenklettern geboren. Aber ich HÄTTE beinahe gewonnen! Wenn ich nicht so blöd abgerutscht und die gut drei Schritt tief runtergekracht wäre, wäre ich als erster oben auf dem Felsvorsprung gewesen. Vor Thahi, und der bildet sich ja wer weiß was auf seine Geschicklichkeit ein. Pah! Ich bin GUT!

Oder ich war es zumindest. Ich hoffe, dass mein Fuß wirklich nur verknackst ist. Das kann man nämlich anscheinend nicht wirklich wissen, habe ich vorhin erfahren müssen – wie immer äußerst einfühlsam von Ketir-me. Kann der Mann nicht mal nett sein? Muss er mir sowas sagen? Jetzt mache ich mir wieder Sorgen! Und dann sagt er immer, ich soll mir nicht so viele Sorgen machen!

Was er mir wohl zum Geburtstag schenkt?

Wenn ich mal König bin, werde ich meine Schatzkammer plündern und jeden Soldaten der Khaji und jeden der Lagerjungs beschenken, kannste wissen. Zumindest irgendwas kleines für jeden.

Hm.

Vermutlich wäre es einfacher, den Sold zu erhöhen und die Jungs gesondert zu beschenken. Aber eine Solderhöhung ist so unpersönlich.

Ach, was gackere ich über ungelegte Eier? Falls ich jemals König werde, bin ich eh viel zu beschäftigt damit, das Reich zu regieren und am Leben zu bleiben…

Irgendwie WILL ich gar nicht König werden.

Was wohl wäre, wenn ich das mal offiziell mitteilen würde? Einen Brief an alle wichtigen Leute aus den Adelshäuser schreiben, in dem ich auf den Thron verzichte?

Kann ich das überhaupt? Verzichten?

Hm.

Das muss ich mal prüfen. Fragt sich nur, wer sich mit Staatsrecht auskennt. Irgendein Anwalt oder Rechtsgelehrter wird hier doch rumspringen – ich habe schon ehemalige Weber, Tänzer, Schreiber und Viehhirten unter den Soldaten getroffen, da sollte doch auch ein Anwalt aufzutreiben sein.

Ich werde mal K’tir-yel, äh, -me danach fragen.

Fünfzehn

In ein paar Stunden werde ich fünfzehn, humpele immer noch und bin immer noch Kronprinz. Das muss ich nämlich bleiben, bis mein Haus einen neuen Kronprinzen ernennt oder irgendjemand zum König gewählt wird. Da das im Bürgerkrieg nicht rechtskräftig passieren kann, bin ich weiterhin dran.

Seufz.

Ich meine, ich will ja nicht gleich Lagerjunge werden oder so, aber es gibt bestimmt viele Werdegänge, die angenehmer sind als Kronprinz mit zig Handvoll Todfeinde.

Nicht lustig.

Ich kann nicht schlafen.

Kakhali ist schon ganz genervt, weil ich immer noch Licht anhabe. Die kann bei Licht nämlich nicht schlafen. Aber praktischerweise bin ich Kronprinz und sie meine Dienerin, also kann sie nicht maulen. Manchmal hat es eben doch Vorteile!

Was ich wohl zum Geburtstag geschenkt bekomme?

Ein dickes Paket von Tante Kelma steht in K’tir-mes Zelt, das habe ich gestern zufällig gesehen, als ich vorbeigehumpelt bin und Hallo gesagt habe.

Mir fehlt mein Lagerlauf. Ich habe gerade mal zurückgeblättert und musste doch ziemlich über meine ersten Ertüchtigungsversuche lachen – war ich wirklich so ein Weichei, das keine Liegestütze kann? Ich meine, ich bin ja nicht so verrückt wie K’tir-me, aber morgens einmal locker durchs Lager laufen, ein paar Liegestütze und später noch ein kleiner Ausritt oder eine Reitstunde – das ist ja wohl das Minimum.

Hoffentlich darf ich bald wieder laufen. Fen-yel meint aber, eine Woche darf ich es definitiv nicht und danach müsste man mal sehen. Das sind ja tolle Aussichten.

Seufz.

Naja, ich sollte mal die arme Kakhali schlafen lassen. Es ist bestimmt schon nach Mitternacht. Ich kann ja schlecht bis zu meinem Geburtstag durchschreiben, der Morgen graut ja noch lange nicht.

Also leb wohl, liebe Vierzehn – wenn ich aufwache, bist du weg.

#

Ich habe ja sooooooooo tolle Sachen zum Geburstag bekommen!

Und ich bin viiiiiiel zu betrunken um die aufzuschreiben!

Und ich bin vom Pferd gefallen. Ket-yel hatte recht. Man soll nicht reiten wenn man duselig im Kopf ist. Aber es war totzdem witzig. Auch wenn mein anderer Fuß jetzt auch wehtut.

Hihi.

Deswegen liege ich hier gemütlich und schreibe. Und Kakhali hat mich ausgeschimpft und is weg, weil sie schlafen will, aber ich kann nicht schlafen, weil das alles so toll war heute.

Aber ich vertrage wirklich, wirklich, wirklich keinen Wein. Schade. Das Zeug schmeckt echt gut.

Aaaalso. Meine Zeltwachen haben mir nen tollen Gürtel geschenkt, aus farbigem Leder und mit Zeugs drauf. Sehr hübsch!

Und Fen-yel hat mir meinen Grauen geschenkt. Jetzt hab ich ’n eigenes Pferd! Ha! Nix mehr kleiner Prinz, neeeee, jetzt bin ich fast schon Soldat. Schwert hab ich letztes Jahr ja schon eins gekriegt. Nämlich.

Und kandierte Früchte. Die mampfe ich gerade nebenbei. Mjam.

Und von Ket-yel hab ich Schimpfe gekriegt wegen der Reiterei mit runterfallen und wegen zuviel Wein und wegen nochwas, aber das habe ich vergessen, weil ich da schon ziemlich beschwipst war.

Von den Jungs habe ich ne Flöte gekriegt und Pezhan wird mir Spielen beibringen.

Und vom Wein kriege ich morgen nachträglich garantiert noch einen Mörderkater.

Macht nix.

Ich mag Katzen.

#

Miauuuauauau. Auaaaaa. Maaaaaaann, aber echt, ich esse nie wieder Wein.

Trinke, meine ich.

Piss mir doch einer in die Stiefel, Scheiße aber auch, geht’s mir untergrottig.

#

#

#

(Raute ist wie X, nur mit mehr Inhalt und unfreiwillig. Heute Nacht habe ich einige Rauten in den Nachttopf verfrachtet. Mann, ist mir schlecht.)

#

Jetzt bin ich also fünfzehn.

Guter Vorsatz fürs nächste Lebensjahr: zu meinem sechzehnten Geburtstag gibt es keinen Wein. Bei der Vierzehn war ich betrunken, bei der Fünfzehn besoffen, wenn die Sechzehn nicht in einer Katastrophe enden soll, muss ich nüchtern sein.

Ket-yel K’tir-me wird dafür sorgen, falls ich dann noch hier bin, das hat er gerade versprochen. Allerdings hat er dabei wieder so K’tir-me-mäßig gegrinst, dass ich ihm kein Wort glaube. Zitat: „Andererseits ist es schon recht putzig so.“

Was soll man dazu sagen?!

Hat der Kerl noch nie was von Respekt gegenüber dem Königshaus gehört?

Genau das habe ich ihn gefragt, und was sagt er?

„Meš-jú, mein Ehemann war auch mal Kronprinz und ich bin sogar wahlberechtigt, komm mir also nicht mit Königshaus. Und jetzt wasch dich und schlaf dich aus und sei brav.“

Hast du Worte!

Ich meine, erstens ist es frech und zweitens – wahlberechtigt? K’tir-me? Als Yist? Wie bei Dilwans Unterhosen ist denn das passiert? Das gibt’s doch nicht! Das muss ich unbedingt herausfinden.

Ob Fen-yel mehr weiß? K’tir-me sagt ja immer nichts, wenn man ihn was fragt.

#

Putz mir doch einer die Stiefel und leck sie sauber, aber echt, Mann, aber auch!

Ich muss da erstmal mein Hirnchen drumwickeln, kannste wissen.

K’tir-me hat ja damals sehr jung geheiratet, und zwar – das wusste ich nicht – den damaligen Kronprinzen. Dessen Vater fand das gar nicht knusprig und hat seinen Sohn dann prompt enterbt, verstoßen und obendrein auch noch verbannt, von wegen Skandal und so, Ende der politischen Karriere, wie sowas eben geht. Und bei all der Aufregung hat irgendwie niemand bedacht, dass K’tir-me als Gatte des Kronprinzen dessen Rang teilt, gemäß Standard-Ehevertrag, weil es keine Sonderregelung gab, die man in solchen Fällen normalerweise macht. Also, was heißt schon normal – normalerweise heiratet ein Kronprinz keinen Jungen. Schon gar nicht als Erstehe. Aber wenn man als mächtiger Mann eine Nebenehe mit irgendeinem anderen Mann eingeht, dann schreibt man doch einen anständigen Ehevertrag und beschränkt die geteilten Rechte und all das. Das weiß ja sogar ich, und ich habe weder von Ehe noch von Rechtslehre irgendeine Ahnung!

Naja, jedenfalls hat da niemand dran gedacht, weil K’tir-me gerade erst fünfzehn und obendrein ein Yist und eigentlich der Haussklave war und ihn niemand ernstgenommen hat. So wurde dann weder die Ehe geschieden noch annuliert und niemand hat eine ergänzende Vereinbarung oder einen Nachtrag zum Ehevertrag aufgesetzt.

Und deswegen ist K’tir-me immer noch mit seinem ehemaligen Kronprinzen verheiratet, der zwar seinen Rang verloren hat, diesen aber vorher mit K’tir-me geteilt hat, wodurch K’tir-me mangels Verwandtschaft zwar natürlich nicht Kronprinz werden konnte, aber dennoch genauso wie dieser thronwahlberechtigt ist. Und deswegen heißt K’tir-me auch Iroš Ketir, weil er durch die Heirat Mitglied von Haus Irke geworden ist. Sonst hieße er nämlich ganz yistisch Nyari.

Puh.

Mein Kopf qualmt.

Stell sich mal einer K’tir-me als König vor! Der würde wahrscheinlich jeden Morgen den gesamten Hofstaat zum Dauerlauf rund um den Palast zwingen. Das wäre der fitteste Hofstaat aller Zeiten.

Ich müsste echt mal eine Liste aller thronwahlberechtigten Leute aufstellen, die ich kenne, also außer mir und K’tir-me und Alšog Thekhta und seinen Söhnen, falls Alšog zugunsten einer der Söhne auf seinen Anspruch verzichtet. Der Älteste mit seinem Skandälchen wird’s wohl nicht werden, dann halt der zweite, also –

Huch, das heißt ja, dass der König der Langweiler eventuell thronwahlberechtigt ist!

Ja piss mir doch einer ins Ohr!

Der und König?

Nä!

Dann werde ich’s doch lieber selbst! Das bin ich meinem Land schuldig!

#

Ket-yel hat mir nachträglich zum Geburtstag einen Ausritt geschenkt! Wir sind den ganzen Tag geritten, haben in einem Tal übernachtet und sind dann heute zurückgeritten.

Garantiert werde ich morgen vor Muskelkater nicht laufen können – soviel bin ich noch nie geritten.

Hoffentlich machen wir das demnächst nochmal! Ich weiß, er ist immer viel beschäftigt, aber vielleicht findet er doch ab und an Zeit für sowas. Sonst muss ich mal Fen-yel fragen.

Mein kaputter Fuß ist jedenfalls wieder fit, da war also wohl doch nichts schlimmes dran. Uff! Dann kann ich jetzt ja wieder mit meiner Laufroutine anfangen. Und mehr reiten! Nur mit den Jungs klettern werde ich wohl erst einmal nicht mehr, da hat mich Ket-yel drum gebeten – zu gefährlich. Ganz unrecht hat er ja nicht, wie meine Verletzung bewiesen hat.

Im Land herrscht immer noch Bürgerkrieg. Ich vergesse das ständig, weil es hier im Lager so gemütlich ist. Ich lebe vor mich hin und lasse mich von Kakhali versorgen, tadele meine ungezogenen Zeltwachen, habe Literaturunterricht mit Fen-yel und lasse mich von Ket-yel ärgern. Am liebsten würde ich ja Soldat werden und einfach hierbleiben. Zurück in den Palast will ich jedenfalls nicht mehr. Da durfte ich nie irgendwas machen und nie mit irgendwem reden und hatte den ganzen Tag immer Elithakh an der Backe, der mir sagte, was ich denken durfte. Sowas will ich nicht mehr.

X!

Andererseits geht es so wie jetzt ja auch nicht weiter. Heute Nacht hat sich Ket-yel glatt an mich gekuschelt und als ich ihn dann wütend darauf aufmerksam gemacht habe, dass ich kein Lagerjunge zum Mucken für die Nacht bin, hat er glatt gemeint, mucktauglich aussehen würde ich ja und alt genug wäre ich auch.

Haste Worte!

Dann haben wir uns gestritten.

Zum Glück wieder vertragen.

Aber sowas kann der doch nicht sagen! Echt, Mann! Erstens gehört sich das nicht und zweitens fühle ich mich absolut nicht mucktauglich, kannste wissen.

Nochmal X. Mit Nachdruck.

#

Ich komme immer noch nicht drüber hinweg, dass Ket-yel mich für mucktauglich hält. Vermutlich sollte ich ihn wirklich nicht Ket-yel nennen. Aber Ketir-methya ist so unglaublich förmlich, dafür kennen wir uns viel zu gut. Ich bin jetzt schon so lange hier – obwohl, eigentlich nur etwas mehr als ein Jahr. Ein Jahr und… keine Ahnung. Mir kommt es vor wie mein halbes Leben. Und Ket-yel ist bei aller Sperrigkeit ein unglaublich netter Kerl. Ein Freund halt. So wie Fen-yel. Da wäre es ungerecht, wenn ich ihn anders anrede, nur weil er einen zweifelhaften Ruf in Bezug auf Jungs in meinem Alter hat.

Oder?

Gut, ich gebe zu: In Momenten wie diesen hätte ich wirklich gerne einen Höfling zur Hand, der mich in Etikette berät. Kakhali brauche ich gar nicht zu fragen, die kennt sich zwar ganz toll mit Frisuren raus und wie man Flecken aus Kleidung entfernt, aber ihre Kompetenz beschränkt sich eben auf das Häusliche. Obwohl sie konsequent über mein Benehmen und meinen Umgang meckert, und der Ausritt mit Ket-yel hat sie richtig wütend gemacht. Wie eine Glucke, der man das Ei wegnimmt.

Ich glaube zumindest, dass Glucken wütend werden, wenn man Eier wegnimmt.

Tun sie das?

Hm. Ich muss wohl mal anfangen, etwas über Hühner zu lernen, und nachher zum Hühnerpferch gehen. Komisch. Da haben wir Hühne hier, ich esse regelmäßig ihre Eier und manchmal auch Hühnerfleisch, aber ich habe keine Ahnung, wie sie sich benehmen und ob sie für Eier elterliche Gefühle entwickeln.

Kakhali benimmt sich jedenfalls wie das perfekte Bild einer Tante, die meine moralische Entwicklung überwachen soll. Vielleicht hat Tante Kelma sie ja entsprechend gebeten, weil sie selbst es nicht machen kann?

Ups. Tante Kelma. Der sollte ich wohl dringend mal wieder schreiben! Ich vergesse das ständig. Ich habe mich nicht einmal für das Süßigkeitenpäckchen zu meinem Geburtstag bedankt!

Ich brauche wohl wirklich moralische Leitung.

Den Brief schreib ich gleich nach dem Tagebuch.

Aber nochmal zum Thema mucktauglich: Pežor kam heute morgen aus Ket-yels Zelt. Was soll ich denn davon halten? Das ist mein Kumpel! Gut, sollte er nicht sein, weil er ein Kajtšin ist, aber hier geht sowas halt. Ist ja nicht der Palast. Aber trotzdem finde ich es nicht gerade fein, dass Ket-yel mit Pež-yel… nee! Ehrlich! Da mag ich gar nicht drüber nachdenken! Das ist … merkwürdig. Und ehrlich gesagt, nichts gegen Pež-yel, aber er ist weder besonders ansehnlich noch besonders luffig im Deetz. Er weiß eine Menge über Pferde, er ist zuverlässig und er ist verflixt nett, wenn er möchte, aber irgendwie ist er so gar nicht Ket-yel kompatibel.

Ich meine – Ket-yel ist bestimmt einer der schlauesten Männer im ganzen Reich. Das sagen alle hier im Lager. Jeder hat enormen Respekt vor ihm, weil er so clever ist. Wie sagte neulich meine Zeltwache Thukha? „Dafür, dass er so enorm gebildet ist, ist er echt verdammt schlau geblieben, das ist selten!“ Ich bin ja auch ziemlich gebildet. Leider. Aber langsam werde ich auch ein wenig schlauer, denke ich.

Jedenfalls ist Ket-yel enorm schlau. Und sieht auch echt gut aus. Ich meine, ehrlich – bei dem stehen die Jungs doch praktisch Schlange. Die Frauen haben es ja alle aufgegeben, aber die würden mitmachen beim Schlangestehen, wenn sie irgendeine Chance hätten.

Und dann ausgerechnet Pež-yel?

Naja, ich nehme an, sie können sich prima über Pferde und Reiterei unterhalten.

Aber nach meiner Vorstellung passt bei … zu solchen Gelegenheiten eher ein Gedicht oder irgendwas mit Philosophie und Gefühl und so. Keine Diskussion über Sattelgurte und das Für und Wider vom Hobbeln. Ich meine, ehrlich: „Ich finde ja, wir sollten die beiden Füchse mal mit Ledergebiss statt Eisen ausprobieren, vielleicht gehen sie dann weniger gegen die Hand. Mucken wir jetzt?“ – was ist denn das für ein Vorspiel?

#

Ich glaub’s noch nicht recht, aber ich habe gerade mit Pež-yel über Ket-yel geredet. Wie erwartet meint Pež, ich wäre komisch, dass ich mir überhaupt Gedanken mache. Das würden schließlich alle tun, da denke man nicht drüber nach.

Offensichtlich bin ich also niemand.

Als ich ihm dann sagte, man könne doch nicht einfach so mit irgendwem zwischen die Laken huschen, nur weil’s gerade nett ist, schaute er mich an wie ein Röstbrot und meinte nur „Wieso nicht?“.

Was soll man darauf antworten?

Und dann ging’s weiter: „Wenn ich gewusst hätte, was die Offiziere einem Leckereien und Wein rübertun, dann wär ich gar nicht erst mit den Soldis für’n paar Kupfer mitgegangen.“

Vielleicht ist er wirklich nicht der richtige Umgang für mich.

Obwohl er ein guter Freund ist. Glaube ich. Ich bin ja nicht gerade die geballte Kompetenz, was Freundschaften mit Gleichaltrigen angeht.

Aber mir stinkt’s gewaltig, dass er mit Ket-yel… nee, das finde ich wirklich nicht in Ordnung!

Mal was ganz anderes: Nicht alle Hühner reagieren aufs Wegnehmen der Eier. Ich habe da heute ein Experiment gemacht: drei von vier Hühnern wurden sauer, aber eins nicht.

Ich schätze aber, das ist nicht repräsentativ für das Huhn als Gattung an sich.

#

Manchmal überraschen einen Leute ja. Ketir hat mich nicht ausgelacht, als ich ihm gesagt habe, dass ich ihm sein Verhältnis mit Pež-yel ein wenig übelnehme. Er sagte, da hätte er ja gar nicht drüber nachgedacht, dass das für mich komisch sein könnte, und das würde er nun nachholen.

Nett von ihm.

Außerdem hat er zugegeben, dass Pež-yel vermutlich nicht der richtige Umgang für mich ist, falls ich vorhabe, nach Ende des Bürgerkriegs nach Šyuk zurückzukehren und dort Richtung Thron schiele. Allerdings glaube ich nicht, dass ich das tue, von daher ist es eigentlich auch egal.

Oder?

Der Bürgerkrieg liegt mir im Magen. Ich vergesse den ständig. Dabei ist das der Grund, warum ich hier bin – das ist ja kein Abenteuer hier. Ich bin im Exil, weil ich in Lebensgefahr schwebe. Komisch irgendwie, dass man das ständig vergisst! Aber hier passen alle so gut auf mich auf, dass noch nie etwas vorgefallen ist. Seit ich hier bin, ist die größte Gefahr meine eigene Blödheit, der ich dann verknackste Knöchel verdanke. Meine Zeltwachen sind zwar immer noch frech und machen Andeutungen, aber sie würden davon ja nie etwas in die Tat umsetzen, die brauchen wohl einfach ein Gesprächsthema. Muss ja auch echt langweilig sein, so als Zeltwache. Immer rumsitzen und warten, dass weiterhin nichts passiert.

Ketir meinte auch, wenn ich nicht Kronprinz sein will, dann soll ich damit aufhören. Zwingen könne mich niemand. Interessanter Gedanke. Ich dachte, dass das rechtlich eindeutig ist, aber Ketir meint, keiner würde mich als Kronprinz betrachten, wenn ich verkünde, keiner zu sein und eine Schneiderlehre beginne. Nicht, dass ich Schneider werden will, aber das hat er als Beispiel genannt, wie ich allen glaubhaft machen kann, dass ich mit dem Kram nichts mehr zu tun haben will. Sein eigener Ehemann hat ja drastischerweise zur Illustrierung dieser Ansicht seinen Sklaven (also Ketir) geheiratet, weil sein Vater ihm vorige Bekundungen nicht geglaubt hat.

Dann hat er’s geglaubt.

Ich hoffe nicht, dass ich irgendwelche Sklaven heiraten muss…

Und ehrlich gesagt weiß ich immer noch nicht, ob ich wirklich kein Kronprinz mehr sein will. Ich meine – irgendwer muss es doch sein. Oder nicht?

Ich weiß eh nicht, wie die nächste Königswahl funktionieren soll, wo schon so viele Leute gestorben oder geflohen sind. Gut, die Geflohenen können ja zurückkommen. Aber trotzdem.

Langsam habe ich den Verdacht, dass dann einfach die Thekhal aufmarschieren, auf ihre Verwandtschaft zu meinem Vater pochen und den Thron einstecken. Und DAS fände ich gar nicht witzig!

Echt!

Ich habe Alpträume, dass der König der Langweiler auch König von Šyuk wird und Erlässe verkündet, dass alle langweilig sein müssen.

Gru-se-lig!

***

Ketir war gerade hier und hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich habe ihn gefragt, was er von mir als König halten würde. Er hat einen Moment drüber nachgedacht und dann gemeint, ich wäre garantiert ein toller König, wenn die Welt ein Märchen wäre. Aber im echten Leben würde er mir das nicht aufs Auge drücken wollen.

War das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung?

***

Gaaaaanz spät.

Bin etwas beschnuckt. Gab zuviel Wein bei Ketir. Und wir haben zu lange gesessen und gesabbelt. Immerhin hat er mir das mit dem Märchen erklärt. Weil er halt meint, im Märchen gewinnen immer die Guten und kriegen am Ende auch alles Gute. Und weil ich für einen verwöhnten Hofbengel ordentlich (Ketir sagt nie sowas wie „duckig“, dafür ist er zu gut erzogen) Jusse habe, käme ich gut bei raus. Aber im echten Leben kriegen meistens die Guten eins übern Zopf, von daher würde mich das Königsein vermutlich nur unglücklich machen oder umbringen.

Ketir findet, ich hab Jusse!

Irgendwie bin ich gerade eine Handbreit gewachsen.

#

Ketir und ich haben heute Abend nochmal über Umgang und sowas geknuckert. Und ich bin schon wieder beschnuckt, das wird zur Gewohnheit… aber Wein ist so lecker!

Naja, jedenfalls sind wir zu dem Schluss gekommen, dass mein Ruf eh schon übel leidet und wahrscheinlich bereits unrettbar kaputt ist. Was alles für mich entspannter macht. Dann kann ich ruhig weiter mit den Lagerjungs befreundet sein und mit Ketir lange Ausritte unternehmen, mehr als reden können die Leute ja nicht.

Und Ketir würde die Sache mit Pež-yel wegen mir sein lassen. Finde ich voll nett von ihm. Pež-yel fände es vermutlich gar nicht nett und wäre sauer auf mich. Von daher hab ich Ketir gesagt, es wäre ja nicht meine Suppe.

Ganz schön kompliziert.

Meine Zeltwachen haben mich eben gefragt, was ich eigentlich von Ketir halte. Klar, dass die das anzüglich meinen, aber ich hab ganz souverän erklärt, dass ich Respekt und Dankbarkeit empfinde und ihn für einen der schlausten Leute im Reich halte. Fragen die mich „und sonst?“, die dreisten Dusskarle, und ich nur so „sonst kriegt er welche auf die Finger.“

Ha!

Da haben die doof geguckt.

Ich hab glaub ich wirklich Jusse!

#

Ich sitze gerade in einer Höhle in eine Pferdedecke gewickelt, vor mir prasselt ein Feuer und Ketir kocht eine Soldatenration. Wir sind nämlich auf einem Ausritt, weil mir der erste doch so gut gefallen hat. Diesmal sind wir in die Berge geritten, an ziemlich schwindeligen Abgründen entlang, über Bergkämme und Grate. Leider gab es keine Galoppstrecken, dabei galoppiere ich doch so gerne! Stattdessen viel konzentrierten Schritt, für die Pferde sicher noch anstrengender als für mich. Aber Ketir hat mir versprochen, dass wir morgen noch ein wenig flotter reiten können.

Die Pferde sind jetzt bei uns in der Höhle und mümmeln Heu, das wir in den Packtaschen mitgenommen haben – da wir kein Zelt brauchen, war diesmal Platz dafür. Das ist auch gut so, weil es kein Gras hier gibt.

Ganz schön einsam hier. Ich bin froh, dass Ketir da ist, sonst würde ich mich glaube ich gruseln. Ich bin vorhin ein wenig in die Höhle hineingegangen und dann ging es recht steil bergab – und das ziemlich weit. Ich bin lieber nicht weitergegangen. Ketir meint, weiter hinten gibt es einige kleine Seen und abzweigende Gänge und weiter war er bisher auch noch nie, weil es ihm zu gruselig wurde und man ja nicht wisse, was da unten alles hausen kann… und das sagt er mir VOR dem Schlafen!

Bretze!

Ich werde garantiert nicht schlafen, sondern mit geschlossenen Augen nur Khraths und Sangrati und Finstergeister sehen. Und wenn ich doch schlafe, kriege ich bestimmt Alpträume.

Das habe ich Ketir gerade gesagt.

Und was sagt der Kerl und grinst dabei? „Dann muss ich wohl wieder mit dir kuscheln.“

Ich habe ihm natürlich ein Stück Brot an den Kopf geworfen. Er meint, ich ziele mittlerweile sehr gut, brauche aber noch mehr Schwung im Wurf.

Das zweite Brotstück hatte deutlich mehr Schwung…

#

Der Kerl muss wirklich mal lernen, alleine zu schlafen. Echt, Mann. Mir wäre das peinlich, in seinem Alter noch eine Kuscheldecke (oder einen Kuschelprinzen) zu brauchen, kannste wissen. Ich habe auch gleich heute früh mit ihm geschimpft und er hat geguckt, als hätte ich ihm gesagt, dass er nicht anständig rasiert ist (was er auch nicht war, so früh am Morgen, aber da kann er ja nichts für).

Ketir wäscht sich gerade hinten in der Höhle, ich bin damit schon fertig. Dann geht’s los – die Pferde sind ganz unruhig und haben sicher Hunger, also werden wir erst einmal ein Stück reiten bis zu einigen Wiesen, dort steigen wir ab, führen langsam weiter und lassen die Pferde dabei fressen. Ich bin gespannt!

#

Manchmal frage ich mich ja, über was man im Lager redet, wenn es kein neues Futter für Bettgesprächsthemen gibt. Ich war noch nicht mit dem Fuß aus dem Steigbügel, da kommt Pež-yel an und fragt, ob mit „Ketir-methya-kí“ was gelaufen ist – nein, mit Ketir-yel ist NICHTS gelaufen, deswegen nenn ich ihn ja –yel und nicht –kí!

Echt, Mann!

Wobei, meistens nenne ich ihn ja nur Ketir, weil ich für Suffixe zu faul werde…

Ketir meint jedenfalls, dass ich mir nicht so viele Gedanken um die Gedanken anderer machen soll. Wir wüssten doch, dass da nicht läuft. Da hat er ja recht. Aber mich stört es trotzdem. Laut Ketir leidet das gesamte Lager unter dem Exil, weil nichts passiert – anscheinend bekommt es Soldaten nicht, wenn sie jahrelang nicht töten dürfen. Was man nun davon halten soll … Es gibt doch mehr im Leben als Mord und Sex. Pferde und Ausritte, Literatur und Poesie, all solche Dinge. Aber irgendwie scheinen die meisten Soldaten kein Interesse daran zu haben, mal abgesehen von der Kavallerie, die natürlich durchaus an Pferden interessiert sind, weil sie offenbar beim Töten praktisch sind.

Mein armer Grauer ist ja eigentlich auch ein Kavalleriepferd. Der braucht endlich mal einen Namen. Ich kann ihn doch nicht den Rest seines Lebens Grauer nennen. Ich meine – sogar Pežor hat einen Rufnamen, obwohl er eigentlich keinen Namen hat. Und im Gegensatz zu Pežor hat mein Grauer einen Stammbaum, der ist nämlich aus der Zucht von Ketirs Ehemann.

Ich mag den Grauen. Wir hatten einen tollen Ausritt zusammen, haben uns gestritten und dann wieder geeinigt. Er ist in vielerlei Hinsicht wie Ketir – will immer sagen, was gemacht wird und schmollt, wenn man ihm sagt, dass es nicht geht, aber er nimmt einem nichts lange krumm.

Vielleicht nenne ich ihn Ket…

#

Alšog Thekhta hat mir geschrieben. Sein Sohn, der Langweilerkönig, kommt mich besuchen.

Morkig drotzig. Aber natürlich habe ich geantwortet, dass ich duckig hüllert bin. Allerdings habe ich es dann doch lieber auf Hochbelsh ausgedrückt und zu meinem Schrecken festgestellt, dass ich kaum noch anständiges Hochbelsh kann. Ich meine, natürlich rede ich nicht den ganzen Tag Soldatenplatt, aber irgendwie Alltags-Hochbelsh. Und Korrespondenz erfordert mehr als das.

Aber letztlich habe ich es dann doch gewuppt. Ich bin also äußerst erfreut über die Aussicht auf den baldigen Besuch meines geschätzten Vetters, wünsche Alšog und seiner Familie alles Gute und mir, dass ich bald auch die restlichen Familienmitglieder kennenlernen kann.

Blah.

Will ich WIRKLICH König werden und täglich so’n Zeug ertragen?

Ich glaube, ich geh mal rüber zu Ketir und schnorre was zu schnucken, der hat von den Leuten, die mir den Brief gebracht haben, ein verdächtig lecker aussehendes Paket bekommen, das nach Wein schnuffelt…

#

Dies is nen wichter eintrag für später:

Meš-jú, du schnukst zufiel.

Dein Mešúr.

#

Nachdem ich meinen Kater auskuriert habe, stelle ich fest, dass ich betrunken eine wirklich gruselige Orthographie habe. Ohnehin gelobe ich ganz allgemein Besserung: weniger schnucken und mehr lernen. Ich habe Fen-yel gebeten, mir mehr gute Bücher zu besorgen, der scheint ja gute Verbindungen in diese Richtung zu haben. Und bis dahin habe ich mir nun zwei Werke über Militärkrams von ihm ausgeliehen, mit Strategie und Schlachtordnung und all diesen Dingen, von denen ich keine Pelle habe.

Und ich habe ihn gebeten, dass wir wieder regelmäßigen Rhetorikunterricht machen und all die anderen langweiligen Dinge. So geht das nicht weiter, echt, Mann, aber auch.

Bin ich froh, dass Ketir nicht weiß, über was ich letzten Abend beim Schnucken nachgedacht habe. Aber über wen soll ich denn sonst nachdenken, wenn ich übers Küssen nachdenke? Mädchen treffe ich ja nicht und auch sonst niemanden, der es wagen würde. Ketir würde schon wagen. Der wagt alles. Aber der will ja nicht. Zum Glück. Denke ich.

Ich brauche wirklich mehr Rhetorikunterricht und langweiliges Zeugs. Am besten fange ich gleich damit an und lese diesen Wälzer von Fen-yel nochmal.

#

Nach ausgiebiger Reflexion der letzten Wochen muss ich zum traurigen Fakt stehen, dass ich Süffiges nicht schnucke, sondern mucke. Ich habe vorsichtig bei Ketir angefragt, ob er denkt, dass ich in seinem Beisein zuviel Wein trinke.

Antwort: „Meš-ahanš, ich frage mich jedes Mal, wann du mir versehentlich in den Schoß fällst. Aber du bist fast erwachsen und außerdem ein Prinz, und ich quatsche anderen generell nicht in ihr Gesöff, wenn sie nicht kämpfen müssen.“

Also ist Süffiges erst einmal gestrichen. Es schmeckt ja nur so gut. Immer nur Wasser und Kräutertee ist so langweilig. Daheim gab es ja oft Saft… ich würde so gerne mal wieder Saft trinken! Aber wo soll der hier herkommen? Der verdirbt ja so schnell.

Hach je. Ich habe Probleme…

Dafür habe ich ganz tugendhaft einen unglaublich schwierigen theoretischen Text über Rhetorik und Ausdrucksformen gelesen, denn Fen-yel mir vorbeigebracht hat. Geschrieben von Alšog Thekhta. Ich hoffe, ich treffe den Mann nie – der Text macht den Eindruck, als würde sein Autor nie auch nur ein falsches Wort äußern, eine Silbe verschlucken oder sich im Gespräch räuspern müssen.

Naja, demnächst kommt ja erstmal wieder sein Sohn, der Langweiler. Ich bin gespannt, wann er hier auftaucht. Auf jeden Fall ist es gut, dass er mich dann nicht beim Schnucken mit Ketir sieht, sondern beim stillen Lernen in meinem Zelteingang. Vermutlich sollte ich auch meinen Lagerlauf lieber bleiben lassen, während er hier ist? Aber ich habe mich so daran gewöhnt, täglich einmal durch die Zelte zu laufen!

*** später

Ich habe Ketir wegen des Lagerlaufs und dem Langweiler gefragt. Er meint, ich wäre schön blöd, wenn ich mir meine Gewohnheiten von Leuten wie ihm diktieren ließe. Recht hat er. Ich werde also ganz normal meinen Lauf machen, meine Reitstunden nehmen und meine frechen Zeltwachen ausschimpfen. Wäre ja noch schöner, wenn mir aller Spaß fernbliebe, nur weil ein langweiliger Mensch mich besucht!

Meine Zeltwachen werden gerade wirklich wieder richtig frech. Ich muss mir mal einen netten Streich ausdenken, damit sie lernen, sich zu benehmen – oft wachen die nämlich gar nicht, sondern schauen mir die ganze Zeit hinterher. Einerseits schmeichelhaft, andererseits … gibt es ein Wort wie „erbosend“? Ich bin erbost, was löst es aus? Herrje, mein Vokabular ist erschreckend schlecht! Und auf Soldatisch wüsste ich’s. Peinlich. (Nämlich ossisch – von „ich hab ja sowas von Oss!“)

Ich glaube fast, ich schreibe einen Aufsatz über Soldatenplatt. Dann kann ich wenigstens bei einem spannenden Thema üben, es klar, verständlich und überzeugend darzustellen. Fen-yel meinte, ich sollte über meine politische Lage schreiben und darstellen, warum ich mit sechzehn König werden sollte, aber davon bin ich ja selbst nicht überzeugt…

#

Heute wollte ich eigentlich meinen Aufsatz über Soldatensprache beginnen, aber dann kam der Langweiler. Ich hätte ihn beinah so genannt bei der Begrüßung, das wäre mal was gewesen! Zum Glück fiel mir sein richtiger Name dann noch gerade rechtzeitig ein.

Der Langweiler besucht zum Glück in erster Linie Ketir und nicht mich, weswegen die beiden gerade ohne mich in Ketirs Zelt reden. Ich habe gerade meine Zeltwachen gefragt, was sie von ihm halten, und sie sind sich einig, dass er zwar „Schnuck für die Augen“ ist, aber auch „das Baschigste, was hier rumhoppelt“ und „so prickelnd wie ’ne Hure mit zwanzig Kindern“. Für letzteres habe ich sie dann natürlich wieder einmal getadelt, was sie natürlich wieder einmal nicht beeindruckt hat.

Nachher essen einige Offiziere und ich bei Ketir. Der Langweiler wird auch da sein. Hach je.

#

Letztes Mal kam mir der Langweiler irgendwie deutlich älter vor. Dabei sind wir beide gleich gealtert, etwa ein Jahr muss es jetzt her sein. Und trotzdem. Letztes Mal war unser altersmäßiger Abstand irgendwie deutlich größer.

Vermutlich hat Fen-yel doch recht und ich werde erwachsen.

Thekhvan Althay ist ja eigentlich auch gar nicht so viel älter als ich. Ich kann das immer schwer schätzen, aber viel älter als zwanzig kann er nicht sein. Und er ist schon verheiratet und hat Zwillinge, habe ich erfahren – ja, ich muss gestehen, das Gespräch vorhin hatte doch glatt einige nichtlangweilige Züge! Zumindest habe ich einige interessante Fakten über ihn und die Thekhal erfahren. Er wurde mit sechzehn verlobt und mit achtzehn verheiratet, als seine Verlobte dann reichlich schwanger war. Ganz wie es sich gehört also.

Wenn ich mir vorstelle… in nichtmal einem Jahr bin ich auch sechzehn und müsste eigentlich eine Verlobte finden.

Heieieiei.

Irgendwie macht mir das Angst!

Außer Kakhali sehe ich fast keine Frauen, und schon gar nicht Mädchen in meinem Alter. Klar gibt’s hier am Lagerrand auch etliche Handvoll davon, aber das ist ein Bereich des Lagers, in den ich bei Androhung peinlicher Strafe durch Ketir nicht gehen darf. Ketir ist ja meistens sehr locker, aber da lässt er nicht mit sich spaßen.

Er hat ja auch recht. Die Mädchen und Frauen dort sind definitiv noch weniger passende Gesellschaft für mich als die Lagerjungs. Wenn mich da eine verführt und ein Kind von mir kriegt… Ich glaube, für sowas kann einen das eigene Haus umbringen. Schande auf den Hausnamen und so, einen Bastard zu produzieren, bevor man ein echtes Kind hat. Riskieren will ich es jedenfalls nicht.

Aber deswegen find ich Mädchen und Frauen halt gruselig. Kakhali… die ist irgendwie keine Frau. Die ist Kakhali. Irgendwie sowas wie … keine Ahnung. Ein familiäres Neutrum. Ich meine, sie schrubbt meine Unterwäsche und schneidet meine Haare, das ist irgendwie alles nichts, wo man romantische Anwandlungen bekommt.

Thekhvan Althay hat das Problem jedenfalls nicht. Frau und Kinder. Puh. Und wohl nur um die fünf Jahre älter als ich. Aber der musste auch nicht mit dreizehn seine blanke Haut retten und sich von ekligen Vettern angrabschen und von verräterischen Sklaven durchs halbe Land schleppen lassen.

Jedenfalls muss ich ihn mit Zweitnamen anreden, weil er ganz schmierig rumgesifft hat, dass wir doch Vettern sind. Sind wir ja auch. Aber ich mag ihn nicht und will ihn nicht so vertraulich anreden, das ist für Leute wie Fenan oder Ketir reserviert. Ich hoffe, er hat es nicht allzu sehr bemerkt. Aber er hat auf jeden Fall bemerkt, dass ich die zwei mit –yel anrede, und das hat ihm ein sehr unlangweiliges Stirnrunzeln entlockt. Bestimmt schreibt er gerade einen Brief an seinen Vater und berichtet, dass Ketir Umsturzpläne schmiedet und mich als seine Marionette auf den Thron setzen will. Oder dass Fenan und ich eine glühende Affäre haben. Oder dass wir drei gemeinsam meinen Vater ermordet haben. Oder solche Dinge. Thekhvan Althay ist so einer, der Menschen nur schlechtes zutraut.

Andererseits hat er glaube ich auch keinen Funken Phantasie und würde auf solche Anschuldigungen vermutlich gar nicht kommen.

Furchtbarer, furchtbarer Mensch!

#

Ich bin heute vom Pferd gefallen. Mein Grauer lahmt nämlich etwas und Fenan meinte, ich soll dann einfach die Fuchsscheckin von der hinteren Weide nehmen. Habe mir das kleine Biest also geschnappt, da Fen-yel mir ein paar Militärtricks zu Pferd zeigen wollte. Ab auf den Platz zum Warmreiten, und ich weiß nicht wie, aber auf einmal lag ich unten, kriegte keine Luft mehr und mir tat der rechte Arm ziemlich weh. Die Stute raste derweil buckelnderweise über den Platz und quiekte.

Mittlerweile weiß ich, dass wir ZWEI Fuchsscheck-Stuten haben. Selten genug sowas, und dann gleich zwei davon! Und ich habe mir die falsche gegriffen, nämlich das halb eingerittene Ding, das letztens von einem Atishi-Stamm abgekauft wurde – und nicht die Zehnjährige, die aus der Zucht von Ketirs Ehemann stammt.

Und jetzt habe ich einen geprellten Ellbogen und eine verstauchte Schulter und blaue Flecke und tu mir wahnsinnig leid.

Positiver Nebeneffekt: Meine Zeltwachen sind losgeflitzt und haben mir Süßkrams organisiert und mich gebührend bemitleidet.

Fenan hat sich viermal entschuldigt.

Ketir meinte „siehst doch ganz normal aus, kann so schlimm nicht sein.“

Manchmal möchte ich Ketir treten.

Immerhin kann ich dem Langweiler ausweichen, ich fühle mich nämlich gaaaaanz schlecht und kann heute nicht am großen Abendessen teilnehmen.

Hat auch was.

Kandierte Datteln sind mir eh lieber!

#

Mein werter Vetter sorgt sich um mein Wohl. Der hat ernsthaft vorhin erst Fenan runtergeputzt und dann selbiges bei Ketir versucht, weil die zwei leichtfertig meine Gesundheit und gar mein Leben aufs Spiel setzen und sie sich ohnehin was schämen sollten, wie ich mein Leben hier verbringen muss, so ganz unstandesgemäß und überhaupt.

Fenan sah ziemlich geplättet aus, armer Kerl, echt, aber auch! Das hat er nun wirklich nicht verdient. Nur, weil er nicht im Blick hatte, dass auf einer Koppel zwei Fuchscheckstuten standen.

Ketir hat es offensichtlich gar nicht gekratzt. Das hätte ich aber auch nicht erwartet. „Wenn ich das nächste Mal einen von Intrigen und Meuchelmord bedrohten Prinzen aufnehme, werde ich vorher prüfen, ob ich einen standesgemäßen Palast vorweisen kann – falls nicht, werde ich ihn freundlich bitten, sich einfach umbringen zu lassen und aller Welt eine Menge Arbeit zu ersparen.“

Wie der Mann aus dem Stegreif solche Antworten abfeuern kann, kapiere ich immer noch nicht. Schlagfertigkeit ist nicht mein Ding. Entweder kommt etwas wie „Ach ja?“ oder ich blamiere mich haspelnderweise.

Immerhin habe ich mich dazwischengedrängelt – also, rein verbal, die schlugen sich ja nicht – und klargestellt, dass ich mich im Lager ausgesprochen wohlfühle, keinen Palast brauche und es garantiert keinen sichereren Ort für mich gäbe.

So.

Vetterchen schmollt jetzt. Natürlich tut er das offiziell nicht, er hat sich nur nach dem Gespräch recht bald verabschiedet, um einige Dinge zu erledigen. Aber er schmollt garantiert. Wahrscheinlich schreibt er seinem Vater einen Brief, dass ich hoffnungslos verdorben und unerträglich bin. Hoffentlich macht er das. Vielleicht lassen mich dann ja mal alle Thronjäger einfach in Ruhe!

#

Soldatenplatt ist ein niederbelsher Slang, der sich in Armeekreisen irgendwann etabliert hat. Besonders in der Khaji, in der recht viele einfache Leute lange Zeit dienen, ist ein Beherrschen des Slangs Pflicht, wenn man wirklich dazugehören will. Eigenwillige Grammatik gehört ebenso dazu wie eine etwas merkwürdige Aussprache und vor allem ein in Teilen kreativ umfunktionierter Wortschatz.

Im Geschichtenforum sind z.B. im Tagebuch von Šwithan Mešur und in den „Reitstunde“-Geschichten konkrete Beispiele des Soldatensprechs zu finden. Aber da es mir diebischen Spaß bereitet, mir den Kram auszudenken, will ich ihn hier sammeln und weiterentwickeln.

Ganz wichtig ist das Benutzen von Verstärkern.

„aber echt“ ist ein Universalwerkzeug, um eine Aussage zu unterstreichen, ebenso wie „Mann“. Kombiniert sind sie quasi ein doppelter Unterstrich. Die ultimative Steigerung ist „aber auch“.

Anwendungsbeispiel:

Der Gaul will nicht gehen, das nervt mich, aber echt!

Der Gaul ist vorhin durchgegangen, der kommt in die Wurst, aber echt, Mann!

Der Gaul hat mich beim Springtraining dreimal in den Sand gesetzt, ich hab die Schnauze voll vom scheiß Armeereiten, ich gehe nach Hause, aber echt, Mann, aber auch! Mann! Echt!

Ein weiterer Verstärker ist „kannste wissen“. Während die drei obigen Bauteile neutral bis negativ verstärken (in jedem Fall ist der Sprecher leicht bis stark aufgeregt), ist „kannste wissen“ positiv zu sehen – man steht zu seiner Aussage, ist völlig überzeugt davon und will das jedem mitteilen. Der positive und eher entspannte Ton überwiegt auch dann, wenn diese Floskel zusammen mit den drei obigen verwendet wird:

Siehste die Schnecke da? Der hab ich’s heute Nacht sowas von besorgt, kannste wissen!

Das hier ist mal’n Pferd, kannste wissen, Mann, das ist der schnellste Gaul in der Truppe, aber echt!

Will man nicht gleich die ganze Aussage verstärken, sondern nur einen Teilaspekt, so kann man das Adverb „dicke“ benutzen. So ganz unbekannt ist das ja nicht, schließlich haben wir auch im Deutschen regionale Ausdrücke wie „das reicht dicke“. Die Šyukai machen’s nur etwas häufiger In dieselbe Kategorie fällt auch das ebenfalls im Deutschen benutzbare „sowas von“, das gerade in den Beispielen schon benutzt wurde.

Vorhin bist du aber echt dicke schnell geritten, brech dir bloß nicht den Hals!

He, mach dich hier nicht so dicke breit, das ist auch mein Zelt.

Abgesehen von solchen Floskeln gibt es jede Menge spannende Wörter mit lustigen Bedeutungen.

’n Muck

= ein hübscher Junge „für zwischendurch“ – nichts für Beziehungen, oft auch Jungs mit eher schlichtem Gemüt („der hat nen Salzsee im Kopp, der Muck, aber die Verpackung vom Gewürz ist echt nett“)

mucken

= was Hübsches (männlich oder auch weiblich) mal eben schnell vögeln oder

= saufen

muckmäßig

= versoffen oder

= notgeil oder

= immer nur an den eigenen Spaß denkend oder anderes in der Richtung

Eine Alternative zum oben erwähnten „dicke“ ist „duckig“ – wird genauso benutzt und bedeutet dasselbe, ist einfach eine Variante aus den Nomadenstämmen.

„Jusse“ ist eine Tugend. Es ist das, was jeder Soldat haben sollte: Disziplin, Anstand, Aufopferungsbereitschaft, Leidensfähigkeit und all sowas halt. Wenn man als Soldat einem anderen Soldaten Jusse abspricht, ist eine Prügelei fast unumgänglich. Und auf Schlachten kann man sich jussig halten und so Respekt verdienen. Ohne ein gewisses Maß Jusse wird man in die Khaji gar nicht aufgenommen. Es gibt sogar den „Jussebrief“, das Empfehlungsschreiben vor Vorgesetzten, mit denen man sich bei der Khaji bewirbt und in dem besondere Leistungen hervorgehoben werden.

Intelligenz wird in der Khaji sehr geschätzt. Wer sie nicht besitzt, ist oft ein „Bretze“ – unerträglich beschränkt und nervig. Wer einfach nur beschränkt ist, ohne zu nerven, ist ein „Dusskarl“.

Wer einfach nur ein wenig langsam im Kopf ist und nicht über Konsequenzen nachdenkt, ist „baschig im Deetz“.

Das Adjektiv zum Dusskarl ist „dusskadelig“. Während ein Bretze immer dusselig ist, also dämlich, nicht besonders schlau und obendrein auch noch nervig, muss man nicht zwangsläufig auch dusskadelig sein. Und man kann dusskadelig sein, ohne ein Bretze zu sein: dusskadelig bezieht sich immer auf aktuelle Aktionen, nicht auf den allgemeinen Zustand eines Menschen. Auch der schlauste Fuchs kann sich mal dusskadelig benehmen und etwas komplett aus eigener Blödheit heraus vergeigen.

Besonders hartnäckig vergeigenden Leuten, die es eigentlich besser wissen müssten, wird die freundliche Bezeichnung „drotzdusskadelig“ zuteil. Da steckt „Trotz“ drin – aus Sturheit dämlich sozusagen.

Ein paar Adjektive fehlen noch.

Etwa „baschig“ und „luffig“, zwei sehr wichtige Wörter, die in fast jedem Kontext vorkommen.

„baschig“ heißt soviel wie matschig. Genau genommen bezeichnet es die Konsistenz von pappigem Brot, kann aber auch auf alles andere mit ähnlichem Erlebnis angewendet werden – matschiges Obst, angefaultes Gemüse und alles andere, was nicht mehr ganz frisch ist. Natürlich kann man es auch auf die eigene Stimmung oder den Geisteszustand eines Menschen verwenden (baschig im Deetz = matschig in der Birne).

„luffig“ ist das Gegenteil: elastisch und frisch. Es beschreibt ja auch eigentlich frisch gebackenes Brot, das man leicht knautschen kann und das dann in seine Form zurückspringt. Obst ist in der Regel nicht luffig, da es nicht in seine Form zurückspringt, wenn man es knautscht. Aber Decken können luffig sein, die Stimmung sowieso und natürlich auch hier die geistige Kapazität (luffig im Deetz = schlau und flexibel im Denken).

Blitzisch, kurz „blitzsch“, ist ein beliebter Ausdruck des Lobes und kann sich auf so ziemlich alles beziehen – tolle Ideen, gutes Aussehen, geschickte Aktionen, alles ist blitzsch, wenn es beeindrucken kann. Ähnlich wie cool, dufte, geil, krass und solche Wörter halt.

Das Gegenteil dazu ist „drotzig“, das entspricht Wörtern wie ätzend, scheiß-/mist- oder übel.

„morkig“ ist eine Einschränkung, ähnlich wie ziemlich, halbwegs oder einigermaßen:

„morkig blitzsch“ = ziemlich cool

„Das ging morkig“ = das klappte halbwegs

„Ich hatte morkigen Dussel“ = da hatte ich ziemliches Glück

Anders dagegen „duckig“, was soviel wie reichlich, wirklich, ordentlich, gehörig bedeutet:

„Der hat duckig Jusse“ – das ist ein wirklich anständiger Kerl.

„Das hat duckig gebrezelt“ – das tat ordentlich weh.

„Die Kleine da ist so duckig blitzsch, da wird mir ja ganz anders!“

„atzelig“ entspricht unserem Gebrauch von „genial“ oder „super“, ein Ausdruck uneingeschränkten Lobes:

Siehste den blitzschen Muck? Der is nich nur nich dusskadelig, das war einfach atzelig letztens von dem, aber echt, Mann, aber auch, kannste wissen, echt! Sowas von luffig im Deetz, der Muck!

Reitszenen

Reitstunde bei Fenan

Haril Fenan stand am Rand des mit Büschen und Zweigen markierten Reitplatzes und begutachtete kritisch, was sein Schützling am anderen Ende des Platzes so anstellte.

„Šwithan Mešúr-ahanš, was bei Fariks Wahnsinn soll das eigentlich werden?“, rief er dem sich abmühenden Reiter zu.

„Schenkelweichen?“, kam die angestrengte Antwort.

„Warum sieht es dann nach einem Ringkampf aus? Ihr macht viel zu viel mit den Zügeln, der Bursche muss doch nicht durchgebogen werden, eine leichte Stellung reicht! Und viel zu wenig Bein, wie soll das denn dann funktionieren?“

Der Kronprinz presste die Lippen zusammen und bemühte sich redlich, die Anweisungen umzusetzen – mit dem Erfolg, dass der Wallach mit der Kruppe ausbrach und plötzlich im rechten Winkel zur Seite des Reitplatzes stand, um dort voll glücklicher Überraschung ob des gelungenen Coups an den Büschen zu nagen. Erst nach einigen Momenten ließ er sich von den energisch klopfenden Beinen zum Wenden und Weitergehen überreden.

Iroš Ketir, der gerade mit der Überwachung einiger Kampfübungen abgeschlossen hatte, schmunzelte, als Haril Fenan vor Frust beinahe in die Luft sprang.

„Bei allem niemals für Dilwans Unterhosen vernähten Stoff, Šwithan-ahanš, gestern ging es doch auch!“

„Ich weiß doch auch nicht, warum er heute nicht will.“

„Ich schon, weil Ihr da oben eine Menge Sachen macht, nur kein Reiten! Los, ein paar Runden flotter Trab zur Entspannung – für den Dicken, der ist nämlich unglaublich geduldig mit Euch.“ Fenan seufzte und wandte sich halb um, als er Iroš Ketir bemerkte. „Ach. Hallo.“

„Seit wann ist er denn Šwithan-ahanš – wo ist das Mešúr geblieben?“, fragte Ketir skeptisch.

„Seit irgendwann halt. Ist doch egal. Locker bleiben!“, rief Fenan dem angespannt vorbeitrabenden Kronprinzen zu. „Nicht so steif in der Hüfte, denkt doch nicht jetzt schon an die nächste Übung! Ein flotter Trab ist schön, also genießt ihn verdammt noch mal auch!“

„Du bist ja richtig einfühlsam.“ Ketir grinste breit.

„Heute ist aber auch einfach der Wurm drin“, brummelte Fenan.

„Immerhin hält er die Zügel jetzt nicht mehr so wie einen Fächer.“

Fenan warf ihm einen amüsierten Blick zu. „Ja, seine Handhaltung ist wirklich vorbildlich.“

Ketir grunzte nur.

„Šwithan-ahanš, jetzt einmal die Hand wechseln, zwei Runden Galopp, dann wieder die Hand wechseln und an der Buschreihe da hinten noch einmal Schenkelweichen! Also, Ket-yel“, wandte sich Fenan seinem Heerführer zu, „warum kannst du eigentlich nicht zugeben, dass er für sein Alter und für die kurze Zeit schon verflixt gut reitet?“

„Weil du eh völlig vernarrt in ihn bist. Er ist schon viel zu lange hier.“

„Das lässt sich halt nicht ändern.“

„Hm.“ Ketir beobachtete, wie der Kronprinz den Wallach geschmeidig angaloppieren ließ. „Es kommen Delegierte aus Swarhi, die ihn wohl mitnehmen würden.“

„Das kannst du nicht ernst meinen!“, protestierte Fenan. „Dann passiert ihm ‚rein zufällig‘ etwas auf dem Weg nach Swarhi, und sie ernennen irgendeinen politischen Schakal zum Kronprinzen. Nee, vergiss es, Ket-yel, nicht mit mir!“

„Er kann doch nicht ewig hierbleiben. Soll er nächste Woche etwa mit uns feiern?“

„Feiern?“

Ketir wandte den Blick vom jugendlichen Reiter ab und schaute Fenan kopfschüttelnd an. „Er wird vierzehn. Geburtstag – du weißt schon. Der hochwichtige Geburtstag der Kronprinzen, den das gesamte Reich seit nun bald vierzehn Jahren jedes Jahr am selben Tag feiert …“

„Ist ja gut! Niedriggeborenes Gesocks wie ich merkt sich sowas halt nicht im Detail. Na und, dann wird er eben vierzehn – besser, er feiert mit uns, als mit irgendwelchen halsabschneiderischen Verwandten.“ Fenan spuckte schwungvoll aus. „Alles Üble für Mešwi. Aber den Mešwi hier, den mag ich.“

„Hm.“ Ketir schaute nachdenklich zu, wie der Kronprinz sich abermals an der Dressuraufgabe versuchte. „Wir sollten ihn also hierbehalten?“

„Da es keine vertretbare Alternative gibt: Ja“, gab Fenan zurück und rief dann: „Treiben, Šwithan-ahanš! Rechts, links, wie er es sich mit den Tritten abholt, einfach sanft mittreiben, und vorne etwas mehr Raum – na, seht Ihr, geht doch! Loben, Zügel lang und im Schritt hierher!“

Ketir seufzte. „Er hat sich schon wieder bei mir beschwert, dass einer der Männer anzüglich geworden ist. Bring ihm doch bei Gelegenheit ein dickeres Fell bei.“

„Er ist so einen Umgangston halt nicht gewöhnt.“

„Was heißt Umgangston, das war als Kompliment gemeint.“ Ketir schmunzelte. „Er ist nunmal ein hübscher Bursche, und die Männer können nichts dafür, dass dermaßen höfisch erzogen wurde.“

„Soll ich ihm einen der Lagerjungen als Nachhilfelehrer aussuchen?“ Fenan unterdrückte ein Grinsen, und beide Männer schauten dem näherkommenden Prinzen beherrscht und wortlos entgegen.

„Irgendwie kann ich heute nicht reiten, Fenan-tawe“, verkündete der Prinz und kräuselte ärgerlich seine Stupsnase. „Ich habe mindestens zwei Arme und drei Beine mehr als sonst.“

„Ich werde nachher im Waffenlager nachschauen, ob ihnen dort Arme und Beine fehlen“, schmunzelte Ketir.

„Ihr habt gut reden, Iroš Ketir-methya – Ihr habt doch bestimmt nicht mit dreizehn noch einmal reiten lernen müssen, weil man Euch vorher Unfug beigebracht hat. Fenan-tawe, mir tun die Beine weh, kann ich für heute aufhören?“

„Wenn’s sein muss“, brummte Fenan, sah dabei aber äußerst zufrieden aus. „Jetzt am Ende war es ja gar nicht mehr so grausam.“

„Dank dir.“ Der Prinz schwang sich etwas holperig vom Pferd und behielt seine Gesichtmuskeln mit offensichtlicher Mühe unter Kontrolle, als seine Füße am Boden ankamen. „Morgen wäre mir ein Ausritt lieber, wenn es dir recht ist, Fenan-tawe.“

„Na, gucken wir mal, wie viele Arme und Beine Ihr morgen habt.“

„Ganz bestimmt zu viele für Dressurarbeit.“ Der Prinz grinste breit. „Außerdem schuldest du mir noch einen Ritt zum Wasserfall.“

„Schuldig im Sinne der Anklage.“

„Sagte ich doch. Iroš Ketir-methya, darf ich Euch heute Abend zu mir einladen? Meine Dienerin bereitet etwas Besonderes vor, als Dank für Eure Gastfreundschaft. Naja“, der Prinz errötete leicht, „eigentlich ist das ja ohnehin Euer Zelt, aber ich dachte …“

„Ich nehme die Einladung gerne an, mein Prinz“, antwortete Ketir höflich.

„Das freut mich. Du kommst doch auch, Fenan-tawe?“

„Nicht, wenn Ihr nicht gleich den Sattelgurt zur Belohnung lockert.“

Šwithan Mešúrs Gesicht verwandelte sich in lodernde Glut, und er wandte sich hastig dem Wallach zu. „Ich – na, dann bringe ich ihn lieber schnell weg, damit er sich erholen kann. Ich freue mich auf das Abendessen!“

Die beiden Männer sahen ihm nach, wie er hastigen, leicht watscheligen Schrittes mit dem Pferd davonstiefelte. Als er sich angemessen entfernt hatte, gab Ketir seinem lange angestauten Lachen endlich Luft, und auch Fenan konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Fen-yel, der muss wirklich bald weg“, meinte Ketir schließlich. „Wenn er noch einige Wochen bleibt, kriegen wir ihn nie wieder an den Hof zurück, der fühlt sich hier viel zu wohl!“

„Was soll’s“, brummte Fenan. „Es muss ja nicht jeder Kronprinz unbedingt König werden, wie du sehr gut weißt.“

Reitstundenvertretung

Einige Wochen später

„Šwithan Mešúr-ahanš, was macht Ihr da?“, tönte Ketirs Stimme laut über die Wiese. Er saß dort gemütlich auf seiner Stute, die die Gelegenheit zum Grasen nutzte, und schaute dem Kronprinzen zu, der in unregelmäßigen Schlangenlinien um ihn herumritt.

„Ich versuche zu reiten“, presste der Prinz zwischen den Zähnen hervor, während er sein äußeres Bein verzweifelt gegen die Flanke des eifrig trabenden Wallachs presste.

„Ah, gut, dann habe ich das doch richtig erkannt“, gab Ketir zurück, „mit der Betonung auf ‚versuchen‘. Zügel kürzer und gerade sitzen könnte helfen.“

Vor lauter Bemühung, sich gerade hinzusetzen, neigte sich der Prinz so weit nach innen, dass der Wallach abbog und beinahe gegen Ketirs Stute lief – zum Glück war diese jedoch ranghöher und giftete den Braunen so heftig an, dass dieser einen Satz zur Seite machte und sich anschließend vor dem Prinzen erschreckte, der ihm plötzlich halb auf dem Hals, halb an der Seite hing. Der Braune tat, was er in problematischen Situationen immer tat: Er blieb stehen.

Mit hochrotem Gesicht rutschte der Kronprinz wieder in den Sattel, an dem er sich mit beiden Händen und einem Fuß im Steigbügel festgeklammert hatte, und nahm die Zügel wieder auf.

„Wisst Ihr“, sagte Ketir, der das Spektakel mit wachsender Belustigung beobachtet hatte, „Volten heißen nicht so, weil sie gewollt aussehen sollen.“

Der Kronprinz warf ihm einen giftigen Blick zu.

„Also, Junge, Handwechsel und das Ganze noch einmal. Gerade sitzen, den Oberkörper auf eine Linie mit der gedachten Biegung drehen, ruhige Beine, vorne mit den Zügeln begrenzen. Der kann das, wenn er endlich versteht, was er eigentlich tun soll. Mit allem Respekt natürlich, Šwithan Mešúr-ahanš.“

„Ich geb Euch gleich Respekt“, knurrte der Kronprinz und setzte den Braunen wieder in Bewegung.

„Was war das?“, fragte Ketir.

„Gar nichts, Iroš-methya. Ihr seid ein trefflicher Folterknecht.“

„Im Militärjargon nennt man diesen Posten ‚Heerführer'“, grinste Ketir. „Danke für das Kompliment, Šwithan Mešúr-ahanš.“

„Wartet nur, bis Fenan-tawe seine Erkältung auskuriert hat“, rief der Kronprinz und versuchte gleichzeitig, den Wallach zu einer kreisförmigen Umlaufbahn zu motivieren, „dann werde ich mich über Euch beschweren!“

„Ich zittere. Nicht wegen Fenan, sondern vor Angst um Eure Gesundheit, wenn Ihr so weiterreitet! Halt!“

Widerwillig brachte der Kronprinz den Braunen zum Stehen und wartete, bis Ketirs Stute bei ihnen angekommen war.

Der Heerführer schaute ihn ernst an. „So geht das nicht, Junge. Mit allem ahanš etcetera pipapo. Aber mal ehrlich, entweder reitet Ihr, oder wir streiten uns. Beides zusammen geht nicht, das ist erstens unbefriedigend und zweitens gefährlich. Also? Reiten oder streiten?“

„Weiter wie bisher“, gab der Kronprinz schnippisch zurück, „ich reite und Ihr streitet, das hat doch bisher gut geklappt.“

Einen Moment starrten sich die beiden Kontrahenten giftig an, um dann gleichzeitig loszukichern.

„Wer zuletzt beim großen Baum ist, ist ein Nasenpopler!“, schrie der Kronprinz plötzlich, während er schon den Braunen antrieb und davonschoss.

„Hinterhältiges Monster-ahanš!“

„Das ist nicht Euer Ernst, Ketir-methya“, entfuhr es Mešúr, als er die in Kniehöhe über zwei Pfosten gelegte Stange auf dem Reitplatz sah.

„Stimmt, ich bin bekannt für meinen umwerfenden Humor“, gab der Heerführer trocken zurück und öffnete das Tau, das den Reitplatz abgrenzte.

„Ich bin noch nie gesprungen!“

„Das ist bedenklich in Eurem Alter. Schließlich habt Ihr Eure Beine schon vierzehn Jahre.“

„Sehr witzig“, brummelte Mešúr und führte den Wallach in die Bahn, unfähig, den Blick vom aufgebauten Sprung abzuwenden. Er war ein paar Mal über Stangen getrabt. Aber die waren deutlich niedriger gewesen.

Ketir folgte ihm mit seiner Stute und schloss den Platz mit dem Tau. „Macht Euch keine Sorgen, der Braune hat das schon ziemlich oft gemacht. Ein Sprung gehört nun einmal zur Reiterprüfung der Khaji – wenn Ihr in Zukunft mit irgendwem außer Fenan und mir ausreiten wollt, muss ich wissen, dass Ihr Euch nicht augenblicklich den Hals brecht, nur weil das Pferd mal einen Hüpfer macht.“

Mešúr kletterte auf seinen Wallach und ließ ihn langsam antreten, damit er seine Muskulatur aufwärmen konnte. „Ihr hättet mich auch vorwarnen können, damit Fenan-tawe mir Springstunden gibt.“

„Och“, meinte Ketir, stieg auf seine Stute und lenkte sie neben Mešúr, „Fenan kennt die Reiterprüfung sehr gut. Aber Ihr wehrt Euch ja immer gegen Sonderbehandlungen, also bekommt Ihr auch keine mehr – keiner unserer Anwärter hat jemals Springunterricht, die müssen da alle so durch.“

„Aber einige können doch sicher schon reiten, das ist doch ungerecht denen gegenüber, die es erst hier im Schnellkurs lernen!“

Ketir blinzelte verwirrt. „Mein lieber Kronprinz, wir sind kein Verein, sondern eine Elitearmee. Wir wollen nur die Besten. Aber falls es Euer Gerechtigkeitsgefühl beruhigt: Nicht jeder, der bei der Reiterprüfung aus dem Sattel plumpst, wird sofort ausgemustert. Die Kavallerie ist schließlich nur ein kleiner Teil der Truppe, wir brauchen immer Fußvolk – aber auch die Fußsoldaten müssen fähig sein, erbeutete Pferde schnell in Sicherheit zu bringen. Außerdem diskutiert ein Soldat nicht, sondern gehorcht. Also: Warmreiten!“

Stumm wurde erst Schritt, dann flotter Trab geritten, schließlich einige Runden Galopp. Dann lenkte Ketir seine Stute in die Mitte des Reitplatzes, genau neben dem Sprung.

„Aaanhalteen!“, bellte er in jahrzehntelang perfektioniertem Befehlston. Der war gar nicht nötig; Mešúr fühlte sich ohnehin schon elend. Gehorsam brachte er den Braunen zum Stehen.

„Anreiten im Trab, flott bis zur dritten Kurve, Wechsel in den Arbeitsgalopp, zwei Runden und dann beim Dornbusch Halt in Höhe der Vorderbeine. Kehrtwendung in den Galopp, nach einer halben Runde in den Trab wechseln und Travers auf die gegenüberliegende Seite, dort anhalten, und zwar bitte anständig geschlossen. Dann reden wir weiter. Hast du’s dir gemerkt?“

„Ja.“

„Dann los.“

Das Anreiten direkt in den Trab meisterte Mešúr so perfekt, dass er den folgenden Galopp etwas übermütig anging – der Braune reagierte begeistert und preschte so flott los, dass die zweite Runde fast vorbei war, bevor Mešúr auch nur einigermaßen den Rhythmus gefunden hatte. Hastig begann er mit dem Bremsmanöver und brachte den Wallach immerhin so zum Stehen, dass der Dornbusch auf Höhe seines eigenen Beines war; das war zwar weiter hinten als das verlangte Pferdevorderbein, aber immerhin nicht einen ganzen Galoppsprung zu weit. Die an sich rasante Kehrtwendung absolvierte der wegen der scharfen Anhaltparade vergrätzte Wallach schwunglos in nörgeliger Trabbewegung und eierte anschließend in einer grob einer schrägen Linie ähnelnden Bewegung über den Platz zur anderen Längsseite, langsam genug, dass Mešúr diesmal das Anhalten ankündigen konnte, so dass der Braune versammelt zum Stehen kam.

„Das war ein sehr interessanter Arbeitsgalopp“, grinste Ketir. „Wie sieht es denn aus, wenn du Tempo machst?“

„Ach, geh mir doch die Stiefel polieren“, knurrte Mešúr und freute sich ein wenig über die Gelegenheit, etwas Soldatenslang benutzen zu können.

„Wenn du den Sprung auf Anhieb schaffst, mache ich das vielleicht sogar. Willst du? Oder wollen wir erst den Rest der Prüfung machen und den Sprung zum Schluss?“

Mešúr schluckte und schaute die Stange an. Sie sah auch vom Pferderücken noch ganz schön hoch auch. „Bringen wir es hinter uns.“

„Eine löbliche Einstellung. Dann mal los. Erst eine Runde Arbeitsgalopp – und damit meine ich einen gesetzten, kontrollierten Galopp.“

„Ich weiß.“

„Ich wollte nur sicher gehen.“

„Sehr witzig. Und wie springe ich dann?“

„Einfach auf das Hindernis zuhalten und auf die Verbindung zum Maul achten, also mit der Hand schön mitgehen, damit er Raum zum Strecken über der Stange hat. Das machst du mit der linken Hand; mit der rechten greifst du am besten in die Mähne, und ansonsten schön in der Bewegung mitgehen. Anhalten tut der Braune eh nach jedem Sprung, weil er gucken will, ob die Stange noch liegt.“

Irgendwie fühlte sich Mešúr nicht allzu beruhigt. Sein Herz klopfte heftig, die Zügel rutschten in seinen schwitzigen Händen, und seine Beine zitterten, als er dem Braunen die Galopphilfe gab. Zum Schnalzen war sein Mund zu trocken. Aber immerhin hoppelte der Braune gemütlich die Einstimmungsrunde um den Platz und ließ sich dann problemlos auf eine Linie mit dem Hindernis bringen. Einen Galoppsprung später verstand der Wallach, welche Übung anstand; er spitzte die Ohren, streckte den Hals, steigerte urplötzlich das Tempo, so dass Mešúr reflexartig die Zügel anzog und in Rücklage kam; der Braune schnaufte irritiert, rammte die Beine kurz vor dem Hindernis in den Boden und watschelte rückwärts. Mešúr rutschte seitlich über die Pferdeschulter hinweg zu Boden.

„Also“, meinte Ketir, als er den verwirrt herumtapernden Braunen am Zügel packte und mit ihm zu Mešúr zurückritt, „mit ‚Mitgehen mit der Hand‘ und ‚Raum zum Strecken‘ meinte ich irgendwie etwas anderes.“

„Der war so schnell!“

„Das nennt man Anlauf. Hopp, rauf mit dir und nochmal.“

Diesmal war Mešúr auf die Temposteigerung vorbereitet und griff in die dicke Mähne des Braunen, kaum dass er ihn auf das Hindernis ausgerichtet hatte. Ihm blieb beinahe das Herz stehen, als der Wallach seine kräftigen Hinterbeine vom Boden abstieß, fast wäre er vorneübergerutscht, als das Tier zur Landung ansetzte, doch er stemmte die Füße in die Steigbügel und blieb oben. Der Braune galoppierte den Schwung aus, hielt an und sah nach hinten. Mešúr tat es ihm gleich.

Die Stange lag im Staub des Reitplatzes. Gemeinsam mit dem linken Pfosten des Hindernisses.

„Es könnte helfen, wenn du nicht kurz vorm Sprung die Zügel loslässt, Junge. Nur als nettgemeinter Tipp. Von wegen Anlehnung, Lenkung, Kontrolle und so.“ Ketir stieg grinsend von der Stute und baute das Hindernis wieder auf. „Wenn du gerade anreitest, springt er auch gerade und zerlegt nicht die gesamte Einrichtung. Also, letzter Versuch.“

„Letzter?“, entfuhr es Mešúr entsetzt. „Wieso letzter?“

„Weil man in der Reiterprüfung drei Versuche für den Sprung hat.“

„Wieso erfahre ich das erst jetzt?“

„Hätte ich dich schon vorher nervös machen sollen? Wer weiß, was dann passiert wäre, war ja schon so keine Glanzleistung.“

Einen Moment lang spürte Mešúr den starken Impuls, einfach abzusteigen und zu gehen. Er musste das hier schließlich nicht machen. Er war der Kronprinz, kein Soldatenanwärter, und überhaupt sprach der Heerführer in einem Ton mit ihm, der jenseits von unziemlich war. Außerdem tat ihm die Schulter vom Sturz weh, auch wenn dieser Sturz nur ein langsames Rutschen gewesen war. Er könnte sich bei diesen törichten Reitversuchen den Hals brechen, und das, wo wegen der Thronfolge ohnehin schon Bürgerkrieg herrschte! Was wohl die Ahnen dazu sagen würden, wenn er so im Schattigen Land auftauchte?

„Na komm schon, Meš-jú. Augen zu und durch.“

Mešúr schluckte. „Wenn ich jetzt runterfalle, putzt du mir wirklich die Stiefel, K’tir-me. Aber echt, Mann!“

Der Braune war mittlerweile absolut verwirrt und verstand nicht wirklich, was sein Reiter wollte – erst nett galoppieren, dann springen, nee, lieber doch nicht, dann doch springen, aber ohne Unterstützung, nun wieder Galopp – konnte der Junge sich vielleicht mal entscheiden? Aha, wieder ran an den Sprung. Wirklich? Oder wollte er doch wieder bremsen?

Mešúr spürte, wie der Braune langsamer wurde, und trieb ihn mit einem unterdrückten Frustschrei an. Der Braune schnaufte nicht minder frustriert, zog mit einem Ruck die Zügel lang, sprang über die Stange und rammte nach der Landung als Abschlusskommentar die Beine resolut in den Boden. Noch einmal würde er dieses Theater nicht mitmachen!

Mešúr segelte über den gesenkten Kopf des Wallachs in den Staub.

Ketir ritt mit einem breiten Lächeln zu ihm herüber. „Aber die Stange liegt!“

„Na toll“, murmelte Mešúr und wischte sich den Sand aus dem Mund.

„Freu dich doch.“

„Tu ich doch. Sieht man das nicht?“ Mešúr rappelte sich auf. Seine linke Schulter schmerzte echt fies.

„Und ich muss dir nachher die Stiefel putzen, muntert dich das nicht ein kleines bisschen auf?“

„Darf ich zugucken?“

„Du darfst mir sogar helfen.“ Ketir lachte. „Nee, war’n Spaß. Das schaffe ich schon alleine. Also komm, genug geprüft – du kannst runterfallen, ohne dir zu doll wehzutun, und du kannst dich durchbeißen. Das reicht mir für’s erste.“

„Wie jetzt – ich dachte, da kommt noch einiges an Prüfung hinterher?“

„Kann, muss aber nicht. Hängt vom Gesamteindruck ab.“

„Heißt das – ich meine – habe ich etwa bestanden?“

„Nicht gerade mit Auszeichnung, aber für den Anfang reicht’s. Also: ja.“

Langsam breitete sich ein Grinsen auf Mešúrs Gesicht aus. „Ich reite so gut wie ein Soldat der Khaji?“

„Du reitest gerade mal gut genug, dass ich dich als Soldatenanwärter nicht augenblicklich mit einem Tritt in den Arsch nach Hause befördern würde.“

„Das reicht mir!“

„Na, dann freu dich.“

„Mach ich!“

Ketir grinste zurück.

(Suffix -me ist kurz für -methya)

Geburtstagsritt

„Du hast keinen Funken Anstand, K’tir-me, aber echt!“, schimpfte Mešúr und zog sich empört die Decke unters Kinn; schließlich trug er nur ein dünnes Schlafgewand, und zu allem Überfluss schien sich auch noch ein Zopf in der Nacht gelöst zu haben und gab übermütige Haarsträhnen frei.

„Alles Gute zum fünfzehnten Geburtstag, Mešúr-ahanš“, dröhnte eine befehlsgewohnte Stimme neben Mešúrs Ohr, so dass er vor Schreck schon saß, bevor er wach war. Sein Herz pochte panisch, auch noch dann, als sein Verstand zu funktionieren begann und er den Heerführer erkannte, der grinsend vor seinem Bett hockte.

„Du auch nicht, mein Prinz, sonst hättest du dich für die Glückwünsche bedankt“, gab Iroš Ketir grinsend zurück.

„Scher dich aus meinem Zelt und mach mir gefälligst draußen die Aufwartung, wie es sich gebührt“, brummelte Mešúr.

„Ich gehe ja schon“, Ketir stand auf, „und du mach dich schnell fertig und nicht zu fein, dein Geschenk wartet.“

„Was kriege ich denn?“

„Sage ich nicht.“

„K’tir-yel!“

„Bis gleich, Kronprinz.“

„Das ist ein königlicher Befehl!“

Ketir schüttelte amüsiert den Kopf. „Ist gut, ich werde mich nachher wegen Missachtung auspeitschen und die Strafe persönlich überwachen, dokumentieren und Euch berichten.“

„Du …“ Das Kissen flog eine Armlänge an Ketir vorbei.

„Bitte nicht noch eins, mein Prinz, Ihr seht mich zitternd vor Angst und Eurer Gnade ausgeliefert.“

„Ach, putz mir doch die Stiefel! Und jetzt hau ab, ich will mich anziehen.“

„Reitkleidung, die hohen Stiefel, Handschuhe und den dicken Umhang für alle Fälle, dazu ein Messer und dein Schwert. Ich erwarte dich am Reitplatz.“ Ketir zwinkerte Mešúr zu und verschwand durch die Zelttür.

Mešúr sprang augenblicklich auf. Das klang nach Abenteuer!

Ketir erwartete ihn mit zwei voll ausgerüsteten Pferden – dicke Packtaschen und Stoffrollen an den Sätteln, Vorderzeug und Zweitgurt zur Stabilisierung des Sattels bei schwierigen Manövern und Halfter mit Strick unterm Zaumzeug. „Lust auf einen Ausritt, Geburtstagsprinz?“

„Immer!“ Mešúrs Augen flogen über das Gepäck. So viel Zeug! „Ist das da etwa ein Zelt?“

„Ist es.“

„Wir übernachten unterwegs?“, stieß Mešúr begeistert hervor und spürte, wie sein Gesicht zu glühen begann. „Das ist ja sowas von dicke!“

„Nun, wir können auch die Nacht durchreiten, aber das finde ich immer so ungemütlich.“

„K’tir-yel!“

„Jaja, ist schon gut – genug gefaselt, rauf jetzt und los.“

„Aber echt, Mann!“ Vor Aufregung konnte Mešúr kaum sein Schwert am Sattel befestigen, doch endlich saß es fest. Nun war er froh, dass er seine Dienerin Kakhali so zur Eile getrieben und auf eine geburtstagstaugliche Frisur verzichtet hatte – beim Reiten wäre diese ohnehin in Unordnung geraten, spätestens bei der Übernachtung. Er versuchte, sich ein wenig zu beruhigen, angelte mit dem Fuß nach dem Steigbügel und schwang sich auf das ihm zugedachte Pferd, einen dunkelgrauen Wallach. Mešúr war ihn schon einige Male beim Reitunterricht geritten, er war nicht ganz einfach. Hoffentlich machte er keine Probleme im Gelände.

Ketir stieg auf seine Stute und erriet wie so oft Mešúrs Gedanken. „Du kannst auch den Braunen haben, aber der ist, wie du zugeben musst, ein wenig langweilig.“

„Wird schon gehen.“

„Sicher?“

„Kannste wissen, aber auch, können wir jetzt endlich mal los?“

Sie konnten.

Im gemächlichen Schritt ging es davon, so dass die Pferde erst einmal ihre Muskeln aufwärmen konnten. Sie erklommen die sachte Steigung, die den kleinen Kessel umgab, in den das Zeltlager gebaut war. Auf dem umlaufenden Kamm angekommen trabten sie an. Mešúr folgte Ketir, der den Weg nordwärts einschlug, parallel zu den Bergen und Tälern.

„Wo reiten wir denn hin?“, rief Mešúr nach vorne.

„Mich dünkt langsam, wir sollten irgendwohin reiten, wo ich dir etwas Rhetorik beibringen kann“, gab Ketir lautstark über die Schulter hinweg zurück. „Deine Wortwahl lässt mittlerweile nicht einmal mehr zu wünschen übrig, willst du so als König Ansprachen halten?“

„Warum nicht?“, schrie Mešúr gegen den Wind an, der sie erfasste, als sie den Schutz einer Bergflanke verließen. „Das wäre doch mal was. ‚Höre, mein Volk, wir hören jetzt mit dem dusskadeligen Gekloppe auf, vertragen uns und mucken dicke zusammen was runter, und dann is sich endlich wieder Essig und Ruhe und so, aber echt, Mann, aber auch, und wer was dagegen hat, kriegt eins übern Zopf, kannste wissen!‘ Der Stadtrat wäre begeistert!“

„Der vielleicht nicht, aber sicherlich die halbe Weststadt.“

„Na, immerhin wäre irgendjemand begeistert.“

Ketir lachte laut auf. „So betrachtet wäre es sicherlich eine Steigerung gegenüber der gewöhnlichen Rezeption von Königsansprachen.“

„Können wir jetzt endlich mal galoppieren, oder was, Mann?“

„Es ist dein Geburtstag, Mešúr-ahanš, dein Wunsch ist mir Befehl.“

„Echt?“

„Echt.“

„Mann, da muss ich mir ja überlegen, wie ich das am besten ausnutze!“

Ketir antwortete nicht, sondern ließ seine Stute davonschnellen, und Mešúrs Grauer ließ sich gerne zu einem Rennen ermutigen.

Um die Mittagszeit machten sie auf einer kleinen Bergwiese Rast, legten den Pferden die Fußfesseln an und schlugen mit Decken und Proviant ihr Lager auf. Ketir hatte die Vorräte recht ordentlich geplündert, zwar nichts Luxuriöses, aber alles sehr sättigend und durchaus schmackhaft. Mešúr hatte sich längst an die Soldatenküche gewöhnt und fand, dass Trockenfleisch eigentlich sehr nett zu essen war, und selbst an den hier in den Bergen immer wieder servierten Fisch hatte er sich mittlerweile gewöhnt. Lieber aber waren ihm heute die hartgekochten Eier, das dicke Stück Schinkenspeck, die kleinen Pasteten mit einer Füllung aus Kräutern und Wachtelbrust und das große Stück Käse.

„Köftlif“, mampfte er und spülte mit etwas Wein nach. Den musste er sich gut einteilen, denn mehr als einen Becher voll wollte Ketir nicht herausrücken.

„Wenn du das hier köstlich findest, sollte ich dringend einen Koch zur Bildung deiner Geschmacksfähigkeiten einstellen.“

Mešúr schluckte. „Ich habe Geschmack. Aber für ein Essen zwischendurch ist das hier wirklich köstlich.“

Ketir neigte zustimmend den Kopf. „Den Umständen entsprechend.“

„Eben.“

„Für heute Abend habe ich noch etwas Kuchen dabei.“

„Mmmh!“

„Eben.“

Sie grinsten sich an, dann leerte Mešúr seinen Weinbecher und sah sich um. Hinter ihm und zu seiner Linken ragten steil Berge empor. Zum Glück stand die Sonne so hoch, dass kein Schatten auf sie fallen konnte, denn hier oben war es doch recht kühl. Rechts von Mešúr fiel die Wiese ab, ein kleiner Bach plätscherte dort entlang, um sich mit dem steiler werdenden Gelände zu einem schräg hüpfenden Wasserlauf zu entwickeln. Vor Mešúr aber brach die Wiese nach etwa fünf Schritten abrupt ab, denn hier erstreckte sich ein jäher, tiefer Abgrund, an dessen Boden Mešúr ein finster wirkendes Tal erspäht hatte, bevor Ketir ihn ärgerlich von der Kante wegkommandiert hatte. So schaute Mešúr eben nicht ins Tal, sondern auf die Berge dahinter, die sich Zug nach Zug weiter in den Norden schoben, bis zur Küste, glaubte Mešúr sich an die Landkarten in den Räumen seines Vaters zu erinnern.

„Warst du jemals am Meer, Ket-me?“

„Am Meer? Machst du Witze? Ich bin noch nie aus Šukath rausgekommen.“

„Ach so …“

„Wenn du was vom Meer hören willst, musst du meinen Bruder fragen, wenn er mal wieder vorbeischaut. Der ist sogar mit Schiffen gefahren und hat auf einer Insel gelebt.“ Ketir biss in eine Dattel und schüttelte den Kopf. „Man stelle sich das von, umgeben von Wasser, das man nicht trinken kann – welcher Gott mag sich diese vorzügliche Folter wohl ausgedacht haben?“

„Vermutlich derselbe, der für die Trugbilder in der Wüste verantwortlich ist“, mutmaßte Mešúr und nahm sich ebenfalls eine Dattel.

Ketir lächelte. „Aber der Gott, der die Idee für Berge hatte, der gehört gepriesen, kannste wissen. Berge sind schon etwas Feines. Wenn es nach mir ginge, könnte ich einfach meinen Mann und all unser Zeug packen und hierher in die Berge verfrachten, aber da würde er nicht mitspielen.“

Mešúr zwinkerte und starrte verlegen auf die entfernten Berge. „Ich vergesse immer, dass du verheiratet bist.“

„Sag’s niemandem – aber ich auch hin und wieder.“

„Aber das ist ja furchtbar!“, entfuhr es Mešúr, und er starrte Ketir entsetzt an. „Ich meine – es ist schlimm, dass ihr durch das Exil getrennt seid, aber deswegen darf man doch nicht aufhören, sich zu lieben!“

„Dumme Nase, davon habe ich doch kein Wort gesagt“, brummelte Ketir stirnrunzelnd. „Natürlich liebe ich ihn, aber ich sehe ihn seit Jahren kaum. Alle paar Wochen mal chiffrierte Briefe, in denen man trotzdem kaum was schreiben kann, falls sie abgefangen und entziffert werden. Ich weiß ja nichtmal, wie er heutzutage die Haare trägt.“

„Hm.“ Mešúr dachte darüber eine Weile nach, kam aber zu keinem Ergebnis. Er fand, dass man sich gefälligst anständig verlieben sollte, eben so, wie es die Geschichten sagten: so, dass man Tag und Nacht nur an den geliebten Menschen dachte, dass jede Trennung schmerzlich war und jede Zusammenkunft ein Fest. Er hatte sich fest vorgenommen, sich nur genau so zu verlieben und sich nicht mit weniger zufriedenzugeben. „Ich glaube nicht, dass man jemanden wirklich liebt, wenn man ihn vergessen kann.“

Ketir sah ihn an, erst scharf, dann jedoch milder, und schließlich lächelte er fast. „Und ich glaube, Meš-jú, dass du gerade fünfzehn geworden bist, niemals auch nur den Anflug von Verliebtsein und schon gar keine Liebe gespürt hast und all deine Weisheiten über die Bande zwischen zwei Menschen aus Singspielen, Epen, Schundromanen und wohlgemeinten Instruktionen höfischer Sittenwächter hast.“

Die Hitze, die Mešúr ins Gesicht schoss, war der Punkt unter dieser Konversation. Mit glühenden Wangen starrte der Kronprinz auf die Berge und hoffte, dass Ketir ihn nicht auslachte.

Er tat es nicht.

„Ganz unrecht haben sie ja nicht“, murmelte er stattdessen nach einer Weile. „So kann das sein. Aber wer kann damit schon leben? Wenn man getrennt leben muss, soll man dann täglich leiden? Wem nützt das? Beweist es Liebe, wenn man vor Einsamkeit nichts mehr isst und kläglich verhungert? Vielleicht ja. Aber es nützt der Beziehung nichts, wenn beide oder auch einer eingehen. Man kann nur zusammen sein, wenn man lebt – und man kann nur leben, wenn man lebt.“

„Mag sein. Was ich aber gar nicht verstehe, ist, wieso du – also – ich meine, du hast doch einen gewissen Ruf, nicht wahr?“, druckste Mešúr herum. „Und ich weiß, du hast ihn nicht völlig zu Unrecht. Und dennoch sagst du, du liebst deinen Mann. Wie passt das zusammen?“

„Meinst du, er sitzt seit Jahren in unserem Schlafzimmer und hat sich einen Knoten reingemacht?“

„K’tir-me!“

„Oder glaubst du, er hat mittlerweile entzündete Sehnen im rechten Handgelenk?“

„Ketir-methya!“

„Was willst du denn hören, Junge? Glaubst du ernsthaft, dass er all die Jahre lang alleine schläft? Warum sollte er? Ich tu es doch auch nicht. Und warum sollte ich auch, das eine hat doch mit dem anderen nichts zu tun.“

Mešúr schüttelte aufgebracht den Kopf, empört über die Anzüglichkeiten, aber auch über den Inhalt der übrigen Rede. „Ich würde nie mit jemandem ins Bett gehen, den ich nicht liebe!“

„Doch“, gab Ketir ruhig zurück, „das würdest du, und wahrscheinlich wirst du das auch. Nämlich spätestens dann, wenn deine Familie dir eine passende Verlobte organisiert hat und darauf wartet, dass du sie schwängerst, damit eure Familien die Hochzeit anberaumen können.“

„Aber“, setzte Mešúr an, doch ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können.

„Außerdem“, redete Ketir weiter, bevor Mešúr seine Gedanken sortieren konnte, „außerdem liebe ich meine Bettgefährten durchaus, solange sie in meinem Bett sind. Oder sagen wir: Ich schätze und respektiere sie dafür, dass sie bereit sind, meine Einsamkeit für einige Stunden zu vertreiben und mich von ihrer süßen Anwesenheit naschen zu lassen, und im entscheidenden Moment ist jeder von ihnen der einzige, den ich jemals lieben werde.“

„Ich glaube nicht, dass wir darüber reden sollten“, murmelte Mešúr und starrte angestrengt ins Gras.

Ketir schmunzelte und zuckte die Achseln. „Jeder Höhepunkt ist eine Welt für sich, deswegen kann man bei jedem Akt seinen Partner lieben bis zum Ende der Welt. Im Normalfall ist dieses Ende schließlich schon nach ein oder zwei Lidschlägen erreicht, das schafft man.“

„Das hat doch aber mit Liebe nichts zu tun“, erwiderte Mešúr heftig, „das ist doch nichts weiter als Lust!“

„Du sagst das so abfällig“, wunderte sich Ketir.

„An Lust ist doch auch nichts besonderes! Pferde, Hunde, ja, bestimmt sogar Heuschrecken empfinden Lust, aber Liebe macht aus uns Menschen etwas Besonderes, weil die Götter uns ihre Fähigkeit zu lieben gegeben haben.“

„Sag das mal Tholha-tawes Hund, der liebt seinen Herren, aber dicke.“

„Dicke Bohnen und fade Grütze, Ket-me, sagst du mir gerade, dass du deinen Mann so liebst, wie man einen Hund liebt?“

Ketir brach in schallendes Gelächter aus. „Nein“, schnaufte er, „nein, natürlich nicht. Entschuldige.“

„Siehst du.“

„Außerdem wäre ich eher in der Position von Tholhas Hund, nicht in Tholhas“, fügte Ketir mit einem Augenzwinkern hinzu.

„Veralber mich nicht.“

„Mach ich nicht.“

„Ach komm! Du bist Heerführer, du bist groß und stark und mutig, ein Deserteur und Abenteurer, und dein Mann ist doch nur Pferdezüchter.“

Ketir schüttelte belustigt den Kopf. „Ach, Junge.“

„Was denn?“

„Weißt du, was Hunde von ihren Herren unterscheidet?“ Als Mešúr ohne zu antworten den Blick senkte, fuhr Ketir fort: „Wenn ein Hund stirbt, leidet sein Herr und trauert, und dann kauft er einen neuen Hund, weil er nun einmal einen Wachhund braucht. Und nach einigen Wochen liebt er ihn genauso wie den alten Hund. Wenn der Herr eines Hundes stirbt, verliert der Hund seine Welt, und es ist sehr schwer, einem solchen Hund eine neue Welt zu bieten. Nicht wenige Hunde entscheiden sich dann einfach für den Tod.“ Ketir schaute gedankenverloren auf eine getrocknete Kaktusfrucht, nahm sie und biss hinein. „Ich bin ein definitiv ein Hund, und Kheyil ist definitiv kein Hund. Abgesehen davon, Meš-jú, hüte dich davor, das Leben eines Mannes nach Äußerlichkeiten zu beurteilen. Ja, mein Mann züchtet Pferde. Das macht ihn aber noch lange nicht zum Pferdezüchter.“

Mešúrs Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher wie ein Schwarm aufgeschreckter Bienen. „Was ist er denn dann?“

Ketir sah ihn lächelnd an. „Er ist ein Kollege von dir. Geboren als zweiter Sohn eines Königs, nach dem Tod seines älteren Bruders Kronprinz und als solcher kreuzunglücklich.“

„Nicht wirklich!“

„Doch wirklich. Ich war der Zimmersklave seines Bruders und nach dessen Tod der von Kheyil. Theoretisch könnte ich dir also den perfekten Diener geben, da ich alle Zeremonien rund um das Amt des Kronprinzen auswendig kenne, aber ich halte von all dem Gedöns nicht viel, also hoff nicht drauf. Kheyil hielt davon auch nichts, also habe ich ihm zur Flucht geholfen.“

„Zur Flucht?“

„Seinem Vater blieb nichts übrig, als ihn zu enterben und ins Exil zu schicken. In der Zeit habe ich meine Liebe für die Berge entdeckt.“ Ketir schluckte den Rest der Kaktusfrucht hinunter. „Meine Liebe für Kheyil habe ich erst später bemerkt, nachdem ich ihm verlassen hatte, um zur Armee zu gehen. Als ich ihn wiedertraf, war er ein junger Mann mit zwei Stuten und einem ziemlich mittelmäßigen Hengst, und ich war Sekretär des Heerführers der Khaji. Da haben wir festgestellt, dass wir uns lieben. Und seitdem haben wir beide nicht aufgehört, und da ich ein Hund bin, werde ich auch nie aufhören. Kheyil allerdings …“ Ketir schaute auf die Berge. „Bei Herren weiß man es nie so recht. Und jetzt genug davon – siehst du die Wolken da hinten? Ich will runter in ein Tal, bevor die heute Abend hier sind. Schwing deinen Hintern auf deinen Gaul!“

Es dauerte eine Weile, bis sie zum Abstieg in das Tal kamen, das Ketir als nächtlichen Rastplatz eingeplant hatte. Der Abstieg dauerte etliche Stunden und war für Pferde und Reiter sehr anstrengend. Mešúr war froh über die stabilisierenden Extragurte am Sattel, wenn der Graue einen besonders steilen Abschnitt hinunterstakste oder -schlitterte. An einigen Stellen mussten sie absitzen und die Pferde führen, zu belastend war das zusätzliche Gewicht auf den ohnehin schon recht beladenen Tieren. Geröll und Kiesel bröckelten unter Hufen und Schuhen davon, ein Stein kullerte abwärts, sprang über Kliffs und Vorsprünge, um dann hunderte Schritte tief im freien Fall hinabzustürzen. Mehr als einmal wurde Mešúr beim Blick hinab flau im Magen, also versuchte er, immer nur auf die nächsten paar Schritte zu schauen.

Endlich erreichten sie ein kleines Plateau und verschnauften kurz. Mešúr beäugte kritisch den weiteren Weg. Die Abhänge schienen etwas abzuflachen.

„Wir haben es bald geschafft.“ Ketir deutete hinab auf die grüne Fläche des Tals unter ihnen. „Siehst du den Teich dort? Und die Felsen daneben? Bei denen schlagen wir das Nachtlager auf, die bieten guten Schutz gegen das Wetter.“

Mešúrs Blick glitt von den punktgroßen Felsbrocken hinauf zum Himmel. Die Sonne stand im Südwesten und schien unbekümmert, doch von Norden her wurden die Wolken immer dichter. Dann und wann fanden heftige Böen ihren Weg hinab zwischen die Berge. „Meinst du, es wird ein richtiges Unwetter?“

„Ich hoffe nicht. Aber nass wird es bestimmt. Hier, iss was.“ Ketir reichte ihm einen Beutel mit Trockenfleisch und machte sich dann an seinen Packtaschen zu schaffen, um ein paar Handvoll Korn für die Pferde aus dem Vorratssack zu holen. Schweigend kauten Menschen und Tiere vor sich hin. Ebenso schweigend ging es danach weiter.

Mešúr wurde müde. Die Monotonie des Abstiegs und die dennoch erforderliche Konzentration forderten langsam ihren Tribut. Auch der Graue wurde langsam unwillig, stolperte einige Male ein wenig. Ketir sah sich besorgt um, sprach aber nicht. Was sollte er auch sagen? Sie mussten schließlich hinab. Ketir und seine erfahrene Stute waren ein eingespieltes Team, sie meisterten den Weg mit Anstrengung, aber ohne Probleme; der Graue jedoch wurde zunehmend unwilliger über diesen jungen Reiter, der nicht alle Ruckeleien ausgleichen konnte und des öfteren ins Schwanken oder Rutschen kam oder dem Grauen in den Rücken plumpste.

„Mach keine Zicken, hörst du?“, murmelte Mešúr. „Bleib weiter nett zu mir, kein Buckeln wie neulich beim Springen, dann kriegst du eine extra Handvoll Korn. Ja? He, du machst deine Arbeit richtig gut, weißt du das? So mit allen vier Hufen und dem ganzen Geröll hier, das ist bestimmt richtig schwierig, aber du schaffst das. Jawoll.“

„Quatsch ihm nicht auch noch die Ohren voll“, rief Ketir ihm zu, „der hat so schon genug zu tun.“

„Ich quatsche nicht, ich gebe ihm königliche Unterstützung!“

„Sag ich doch.“

„Treib’s nicht zu weit, K’tir-me, oder ich feuere dich, wenn ich jemals König werde.“

„Autsch. Na komm, wir haben es fast geschafft.“

Und irgendwann hatten sie es wirklich geschafft. Mešúr schloss für einen Moment die Augen.

„Schlaf nicht ein, das sind noch locker vier Meilen bis zum Rastplatz.“

„Du machst Witze.“

„Habe ich wirklich diesen unglaublich komödiantischen Ruf, oder wünscht du dir nur, dass ich ihn hätte?“ Ketir lenkte seine Stute neben Mešúr und grinste. „Aber du hast recht, es sind höchstens anderthalb. Wie wäre es mit einem Rennen?“

„Ich kann nicht mehr sitzen.“

„Na, umso besser, beim Rennen stehst du ja in den Bügeln.“

„Aber ich habe keine Beine mehr!“

Ketir betrachtete ihn grinsend. „Doch. Eins, zwei, mehr hattest du nie, alles da, wo es hingehört. Komm, Junge. Die Pferde sollen sich mal richtig strecken, sonst kriegen sie nach der Kletterei heute Verspannungen.“

„Und was ist mit meinen Verspannungen?“

„Mach halt nachher deine vierzig Liegestütze.“

Mešúr schüttelte finster dreinblickend den Kopf. „Du bist wirklich gnadenlos.“

„Ich bin Heerführer.“

„Den Titel werde ich ändern. Meine erste Amtshandlung.“ Unvermittelt trieb Mešúr den Grauen an, der überrascht zusammenfuhr und dann protestierend buckelte, antrabte, wieder buckelte und letztlich von Mešúrs Beinen und seinem aus tiefster Seele ertönenden Frustschrei in den Galopp getrieben wurde.

„Na, siehste“, sagte Ketir zufrieden zu seiner Stute, die dem davonstiebenden Paar versonnen hinterherschaute, „geht doch. Hopp, Alte!“

Nach dem flotten Galopp zockelten sie gemächlich mit langen Zügeln auf die Felsgruppe am See zu, damit die Pferde abschwitzen konnten. Die beiden Tiere streckten ihre Hälse und schnauften erleichtert, als wüssten sie genau, dass dort das Nachtlager lockte. Der Graue hatte sich mit Mešúr versöhnt und spielte zufrieden mit seinem Gebiss herum, während Ketirs Stute gedankenverloren daherschlenderte und sich die Landschaft anschaute. Mešúr spürte mehr als einmal, wie ihm fast die Augen zufielen; er fuhr jedes Mal abrupt hoch und erschreckte damit Ketir, der auch nicht viel wacher zu sein schien.

Endlich erreichten sie die Felsen und stiegen ab, befreiten die Pferde von Sätteln und Gebissen, legten ihnen die Fußfesseln an und streuten Korn aus. Während die Tiere sich stärkten, aus dem See tranken und sich dann über das reichlich wuchernde Gras hermachten, organisierte Ketir den Aufbau des Nachtlagers. Die dunklen Wolken waren nun schon über ihnen, eiskalte Winde fuhren hinab.

„Wir verzichten auf das Zelt“, entschied Ketir, „wir schlafen unterm Tarp zwischen den Felsen und nehmen die Zeltplane als Windfang an der Rückseite.“ Mešúr verstand nicht wirklich, was er wollte, knotete aber brav nach Anweisung Schnüre an die Enden der großen Öltuchplane. Dann kletterte Ketir auf einen der Felsen und ließ sich von Mešúr die erste Schnur hochwerfen, um sie dort zu befestigen – es waren metallene Ösen in den Fels geschlagen, sah Mešúr mit Staunen, offenbar wurden die Steine oft als Stützen für Nachtlager benutzt. Dasselbe Spiel wiederholte sich noch drei Mal, dann hing ihr Flachdach aus Öltuch fest vertäut zwischen den mächtigen Felsen und gab spukige Töne von sich, wenn eine Windbö dagegenfuhr.

„Ich kümmere mich um den Rest“, sagte Ketir, „such du etwas Feuerholz, bevor es anfängt zu regnen.“

Es gab keine größeren Bäume im Tal, aber reichlich Buschwerk. Dort lag Anbrennmaterial auf dem Boden: dürres Gras, Hölzchen und Stöckchen und so etwas ähnliches wie Zapfen. Mešúr sammelte reichlich davon in seinen Umhang, den er als Beutel benutze, und kehrte dann zum Lager zurück, um es vor den ersten fallenden Tropfen in Sicherheit zu bringen. Dann eilte er wieder davon, holte Zweige und kleine Äste. Als er das dritte Mal loszog, verdichteten sich die einzelnen Tropfen zu einem feinen Regen. Mešúr brachte seine Fuhre gerade zurück unters Tarp, als urplötzlich der Niesel zu einem Wolkenbruch wurde, fette Tropfen vermischt mit Hagelkörnern. Mešúr duckte sich unter das Öltuch und fröstelte unwillkürlich.

„Muss halt reichen“, meinte Ketir, der das Lager in der Zwischenzeit wetterfest und schlaftauglich gemacht hatte, „mehr als sammeln kannst du ja auch nicht. Hier, nimm die Decke. Bist du nass geworden?“

„Nur etwas feucht, das geht schon – ach, doch, die Stiefel.“ Mešúr machte sich daran, das feuchte Leder von seinen Füßen zu entfernen.

„Nicht, dass du frierst.“

„Ach was.“ Mešúr setzte sich auf die Satteldecken, die Ketir als Sitzmatten auf dem Boden ausgebreitet hatte, und hüllte sich in seine Schlafdecke. Der Wind fuhr wütend ins Tal hinab und knallte gegen die Zeltplane, die als Rückwand der selbstgebauten Höhle diente und sie vor Angriffen aus Nordost schützte. Der Ausgang lag gen Süden, dem Wind abgewandt, und Westen sowie Osten wurden sicher von den uralten Felsen beschützt. Laut prasselten Regen und Hagel auf das Tarp, prallten davon ab oder flossen in der Mitte hinab, um in einem lauten Rinnsal vor ihnen zu Boden zu pladdern.

Ein Schnauben, das durch den Lärm drang, ließ Mešúr aufhorchen. „Ach je, die Pferde!“

„Die stehen bestimmt zwischen den Felsen neben uns und verstecken sich dort vor dem Wind.“

„Aber klatschnass werden sie trotzdem.“

„Dagegen haben sie Fell. Mach dir keinen Kopf, mach lieber Feuer.“

Mešúr versuchte sich konzentriert am Aufbau des Lagerfeuers. Einige Male hatten ihm Soldaten gezeigt, wie man ein gutes Feuer baut, aber es fiel ihm immer noch schwer. Ketir meckerte aber nicht ein einziges Mal am Stapel aus Zunder, Stückchen und Kleinholz herum, was ein großes Lob darstellte. Zufrieden holte Mešúr Feuersteine und Stahl aus dem Gepäck und setzte sein Türmchen erfolgreich in Brand. Gemeinsam betrachteten sie das aufflackernde Feuerchen, fütterten es mit weiteren Hölzchen und schließlich mit größeren Zweigen und kleinen Ästen.

Ketir nahm den Topf und stellte ihn kurz unter das heftige Geplätscher, das vom Tarp herunterfloss, und befüllte ihn mit den Inhalten eines Rationsbeutels: Trockenfleisch, Trockenfisch, getrocknete Gelbwurze und Fellschoten, ein paar trockene Pilze und Heuschrecken, Hartkäse und natürlich Salz. Die Rationsbeutel, das hatte Mešúr mittlerweile erfahren, waren Ketirs Erfindung. Sie hatten eine Lagerküche überflüssig gemacht – nun brauchte jede Zelteinheit aus zwei Mann nichts weiter als ein Feuer und einen Topf, um satt zu werden. Etliche Lagerjungen verdienten sich Geld, indem sie die Beutel nach Vorschrift befüllten, tagtäglich unter Aufsicht im Vorratslager. Das Ergebnis der aufgekochten trockenen Zutaten schmeckte nicht umwerfend, aber es machte satt, und vor allem machte es die Vorratshaltung einfacher, da die Bestandteile kaum verderben konnten.

Während sie warteten, bis die trockenen Krümel zu einem matschigen Eintropf verkochten, hockten sie nah am Feuer und wärmten sich. Immer wieder schlug der Wind mit harten Fäusten gegen Tarp und Rückwand, presste einzelne Wassertropfen in die künstliche Höhle. Mešúr fröstelte.

„Nach dem Essen geht’s besser“, munterte ihn Ketir auf. „Müde und hungrig ist alles immer doof.“

„Mh.“

„Hattest du Angst beim Abstieg?“

„Etwas, also, wenigstens manchmal“, gab Mešúr zu.

Ketir nickte. „Ich wollte eigentlich weiter nördlich absteigen, da ist der Abhang deutlich flacher. Aber dann wären wir jetzt noch nicht hier oder kämen gerade erst an, weil wir erst einen ziemlichen Bogen oben auf dem Kamm hätten schlagen müssen.“

„War schon gut so“, Mešúr gähnte, „wir haben es ja geschafft, und jetzt weiß ich wenigstens, dass ich auch mit steilen Abstiegen klarkomme.“

Ketir erlaubte sich ein zufriedenes Lächeln, klopfte Mešúr sacht auf den Rücken und rührte dann im Topf herum, dessen Inhalt langsam dickflüssig wurde. „Wenigstens wirst du heute Nacht gut schlafen“, meinte er dann, „so müde, wie du guckst.“

„Mh-hm.“ Mešúr gähnte abermals. „Hoffentlich hört der Regen auf, bei dem Krach schlafe ich bestimmt nicht.“

„Warte mal ab, wie lange du wach bleiben kannst, wenn dein Bauch erst einmal voll ist.“

„Mh.“ Mešúr fiel urplötzlich auf, dass es recht eng in ihrer Planenhöhle war. Er würde sehr dicht bei Ketir schlafen müssen. Er hatte noch nie dicht bei irgendjemandem geschlafen. Sein Zelt teilte er sich zwar mit seiner Dienerin Kakhali, aber er schlief im Bett und sie auf ihrem Lager in der Ecke – und das Zelt war ziemlich groß. Seite an Seite mit jemandem zu schlafen, das würde merkwürdig werden. Noch dazu mit einem Mann, der für seine Vorliebe für junge Burschen bekannt war. Mešúr spürte, wie er errötete, und war froh, dass es bereits dämmrig war und das Feuer einen roten Schein auf sie beide warf.

Dieses Nachtlager war mehr als unziemlich. Eigentlich, überlegte Mešúr, war es schon mehr als unziemlich, dass er überhaupt auf diesen Ausritt mitgekommen war – alleine mit Ketir, ohne Kontrolle durch anständige Erwachsene, da konnten die Soldaten im Lager ja die wildesten Sachen hineinspekulieren. Vermutlich taten sie das auch. Ach du liebe Güte! Was die wohl für blöde Sprüche von sich geben würden, wenn er und Ketir morgen wieder heimkehrten? Die mussten ja denken, dass …

Mešúr schüttelte sich unwillkürlich.

„Du frierst doch“, brummelte Ketir.

„Nein, wirklich nicht. Hab nur – egal. Wann ist das Essen denn endlich fertig?“

Ketir rührte abermals im Topf herum. Mešúr fiel erst jetzt auf, dass das Feuerholz sich dem Ende neigte. Hatte er so lange vor sich hingedöst?

„Ist fertig“, sagte Ketir, „hol das Geschirr.“

Die hölzernen Schalen und Löffel lagen hinter ihnen bereit und waren rasch mit der nun zähflüssigen Masse gefüllt. Undefinierbare Klümpchen machten sich darin breit, aber das Zeug schmeckte deutlich besser, als es aussah, und vor allem war es reichlich. Dennoch blieb nichts übrig, am Ende kratzte Mešúr den Topf aus bis auf den leicht angebrannten Bodensatz.

Wohlige Wärme breitete sich langsam von seinem Bauch her aus und schien ihm die Augen zuzudrücken.

„Leg dich lieber gleich hin, bevor ich das für dich machen muss“, zog Ketir ihn auf.

Kurz kamen Mešúr die Gedanken wieder in den Kopf, die er vor dem Essen hatte, doch sie konnten sich in seiner Müdigkeit nicht festsetzen. Also nickte er nur und machte es sich unter seiner Decke so gemütlich wie möglich. Irgendwann schreckte er auf, weil Ketir sich im letzten Glimmen des Feuers neben ihn legte, doch er schlief sofort wieder ein.

Irgendwann fuhr Mešúr mit schmerzendem Hinterkopf hoch und brauchte einen Moment, bis er merkte, dass ihn eine seiner Haarnadeln gestochen hatte. Ärgerlich pulte er in der Dunkelheit an seiner Frisur herum und lag Probe, doch die Nadel ließ sich nicht mehr schmerzfrei platzieren, also zog er sie schließlich frustriert heraus und hoffte, dass die restlichen Nadeln seine Frisur durch die Nacht kriegen würden. Er wollte nicht beim Frühstück mit verzottelten Haaren neben Ketir sitzen, das wäre unglaublich peinlich …

Erst jetzt fiel Mešúr auf, wie ruhig es war. Der Regen hatte aufgehört, auch der Wind war abgeflaut. Leises Tröpfeln hier und da war das einzige, das er außer Ketirs Atemzügen hören konnte. Gut so, er hatte schon fast befürchtet, dass sie am nächsten Tag durch Sturm und Regen heimreiten mussten. Andererseits wäre das eine gute Entschuldigung für eine derangierte Frisur, die so leider ausfiel …

Etwas besorgt legte er sich wieder hin und versuchte, wieder einzuschlafen, doch leider war er nun wach genug, um seine eiskalten Füße zu bemerken. Er rieb sie gegeneinander, zog die Beine an den Bauch und versuchte so, ihnen etwas Wärme zukommen zu lassen.

„Liegst du jetzt mal still und pennst?“, knurrte Ketir verschlafen.

„Tut mir leid. Meine Füße sind so kalt.“ Mešúr setzte sich auf. „Ich zieh mir die Stiefel an.“

„Die nassen Dinger? Du spinnst wohl, die wärmen doch nicht.“ Ketirs Decke raschelte. „Leg dich hin und schieb mir die Füße rüber, ich bin warm genug.“

„Ich – das geht doch nicht.“

„Wieso nicht?“

„Ketir-methya, das ist mehr als unschicklich!“

Ketir seufzte. „Ich sag’s auch keinem. Jetzt her mit den Dingern, bevor du dir noch eine Erkältung holst. Oder muss ich erst schwören, dass mich deine Eisblöcke nicht in wilder Lust über dich herfallen lassen werden?“

Wenn dieser Mann nur nicht immer so direkt und sarkastisch wäre! Mit flammendem Gesicht legte sich Mešúr wieder hin und schob die Füße rückwärts Richtung Ketir, der bei ihrem Weg unter seine Decke nachhalf. Mollig warme Beine beendeten den Weg. Mešúrs Füße schienen erleichtert aufzuatmen, auch wenn sich der Rest von Mešúr fürchterlich schämte.

Hinter ihm lachte Ketir leise. „Jetzt weiß ich endlich, was mein Bruder durchleiden musste.“

„Wieso?“

„Ach, als ich klein war, bin ich im Winter immer nachts zu ihm geschlichen und habe mir an ihm die Füße gewärmt. Er fand das überhaupt nicht witzig, aber ich habe nie gewusst, wie furchtbar kalt Füße sein können.“

„Das war deine Idee.“

„Ich weiß. Ist ja auch in Ordnung. Und jetzt schlaf.“

Draußen krakeelten Vögel. Sonnenlicht fiel auf Mešúrs Füße. Er streckte den Hals, um hinauszusehen, und kam sich sehr beengt vor.

„Iroš Ketir-methya!“, fauchte er empört und wand sich aus der Umarmung, in die er des Nachts hinterrücks geraten war.

Ketir blinzelte verschlafen. „Was’n?“

„Behaltet Eure Finger gefälligst bei Euch, ist das klar?“

„Wie bitte?“ Ketir setzte sich auf, starrte Mešúr stirnrunzelnd an und brach dann in herzhaftes Gähnen aus. Langsam schien sein Verstand aufzuwachen. Er blinzelte, stutzte und bekam urplötzlich einen ziemlichen Hundeblick. „Tut mir leid, Junge. Ich schlafe selten alleine, das ist alles – im Schlaf denkt man halt nicht, ich habe wohl angenommen, du seist einer der Lagerjungen.“

Mešúr schnappte nach Luft.

„Also, nimm’s nicht persönlich, ja?“ Ketir gähnte abermals und streckte sich dabei. „Komm, lass uns frühstücken.“

„Ein Lagerjunge? Du hast mich für einen Lagerjungen gehalten?“, zischte Mešúr fassungslos.

Ketir zuckte die Achseln. „Du bist ein Junge, du hast neben mir geschlafen, da kommt so ein Irrtum rasch vor.“

„Du kannst mich doch nicht ernsthaft mit einem Lagerjungen verwechseln!“

„Und warum nicht?“, gab Ketir leicht gereizt zurück. „Alter stimmt, Größe stimmt, freches Mundwerk stimmt, und ganz ansehnlich bist du ja auch, also genau genommen durchaus mucktauglich. Außerdem schaue ich nachts nicht nach, wer da in meinem Bett liegt.“

„Ich lag aber nicht in deinem Bett“, schrie Mešúr, „wenn überhaupt, dann lagst du in MEINEM Bett, schließlich bin ich von uns beiden der Ranghöhere, also ist das hier rechtmäßig MEIN Lager! Klar?“

„Ach ja?“ Ketir wühlte sich wütend aus dem Deckengewirr. „Dann sorg mal für Frühstück in DEINEM Lager, während ich MEINEN gesegneten Körper in den See befördere, um eventuelle Rückstände DEINES Körpers zu beseitigen, bevor du mich wegen Hochverrats eigenhändig hinrichtest!“ Und während er leise Verwünschungen und Flüche murmelte, krabbelte er aus der Planenhöhle und ließ Mešúr wütend, verletzt und beschämt zurück.

„Ein Lagerjunge“, knurrte er und wühlte im Gepäck nach Essbarem. „Der kann mir doch die Stiefel putzen und anschließend sauberlecken, der Bretze, aber echt, Mann, aber auch!“ Er förderte gedörrte Datteln und Trockenfleisch zutage, einige Streifen Salzfisch und schließlich sogar Kräuterquarkküchlein.

Vor allem aber, so merkte er, als er mit dem Essen anfangen wollte, hatte er Durst.

Und außerdem musste er dringend mal.

Grummelig rappelte sich Mešúr auf, zog seine feuchtkalten Stiefel an, wickelte sich in den ebenfalls feuchtkalten Umhang, nahm seinen Becher und tappste hinaus ins feuchtkalte Gras. Wenigstens war die Sonne trocken und warm. Er sah sich nach Ketir um, doch der war nicht zu sehen. Gut so. Mešúr stellte den Becher sicher auf einem Stein ab und ging zwischen den Felsen umher, fand eine ruhige Nische und erleichterte sich dort; in einer Steinmulde war Regenwasser aufgefangen worden, das perfekte Handwaschbecken. Anschließend nahm Mešúr seinen Becher und füllte ihn an einem anderen Steinbecken, trank und füllte ihn erneut. Dann kehrte er zur Zelthöhle zurück.

Ketir hockte mit nassem Haar vor dem Eingang und sah kurz auf, als er Mešúr hörte; dann widmete er sich wieder den Vorräten. Mešúr setzte sich neben ihn und begann zu essen. Sein Magen knurrte in freudiger Erwartung, aber er hätte viel lieber Milch zum Trockenfleisch gehabt oder vielleicht etwas Fleischbrei mit Marmelade. Naja. Satt wurde man von dem Zeug hier ja immerhin auch.

Erst jetzt, wo Hunger und Durst abebbten und ihn auch die Blase nicht mehr drückte, merkte Mešúr, dass er unmöglich aussehen musste. Anscheinend hatte er sich im Laufe der Nacht auch von den anderen Haarnadeln befreit, denn seine beiden Zöpfe hingen strubbelig an ihm herab. Verlegen stopfte Mešúr sie sich in den Kragen. Ketir tat galanterweise, als bemerke er dies nicht, doch als Mešúr zum dritten Mal eine vorwitzige Haarsträhne ins Gesicht fiel, die sich aus dem Geflecht befreit hatte, wandte er sich mit einem Grinsen ab.

„Ja, ich weiß“, giftete Mešúr, „ich sehe unmöglich aus.“

„Tust du“, gab Ketir lieblich zurück. „Aber falls es dich beruhigt: nicht wie ein Lagerjunge, die haben ja viel kürzere Haare.“

Sie schauten sich einen Moment an, dann gab Mešúr auf und lachte. Ketir stupste ihn freundschaftlich mit dem Ellbogen an und schob ihm noch ein Quarkküchlein hin. „Ist gut fürs Knochenwachstum.“

„Danke.“ Mešúr verschlang das Küchlein in drei Hapsen. „Einerseits bin ich ja froh, dass hier kein Spiegel ist und ich das Chaos nicht sehen muss, aber wie ich mich ohne Spiegel frisieren soll, dass mich nicht das halbe Lager bei der Rückkehr auslacht, weiß ich auch nicht.“

Ketir zuckte mit den Achseln, wühlte in einer Packtasche und zauberte zwei hartgekochte Eier als Nachtisch hervor. Anschließend wühlte er etwas tiefer, mit einem kleinen Bronzespiegel als Ergebnis.

Mešúr starrte ihn fassungslos an. „Du schleppst einen Handspiegel auf einen zweitägigen Ausflug?“

„Sei du mal ein Yist und rasier dich, dann weißt du, wieso.“

„Ja, Götter, dann rasierst du dich eben mal einen Tag lang nicht!“

„Weißt du, wie ich dann aussehe?“, fragte Ketir pikiert.

„Natürlich nicht, du rasierst dich ja täglich.“

„Eben.“

Mešúr schüttelte den Kopf. „Du spinnst, Ket-yel.“

„Ich falle eben nicht gerne mehr auf als nötig.“

„Du bist immer so gut frisiert und gekleidet, dass du dadurch weitaus mehr auffällst, als wenn du dich nicht rasieren würdest. Ehrlich, Mann.“

„Und du gehst immer dermaßen wegen kleinster Anzüglichkeiten und Andeutungen an die Decke, dass du dadurch weitaus mehr Anzüglichkeiten und Andeutungen provozierst, als wenn du die einfach mit einem Lächeln abtun würdest.“ Ketir sah ihn ernst an. „Außerdem mag ich deine Abfälligkeit gegenüber den Lagerjungen nicht. Du tust dir doch ständig so leid, dein schweres Los als flüchtiger Kronprinz und all das. Etliche der Jungen haben es weitaus schlimmer getroffen, sind aus Bordellen geflohen oder vor prügelnden Vätern, die ihnen nicht einmal einen Namen geben wollten. Wie wäre es, wenn die Jungen dir mal zur Abwechslung leidtäten? Nebenbei bemerkt wirst du seit über einem Jahr von uns allen verwöhnt, wieso schaust du dann auf Jungen herab, die sich ihr Essen in dieser Zeit durch harte Arbeit im Lager ehrlich verdient haben? Oder glaubst du, Wäsche waschen, Essen kleinschnibbeln oder Pferdeäppel durch die Gegend schleppen ist nichts weiter als nette Ablenkung von der täglichen Langeweile? Und nur, weil hier und da mal ein Muck mit ein paar der Soldaten oder Offiziere ins Zelt mitgeht, schaust du auf die ganze Meute herab? Ohne sie hättest auch du keine saubere Wäsche, ist dir das eigentlich klar? Das gesamte Lager funktioniert ohne sie nicht.“

Mešúr schluckte hart und suchte nach einer Antwort auf die vielen Fragen, aber ihm schwirrte der Kopf.

„Ist schon gut“, brummelte Ketir nach einigen Momenten. „Denk einfach mal drüber nach. Mehr verlange ich nicht.“

Mešúr nickte. Ihm war der Appetit vergangen, also legte er seine restlichen Streifen Trockenfleisch zurück zu den anderen Vorräten. „Tut mir leid, K’tir-me.“

„Schon gut.“

„Ich vergesse immer, dass du auch so bei der Khaji angefangen hast.“

„Macht das einen Unterschied?“

„Ja.“

„Ach, und warum?“

„Weil du weißt, wie das ist. Von beiden Seiten, meine ich – als Lagerjunge und als Soldat und Heerführer.“

Ketir nickte langsam. „Gute Antwort. Bist also doch kein hoffnungsloser Fall. Ich hätte es nur schön gefunden, wenn du dich im Laufe des Jahres mal versuchsweise mit einigen von ihnen angefreundet hättest, aber es war sehr deutlich zu erkennen, dass dies meilenweit unter deiner Würde ist.“

„Du hältst mich für eingebildet?“

„Nein, ich halte dich nicht dafür, du bist es. Was für einen Kronprinzen bei Hofe nicht nur verständlich, sondern lebenswichtig ist, deswegen meckert dich auch keiner an. Aber in einem Armeelager fällt es halt doch sehr auf.“

„Ich – ich bin nicht eingebildet.“

Ketir sah ihn skeptisch an. „Und warum redest du dann nie mit ihnen?“

„Sie machen mir Angst“, murmelte Mešúr beschämt.

„Angst?“, rief Ketir verdutzt aus. „Bist du dusskadelig? Wieso hast du vor den Jungs denn Angst?“

„Die – die sind alle so laut, und so direkt, und außerdem kloppen die sich ständig aus Spaß und kümmern sich nicht mal um aufgeplatzte Lippen oder blaugeschlagene Augen …“

„Götter, Junge, dich würden sie doch nicht schlagen!“

„Weiß man’s?“

Ketirs fassungsloser Gesichtsausdruck wandelte sich zu einem Grinsen, das von einem Lachen gekrönt wurde. „Falls dir jemals einer von ihnen eins verpasst, kannst du dich geschmeichelt fühlen, dann haben sie dich als gleichwertig akzeptiert.“

„Ich glaube, ich verzichte.“

„Darfst du ja auch. Ich finde nur, du solltest Freunde in deinem Alter haben. Immer hängst du mit Fenan und mir herum, und natürlich mit Kakhali und deinen Zeltwachen – auf Dauer ist das doch nichts für einen Jungen.“

„Hm.“ Mešúr schluckte. „Ich hatte aber noch nie Freunde in meinem Alter. Zuhause hatte ich überhaupt keine Freunde. Da gab’s ja nur die Diener und Berater.“

„Na“, meinte Ketir freundlich, „dann wird’s aber langsam mal Zeit, findest du nicht?“

„Aber jetzt ist es doch eh vorbei, oder?“ Mešúr kam sich fürchterlich inkompetent vor. „Alle halten mich für eingebildet, ich habe noch nie mit den Jungen gesprochen, die werden mir was husten, wenn ich sie plötzlich grüße.“

„Unterschätz die mal nicht. Außedem wissen sie, dass ich ihnen was huste, wenn sie dir was husten.“

„Das artet ja in eine Grippewelle aus.“

Sie grinsten sich breit an, dann fingen sie wie auf ein stummes Kommando an, das Lager aufzuräumen und abzubauen.

Es dauerte eine Weile, bis alles zusammengeräumt war. Die Planen mussten gefaltet und gerollt werden, ebenso die Decken; das Kochgeschirr musste gereinigt, das restliche Proviant für unterwegs greifbar verstaut werden. Nach Ketirs Anweisung organisierte Mešúr das Gepäck, alles fein sortiert und bereit zum Verladen auf die Pferde. Die hatte Ketir bei seinem morgendlichen Bad entdeckt, sie grasten am Seeufer.

Er zog also los, um sie zu holen, und gab Mešúr damit Gelegenheit, in Ruhe seine Haare zu ordnen. Die meisten der verschollenen Haarnadeln waren beim Abbau wieder aufgetaucht, so dass er mit Hilfe von Ketirs Spiegel eine einigermaßen vorzeigbare Frisur basteln konnte. Wie es wohl in einem Jahr sein würde, wenn er sechzehn wurde und die Haare so tragen konnte, wie er wollte … Mešúr fragte sich, ob er sich ohne die fest geflochtenen, hochgesteckten Zöpfe überhaupt wohlfühlen würde. Aber darüber musste er sich ja jetzt noch keine Gedanken machen.

Ketir kehrte mit den Pferden zurück, die skeptisch die Satteltaschen beäugten. Ihre Laune besserte sich sichtlich, als Ketir ihnen den Großteil des restlichen Korns hinschüttete. Während sie gierig schlabberten, wurden sie geputzt, gesattelt und bepackt, und anschließend ging es Richtung Heimat.

Diesmal nahmen sie den längeren Weg im Norden des Tals, wo langgestreckte Kurven entlang der Bergflanken einen gemächlichen Ritt erlaubten. Mešúr dachte an den gestrigen Abstieg, der hier sicher deutlich entspannter abgelaufen wäre – dafür aber hätte er nicht beweisen können, dass er auch den steilen Abstieg schaffen konnte. Eigentlich musste er dem Sturm also dankbar sein.

„Heute ist die Aussicht besser“, schien Ketir seine Gedanken erraten zu haben und hielt seine Stute an, um einen Blick hinab ins Tal zu werfen. Mešúr tat es ihm gleich. Dort unten zwischen den Felsen meinte er dunkel die Brandstelle des Lagerfeuers erkennen zu können, aber vielleicht war das auch nur ein Schatten.

„Weißt du, ich habe noch nie unterwegs übernachtet“, sagte Mešúr. „Ich meine, schon, auf der Flucht vom Palast zu eurem Lager, aber das zählt nicht.“

„War dein reizender Vetter hundertzwölften Grades keine angenehme Begleitung?“ Ketir grinste.

„Hör mir bloß mit dem auf“, knurrte Mešúr. „Und Elithakh, dieser Verräter!“

„Denk nicht an die Idioten, die liegen hinter dir.“

„Stimmt wohl. Ich frage mich nur, was vor mir liegt.“

„Na, erst einmal noch ein paar Meilen und nachher ein ordentliches Essen in Fenans Zelt. Alles andere ergibt sich eh von selbst. Die Zukunft macht immer, was sie will, egal, was man plant. Oder glaubst du, ich hatte irgendwann mal den Plan, mit einem Todesurteil befrachtet den Kronprinzen vor seiner Familie und anderen Schakalen zu beschützen?“

„Wohl eher nicht“, gab Mešúr zu.

Sie ritten weiter bergauf. Es dauerte recht lange, bis sie den Bergkamm erreichten, auf dem sie tags zuvor hergeritten waren. Dort machten sie erst einmal Rast und ließen die Pferde auf einem kleinen Grasflecken grasen und an einem Bach trinken, während sie sich mit Fleischküchlein stärkten.

„Ket-yel“, fing Mešúr zögerlich an, „darf ich dir mal eine Frage stellen, wie man sie nur guten Freunden stellt?“

„Wir sind doch Freunde, also raus damit.“

„Sie ist glaube ich nicht angemessen.“

Ketir grinste. „Freundschaft zwischen einem minderjährigen Kronprinzen und einem Heerführer unter Todesurteil ist auch nicht gerade angemessen. Also, was willst du wissen?“

Mešúr errötete und ärgerte sich mal wieder über seine eifrige Gesichtsdurchblutung. Ständig machte die, was sie wollte. „Ich würde nur gerne wissen, wann … ich meine … wie alt warst du, als du zum ersten Mal – du weißt schon.“

„Als ich mit jemandem geschlafen habe?“, fragte Ketir belustigt.

„Ja.“

„Vierzehn“, gab Ketir zurück.

„So jung!“

„Wenn man nicht gerade als behütete Pflanze aufwächst, passiert sowas eben mal.“

„Aber doch nicht vor dem sechzehnten Geburtstag!“

Ketir lachte. „Na, dann frag mal im Lager rum.“

„Ich meine doch nicht die Jungen.“

„Ich auch nicht.“

„Was? Wer?“

„Fenan zum Beispiel. Und die anderen Offiziere. Mir fällt eigentlich niemand ein, der bis sechzehn gewartet hat.“

„Nein!“

„Doch.“

„Bin ich so ein fürchterlicher Spätzünder?“

Ketir zögerte, zuckte schließlich mit den Schultern und antworte lächelnd: „Ja. Aber mach dir nichts draus: Gemessen am Durchschnitt von Soldaten bist du ein Spätzünder, aber gemessen am Durchschnitt behüteter Adelssprosse bist du sicher absolut schockierend freizügig, wagemutig und aufregend.“

Mešúr dachte kurz darüber nach und war zufrieden.

Ketir lachte. „Also dann, wagemutiger Rabauke, lass uns weiterreiten.“

Nun, da es recht flach voranging, trabten sie an, hin und wieder bot sich auch eine gute Strecke für Galopp. Die Pferde genossen es sichtlich, streckten sich und ließen sich nur ungern zügeln, also war es einfacher, sie laufen zu lassen. Irgendwann reichte es ihnen, sie verlangsamten das Tempo, fielen auf Kommando in den Schritt, senkten die Köpfe und schnauften fröhlich.

„Langsam reitest du schon annähernd alltagstauglich“, meinte Ketir.

„Echt? So gut?“

„Werd bloß nicht übermütig. Hast du eigentlich schonmal jemanden geküsst?“

„Was? Äh – nein. Wen denn auch?“

„Gute Frage“, brummelte Ketir. „Und blöde Frage von mir.“

„Eben.“

„Ewig wirst du ja nicht bei uns bleiben. Wirst schon sehen, wenn erst einmal wieder Ruhe in der Stadt ist und du zurück kannst, ergibt sich schon was.“ Ketir klang nicht so, als glaubte er wirklich daran. Mešúr konnte es ihm nicht verübeln, er tat es ja selbst nicht. Frieden war noch nicht einmal mit einem Fernrohr zu erspähen, die Adelshäuser bekriegten sich weiter mit Hingabe, mit den Sangrati und mit Rebellen. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

Am frühen Nachmittag bot eine kleine Wiese abermals eine Pause an, bei der die Pferde die letzten Kornreste verdrückten, während ihre Reiter alles Essbare mümmelten, was sich sonst noch im arg geschrumpften Gepäck fand. Mešúr hatte Glück und fing mit viel Geschick einen fetten Grashüpfer, den er allerdings brüderlich mit Ketir teilte. So richtig satt wurden sie nicht, also ging es bald weiter. Der umständliche Aufstieg hatte viel Zeit gekostet, und Mešúr freute sich auf ein gut zubereitetes Essen und sein eigenes Bett in seinem eigenen Zelt.

Es war Abend, als sie endlich das Lager erreichten, denn Ketirs Stute hatte sich kurz davor ein Eisen losgetreten, so dass er sicherheitshalber abstieg und sie führte. Mešúrs Magen knurrte Fenan zur Begrüßung an, dass der Offizier laut lachte. „Ebenfalls hallo.“

Zwei Lagerjungen huschten heran, eifrig und eindeutig mehr an Ketir als an den Pferden interessiert. Ketir drückte einem von ihnen die Zügel in die Hand. „Räum sie auf und bring sie dann gleich rüber zur Schmiede, klar?“

„Klar, Iroš-haya.“

„Dann ab dafür.“

Mešúr hatte sich während des Gesprächs vom Grauen gewälzt und stand nun mit ziemlich müden Beinen neben ihm, um ihm zum Dank den Sattelgurt zu lockern und anschließend die Nase zu kraulen.

„Hat er sich benommen?“, fragte Fenan.

„Ja, er war echt gut zu reiten“, antwortete Mešúr.

Fenan grinste. „Ich meinte eigentlich Ketir.“

Mešúr schoss wieder einmal das Blut ins Gesicht.

„Wir waren alle vier anständig“, gab Ketir trocken zurück. „Und der Prinz lernt irgendwann vielleicht sogar reiten.“

Fenan lachte. „Na, ich sorge dann mal für das Essen, dann könnt ihr mir ja alles vom Ritt erzählen. Bis gleich in meinem Zelt!“ Und damit wandte er sich ab und verschwand.

„Magst du den Grauen?“, fragte Ketir.

„Oh ja! Nichts gegen den Braunen, aber …“

„Aber er ist eine Schnarchnase.“

„Ja.“

„Tja, dann behalt wohl besser den Grauen“, brummelte Ketir, streckte sich und machte sich daran, Fenan zu folgen.

Mešúr zögerte verunsichert. Er kannte Ketir mittlerweile doch recht gut, aber so gut dann auch wieder nicht, sicher las er zuviel in die Worte … oder? „Behalten?“, krächzte er aufgeregt.

Ketir drehte sich um und grinste breit. „Na, glaubst du, ich schenke dir einfach nur einen Ausritt?“

„Danke!“

„Denk dir schon mal einen Namen für ihn aus, wenn du magst. Und jetzt husch und los und hopp, sonst wird Fenans Futtertrog kalt.“

Mešúr nickte, doch Ketir schaute schon längst wieder Richtung Zelt. Neben Mešúr wartete noch immer der Lagerjunge. „Oh – äh – würdest du?“, murmelte Mešúr verlegen und hielt ihm die Zügel hin. Der Junge warf ihm einen recht abfälligen Blick zu und nahm die Zügel.

„Wenn – also“, haspelte Mešúr, „falls du magst, kannst du ihn ja noch etwas trockenreiten. Musst du aber nicht. Also, ich meine, ganz wie du willst, ja?“

Der Junge blies sich eine Haarsträhne aus den Augen und musterte Mešúr, als sei er ein besonders kurioses Insekt, das plötzlich zu sprechen gelernt hatte. „Is jetz Euer, näch?“

„Ja.“

„Kein drotziger Gaul.“

„Ja, er ist ein tolles Kerlchen.“

Der Junge nickte fachmännisch. „Blitzsche Schulter, aber ’n büschn mau im Rücken. Müssta aufpassen, sonst issa in ’n paar Jahren platt.“

„Fenan gibt mir ja Unterricht.“

„Mh. Morkig atzeliger Reiter, aber der Heerführer is besser.“

„Stimmt wohl, aber den schlägt hier ja auch keiner.“

„Hier nich und sonst nirgens nich nirgendwo, kannste wissen, Mann.“ Zur Bekräftigung spuckte der Junge schwungvoll auf den Boden.

Mešúr nickte und war sehr mit sich und seinem allerersten Gespräch mit einem Lagerjungen zufrieden. „Wie heißt du?“

Der Junge sah ihn skeptisch an. „Was wollta das wissen?“

„Einfach nur so.“

„Pežor nenn’n se mich hier.“

„Dann danke, dass du dich für mich um ihn kümmerst, Pežor. Und wie gesagt – du kannst ihn gerne trockenreiten.“

„Könnta drauf pissen, Prinz, mach ich glatt.“ Pežor nickte ihm kollegial zu und führte den Grauen davon, um ihn von Sattel und Gepäck zu befreien.

„Kannst drauf pissen, dass ich nicht drauf pissen werde“, murmelte Mešúr so, dass ihn niemand hören konnte, und kam sich mächtig soldatisch vor.

Schreibe einen Kommentar