Eine Familiengeschichte

Inhaltsverzeichnis

Teil 1: Paiti

Sie kamen immer einen Tag nach Neumond, das war mittlerweile klar. Paiti erwartete sie mit einer Mischung aus Aufregung, Hoffnung und Angst. Beim letzten Mal war alles gutgegangen für das Dorf, Waren wurden mitgenommen und der Gegenwert übergeben, schweigend und mit kühlen Blicken, aber er wurde übergeben, nicht wie das Mal zuvor. Aber beim letzten Mal waren sie auch nur zu dritt gewesen, der junge Mann und die junge Frau und das Mädchen. Davor war der Vierte dabeigewesen, der Älteste. Der mit den gruseligen Augen.

Paiti kannte ihre Namen nicht. Aber sie wollte sie kennen. Sie wollte sich mit dem Mädchen anfreunden, das nur ein wenig älter sein konnte als sie selbst – sechzehn, vielleicht achtzehn. Die Dorfjungs sahen in ihr schon eine Frau und malten sich aus, was sie gerne mit ihr tun würden, aber Paiti hörte da nicht zu. Mädchen mussten nicht auf das hören, was Jungs erfanden, fand sie. Sie hoffte, dass das Mädchen es genauso sah wie sie.

Die junge Frau war auch einmal ein Mädchen gewesen, aber davon sah man nicht viel. Eigentlich sah man an ihr nicht einmal viel Frau, sie ähnelte eher einer Katze, die frei und wild ihre Beute aufspürt, mit ihr spielt und sie je nach Laune verschlingt, freilässt oder jemand anderem zum Geschenk macht. Ihr Gesicht war wunderschön, aber ihre Augen fast so gruselig wie die des Ältesten. Ihre hatten zwar eine normale Farbe, aber sie waren eiskalt, außer, wenn sie den Mann an ihrer Seite ansah.

Den jungen Mann, der Paiti zum Seufzen brachte, wenn sie an ihn dachte, und der ihr obendrein überraschend aufregende Träume bescherte. Er war genauso schön wie die Frau, aber seine Augen waren sanfter und um seine Mundwinkel lag die Bereitschaft zu lächeln. Paiti malte sich aus, wie er abends in der Viererrunde Geschichten und Witze erzählte. Das Mädchen lachte darüber. Die junge Frau rang sich zumindest ein Lächeln ab, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen. Und der Älteste? Was würde er machen?

Paiti wünschte sich, er wäre beim letzten Mal doch dabeigewesen. Ihn kannte sie am wenigsten. Sie konnte ihn nicht einschätzen.

Sie zog die löchrige Decke fester um sich und schaute nach oben in den dunklen Nachthimmel, zählte Sterne und vermisste den Mond, bis sie einschlief.

Und am frühen Morgen erwachte sie vom Klang der Pferdehufe, die an ihr vorbeischritten, vier Pferde mit vier Reitern. Sie sprang auf, wickelte sich die Decke um die Schultern und lief hinter ihnen her ins Dorf, kam fast gleichzeitig mit ihnen an. Die anderen wachten erst auf, noch war keiner da, um die vier zu begrüßen. Und Paiti traute sich nicht. Sie gehörte nicht wirklich zum Dorf, war nur geduldet, das lästige Waisenkind ohne Familie, ohne Wert.

Einer der Reiter wandte den Kopf und sah sie an, mit gruseligen dunklen Augen. Der Älteste. Paiti senkte den Kopf und wich einen Schritt zurück. Nun bemerkten sie auch die anderen drei und sahen sie an, ließen sie weiter zurückweichen.

„Sie schläft immer noch draußen“, sagte das Mädchen.

„Sie lassen sie nicht rein“, antwortete die Frau.

„Warum nicht?“, fragte das Mädchen.

„Frag sie“, sagte die Frau.

Das Mädchen sprang von ihrem Pferd und ging ein paar Schritte auf Paiti zu, hielt dann beinahe scheu inne. „Warum darfst du nicht in die Häuser?“

Paiti wollte antworten, wollte es wirklich, aber sie konnte nicht. Hier stand sie mit den Vieren auf dem Dorfplatz, sie redeten mit ihr! Als sei sie eine aus dem Dorf! Als sei sie wichtig!

„Sie gehört nicht dazu“, sagte der junge Mann. „Deswegen darf sie nicht rein.“

Das Mädchen wandte den Kopf, um ihn anzusehen. „Wir durften letztes Mal in die eine Hütte, obwohl wir auch nicht dazugehören.“

„Wir gehen, wohin wir wollen“, sagte die junge Frau, „egal, ob wir dazugehören oder nicht, ob wir eingeladen werden oder nicht. Aber die da, die wartet, bis sie eingeladen wird oder dazugehört. Und da beides nicht passiert, bleibt sie draußen.“

Das Mädchen schaute Paiti nachdenklich an. „Sie tut mir leid.“

„Sie ist schwach“, gab die junge Frau zurück. „Wer wartet, bis andere das eigene Leben entscheiden, ist schwach.“

„Ja, ist sie“, sagte der junge Mann, und um seinen Mund spielte ein Lächeln, das Paitis Herz schneller klopfen ließ. „Deswegen hat Mond auch Mitleid. Mit Starken muss man kein Mitleid haben, oder?“

Die junge Frau schaute brummelig vor sich hin und sagte nichts mehr.

„Sie steht hier“, meldete sich stattdessen überraschend der Älteste zu Wort.

Die anderen drei sahen ihn verwirrt an.

„Die anderen verkriechen sich in den Häusern. Sie ist uns nachgelaufen. Sie ist mutiger als der Rest des Dorfes zusammen.“ Er musterte Paiti mit seinen gruseligen dunklen Augen. Die Schlieren darin bewegten sich, verformten sich, Violett und dunkles Gold flossen umeinander herum in der Schwärze. „Wie heißt du?“

„Paiti.“ Warum konnte sie ihm antworten, dem Gruseligen, aber nicht dem Mädchen, dessen Freundin sie so gerne wäre?

„Gehörst du zum Dorf, Paiti?“

Sie schüttelte den Kopf und schaute auf den Boden.

„Sie tut mir immer noch leid“, sagte das Mädchen.

„Sie gehört nirgendwo hin“, sagte die junge Frau.

„Sie kann sich selbst aussuchen, wo sie hingehört“, sagte der junge Mann.

„Ich will zu euch gehören!“, stieß Paiti hervor.

Die Vier starrten sie überrascht an.

„Warum?“, fragte die junge Frau. „Wir sind nicht nett. Vor allem ich nicht.“

„Ihr gehört auch nicht dazu. Aber ihr gehört zu einander. Ich will auch zu euch gehören. Ich will nicht immer alleine sein.“

Der junge Mann schüttelte den Kopf. „Das geht nicht“, sagte er freundlich.

„Warum nicht?“ Paiti schrie es beinahe. Nicht er. Die Frau konnte sagen, dass sie nicht dazugehören konnte, aber nicht er, von dem sie träumte.

„Wir sind wir. Da ist kein Platz für andere, die nicht wir sind. Es tut mir leid. Aber du musst irgendwo anders dazugehören.“

Paiti fühlte, wie ihre Augen heiß und feucht wurden. „Ich bin aber nur ich“, flüsterte sie. „Ich habe kein wir.“

„Und deine Eltern?“, fragte das Mädchen mitleidig.

„Sie hat keine“, sagte der junge Mann. „Nicht mehr.“

„Wir auch nicht“, sagte das Mädchen leise. „Nicht mehr. Und sie hat nur sich. Wir haben uns.“

Die junge Frau schüttelte den Kopf. „Niemand hat gesagt, dass die Welt gerecht ist. Aber sie ist keine von uns.“

„Wir waren auch nicht immer wir“, sagte der Älteste. Er klang fast ärgerlich. Die anderen drei sahen ihn verwirrt an. „Bevor ihr da wart, war ich auch nur ich. Ich alleine mit Mutter und Vater. Sie kann nichts dafür, dass sie keine wie euch hat. Es ist natürlich, dass sie zu uns gehören möchte.“

Das Mädchen nickte. Die junge Frau schüttelte den Kopf. Der junge Mann zuckte mit den Schultern und sagte: „Dann nimm sie doch. Ich habe nichts dagegen. Ihr?“

Die junge Frau schüttelte erneut den Kopf. Das Mädchen auch.

Der Älteste sah nun ziemlich überrumpelt aus. „Ich will sie nicht.“

„Niemand will sie“, sagte das Mädchen. „Darum geht es doch die ganze Zeit.“

Die gruseligen Augen schauten Paiti an und dann weiter an. Aber irgendwie fand sie die Augen gar nicht mehr so gruselig. Seltsam, ja. Verwirrend. Aber man konnte sich daran gewöhnen. Und das Gesicht, in dem die Augen waren, das nahm sie langsam auch wahr. Es war ein hübsches Männergesicht, der Bart verwegen verwuchert, ganz so wie bei dem jungen Mann. Um die Lippen versteckte sich kein Lächeln. Aber in den Augen lagen dafür Geheimnisse.

„Nehmt mich mit“, bat Paiti leise und schaute den Ältesten an. „Nimm mich mit. Bitte.“

Die Vier wechselten Blicke. Dann trat das Mädchen an Paiti heran, legte ihr die Hand zwischen die Schultern, schob sie auf den Ältesten zu. Er griff nach Paitis Arm, das Mädchen griff nach ihrem Bein, schon hockte sie hinten auf dem Pferd. Das Mädchen stieg auf ihr Pferd, dann trabten alle vier Pferde davon.

„Und der Handel?“, fragte das Mädchen, als sie schon weit auf dem Hang über dem Dorf waren.

„Nächstes Mal“, gab die junge Frau zurück.

Paiti hielt sich scheu am Ältesten fest. Von hinten sah er gar nicht mehr gruselig aus. Und er fühlte sich an, wie sich Männer nun einmal anfühlten, wie Menschen. „Meinen Namen kennst du. Ich kenne deinen aber nicht“, wagte sie sich schließlich zu sagen.

„Sonne.“

„Das ist aber ein merkwürdiger Name.“

„Es ist mein Name.“

Der junge Mann ließ sein Pferd neben sie zurückfallen und lächelte Paiti an. „Ich bin Wind. Das da vorne ist Gras.“ Er nickte zur jungen Frau. „Und die Kleine ist Mond.“

Die Namen waren in der Tat merkwürdig, aber sie gefielen Paiti. Sie fand es schade, dass sie Paiti hieß. Mit dem Namen würde sie nie wirklich dazugehören.

„Wie würdest du gerne heißen?“, fragte Wind.

„Sie hat einen Namen“, sagte Sonne.

„Sie mag ihn nicht. Welchen Namen möchtest du?“

Paiti schoss viel durch den Kopf. Schwesterchen. Einevonuns. Habdichlieb. Gehniewieder. Aber sie waren alle falsch. „Ich möchte Regen sein.“

Gras wandte den Kopf, sah sie überrascht an. Mond und Wind lächelten. Was Sonne machte, konnte sie nicht sehen, nur seinen Rücken vor ihr.

„Regen“, murmelte Gras. „Das ist viel hübscher als Paiti.“

Mond lachte hell auf. „Gras war nett zu dir! Jetzt bist du eine von uns.“

„Willkommen in der Familie“, sagte Wind und zwinkerte ihr zu.

Sonne sagte nichts. Aber die rechte Hand, die freie ohne Zügel, griff nach hinten und klopfte ihr auf den Oberschenkel.

Paiti war jetzt Regen. Sie gehörte dazu. Jetzt waren sie fünf.

Nach einem ordentlichen Ritt bergauf, bergab, durch Tal und Wald und wieder hinauf erreichten sie im hellen Vormittagslicht eine Höhle. Hier stiegen sie ab und Regen sah dabei, dass sich der Bauch von Gras deutlich wölbte. Ein Baby. Sie waren also fünfeinhalb.

Mond nahm die Pferde und brachte sie auf ein Stückchen Wiese, das mit zerteilten Baumstämmchen und Seilen notdürftig als Weide abgezäunt war. Wind legte den Arm um Gras, Gras legte ihren Kopf an seine Schulter. Sonne starrte nachdenklich auf die Bergwand. Regen sah die Wand auch an, doch sie sah nur eine Wand. Sonne schien etwas anderes zu sehen. Sie warteten. Als Mond fertig war, gingen sie zu fünft in die Höhle.

Erst ging es recht steil bergab, und der Gang war niedrig und schmal und wurde stockfinster, so dass Regen sich an Sonne festhielt und voranstolperte. Die Vier stolperten nicht, sie kannten den Gang so gut, dass sie ihn auch ohne Licht problemlos gehen konnten. Sie mussten hier schon lange wohnen. Dann ging es bergauf. Der Gang weitete sich, Licht kam ihnen entgegen.

So kamen sie in eine weite Höhlenhalle, in deren Decke ein Loch prangte. Hierdurch fiel Sonnenlicht hinab. Unter dem Loch war der Boden abgesenkt, hier hatte sich ein kleiner Teich durch Regenwasser gebildet. Ansonsten war die Höhle trocken, der Boden sauber, und an einer Wand gab es reichlich Decken und Felle als Schlaflager. An einer anderen Wand standen Schemel, dort gingen sie hin, und es dauerte einen Moment, bis Regen erkannte, dass diese Möbel nicht aus Holz gefertigt waren, sondern direkt aus dem Fels wuchsen wie Pilze. Vier steinerne Schemel um einen Tisch herum.

„Wir brauchen einen fünften“, verkündete Mond und schaute Sonne auffordernd an.

Er nickte. „Später.“

„Sie soll nicht auf dem Boden sitzen. Sie gehört jetzt zu uns.“

„Sie kann meinen Platz haben. Ich will gerade nicht sitzen.“

Mond fasste Regens Hand, zog sie zur Sitzgruppe. „Da“, sie schubste Regen kichernd auf einen der Schemel, „das ist erst einmal dein Platz, bis Sonne dir einen richtigen gemacht hat.“

Neben Regen ließ sich Gras auf einem der Schemel nieder. Sie sah gar nicht mehr so kalt aus wie im Dorf, vielmehr müde und ein wenig blass um die Nase.

„Tritt sie wieder?“, fragte Mond mitleidig.

Gras brummelte nur vor sich hin. Wind trat hinzu und stellte einen Krug mit Wasser und vier aufeinander gestapelte Tonbecher auf den Tisch.

„Wir brauchen noch einen Becher“, tadelte ihn Mond.

„Wir haben nur vier Becher“, gab Wind zurück. „Beim nächsten Handel besorgen wir einen fünften.“

„Sie kann jetzt meinen haben“, sagte Sonne. „Ich habe gerade keinen Durst.“

Wind füllte die Becher und verteilte sie. Regen trank gierig. Das Wasser schmeckte sehr gut, frischer und belebender, als sie je Wasser getrunken hatte. Schon war der Becher leer.

„Nimm dir“, sagte Gras und schob ihr den Krug zu. „Wer mehr braucht, nimmt sich. Aber niemand nimmt sich mehr, als er braucht.“

Regen brauchte noch mehr, leerte auch den zweiten Becher in einem Zug. Mond füllte ihren Becher, stand auf und ging mit dem nun leeren Krug zur hinteren Höhlenwand, wo Regen nun etwas plätscherndes Wasser bemerkte, das aus einem Spalt in der Wand drang, etwa auf Kniehöhe. Hier füllte Mond den Krug erneut und brachte ihn zum Tisch zurück.

„Wer etwas aufbraucht, holt Nachschub“, sagte Gras. „Und wenn kein Nachschub da ist, dann gehen wir zusammen los und besorgen ihn.“

Regen nickte. Diese Regeln waren gut und einfach. Es waren keine Regeln wie „Waisenkinder will keiner haben“ oder „lass mich Kinder mit dir machen, dann gebe ich dir zu essen“.

„Hast du Hunger?“, fragte Wind.

Regen nickte erneut. Sie hatte fast immer Hunger. So war das, wenn man fast nie genug zu essen bekam.

Sonne kramte an der Wand herum, wo einige Kisten und Säcke waren. Ein großes Stück Schinken und ein genauso großes Käsestück kamen auf den Steintisch, dazu hartes Flachbrot und fünf Äpfel. „Nimm. Wir haben genug.“

Regen nahm und aß, nahm mehr und aß mehr. Die anderen aßen auch ein wenig, aber vor allem sahen sie zu, wie Regen Essen in sich hineinstopfte. Wind grinste belustigt. Mond staunte mit großen Augen. Gras schaute aus dem Augenwinkel zu und gab sich deutlich Mühe, kein Mitleid zu fühlen, was ihr kläglich misslang. Sonne stand zwischen ihr und Wind und schaute einfach nur mit seinen dunklen Augen nachdenklich zu, holte einen sechsten Apfel, als jeder der Fünf seinen gegessen hatte, und legte ihn vor Regen. Er blieb nicht lange liegen.

Aber irgendwann war selbst Regen satt. Ihr Bauch war prall und voll und schmerzte ein wenig, verursachte etwas Übelkeit.

Wind und Gras standen auf und räumten den Tisch ab.

„Leg dich hin, Regen“, schlug Mond vor und deutete auf die Decken und Felle. „Da verjagt dich keiner, und warm genug ist es auch.“

„Komm mit raus“, schlug Sonne vor. „Das Wetter ist schön. Du kannst das Dorf vom vorderen Hang aus sehen und dir sagen, dass du dahin nicht mehr zurückmusst.“

Regen ging mit Sonne hinaus, setzte sich neben ihn auf den vorderen Hang, sah auf das Dorf hinab, winzig kleine Häuser in der sonnigen Ferne, und sagte sich, dass sie dahin nicht mehr zurückmusste. Und fühlte sich glücklich lächeln.

Sie blieben lange dort sitzen. Irgendwann stand Sonne auf und ging in die Höhle, aber Regen blieb und legte sich ins Gras. Nach einer Weile legte sich Gras neben sie und schaute mit ihr zusammen in den Himmel.

„Wann kommt dein Baby?“, fragte Regen.

„Wenn sie fertig ist“, sagte Gras und legte sich die Hände auf den Bauch. „Sie ist ein Mädchen.“

„Wie willst du sie nennen?“

Gras war eine ganze Weile still. „Vielleicht nach Mutter. Sie hieß Kuna.“

„Dann heißt sie aber anders als wir.“

Gras wandte den Kopf, stützte sich auf den Ellbogen und sah Regen nachdenklich an. „Ja. Dann heißt sie, wie Menschen heißen. So wie du eigentlich heißt.“

„Ich heiße Regen.“

Wieder war Gras länger still. „Aber deine Eltern haben dich Paiti genannt.“

Es tat weh, an Mutter und Vater zu denken. Immer noch. Niemand würde sie so wie Vater „Paiti-Klein“ rufen. Niemand würde so zärtlich wie Mutter „Schlaf gut, meine Paiti“ sagen. „Aber sie sind nicht mehr da“, flüsterte sie schließlich und zwinkerte Tränen fort. „Sie sind weg. Und mit ihnen ging Paiti auch weg. Ich habe es nur nicht verstanden, bis ich euch getroffen habe. Ich bin schon lange nicht mehr Paiti.“

Sie bemerkte erst jetzt, dass Wind bei ihnen stand. Er legte sich neben Gras, strich ihr über den Bauch. „Vielleicht bist du irgendwann wieder Paiti“, sagte er. „Wenn du nicht länger Regen sein möchtest, sondern wieder Paiti, dann sei wieder Paiti. Deine Eltern hatten dich lieb und haben dir diesen Namen gegeben. Wenn er dir wieder passt, solltest du ihn wegen deiner Eltern auch wieder annehmen.“

Gras nickte. Ihre grauen Augen sahen feucht aus.

„Und ihr?“, fragte Regen. „Hattet ihr schon immer eure Namen?“

Beide nickten. „Mutter hat unsere Namen ausgesucht“, erklärte Wind. „Sachen in der Welt, die sie mochte.“

„Und euer Vater? Hat er euch auch so gerufen?“

„Vater … der hat uns anders gerufen.“

„Wie denn?“

Gras und Wind wechselten Blicke und antworteten nicht.

Regen setzte sich auf und sah den Hang hinab. „Ich dachte, ich bin jetzt eine von euch.“

Wind rutschte näher zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Vater fehlt uns. Du weißt, wie das ist.“

Regen nickte.

„Wir werden dir alles erzählen. Aber es ist schwer. Gib uns etwas Zeit.“

Alles in Regen wollte mehr. Wie war ihr Vater gestorben, und wie ihre Mutter? Wie lange war das her? Warum war Wind der Vater des Babys im Bauch von Gras, wenn sie Bruder und Schwester waren? Aber sie wusste, wenn sie dazugehören wollte, durfte sie jetzt nicht fragen. Als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie immer nur über sie reden wollen, doch niemand hatte ihr zugehört, und niemand hatte mit ihr darüber geredet. Es ging nur darum, wer ihr einen Schlafplatz geben musste, woher sie Essen bekommen sollte und ob man sie nicht doch einfach wegjagen konnte.

Aber sie war alleine gewesen. Die Vier hatten einander, gemeinsame Erinnerungen, die sie teilten, auch wenn sie nicht darüber sprachen.

„Erzähl mir von deinen Eltern“, sagte Wind sanft. „Ich höre gerne zu, wenn du möchtest.“

Regen schüttelte den Kopf. „Das sind Paitis Eltern.“

Gras stand auf, sah auf sie hinab, die Hände auf dem gerundeten Bauch. „Du wirst bald Tante. Tante Regen.“

Tante. Regen schaute an Gras hoch. Gras lächelte, ein wenig nur und kurz, dann war sie wieder Gras.

„Wir brauchen ein fünftes Pferd!“, schrie auf einmal Mond von irgendwoher, dann kam sie atemlos herbeigerannt. „Wir haben nur vier Pferde!“

„Stimmt“, sagte Wind. „Wir brauchen ein fünftes.“

„Und einen Becher! Und einen Teller! Und überhaupt ganz viel Fünftes!“

„Und Sechstes“, sagte Regen und fühlte sich glücklich. „Kleine, feine Sechstes-Sachen. Ich werde bald Tante.“

„Ich auch!“ Mond lachte.

Wind fuhr mit der Hand nachdenklich durch Monds ungekämmte Haare. „Wir sollten es den anderen sagen.“

Mond wurde schlagartig ernst. Gras schaute finster.

„Sollten wir“, sagte Wind.

„Sie gehören zu ihm“, knurrte Gras.

„Sie sind nicht wie wir“, murmelte Mond.

„Welche anderen?“, fragte Regen schüchtern. Sicher war das wieder etwas, über das die anderen nicht reden wollten. Aber wenn sie dazugehören sollte, musste sie Sachen wissen.

Die drei schauten auf sie hinab. Mond streckte ihre Hand aus, Regen ergriff sie und ließ sich auf die Füße ziehen. „Mutter hat noch andere Kinder“, sagte Mond leise. „Nicht von Vater, sondern von einem Mann.“

„Aber sie sind auch Mutters Kinder“, brummelte Gras und sah sehr ärgerlich darüber aus.

„Es ist nicht ihre Schuld, dass sie einen anderen Vater haben“, sagte Wind. „Mutter hatte sie genauso gern wie uns.“

„Hatte sie nicht!“, zischte Gras.

„Doch“, sagte Mond leise, „hatte sie. Für Mutter waren wir alle gleich. Sie hatte Sonne lieb, als alle Menschen Angst vor ihm hatten. Sie hatte das kleine Würmchen lieb, das schon tot war, als sie es zur Welt brachte. Und die danach, die lebten, die hatte sie auch lieb. Sie hatte uns immer alle lieb.“

Gras starrte auf den Boden. „Was sagt Sonne?“, fragte sie schließlich. „Will er es den anderen auch sagen?“

„Ich weiß nicht“, sagte Wind.

„Dann fragen wir ihn.“

Wind sah unzufrieden aus. „Er wird es nicht wollen. Nicht nach all dem, was mit ihrem Vater und seinen Söhnen vorgefallen ist. Er mag die anderen nicht, weil sie nicht Vaters Kinder sind, das weißt du.“

„Ich mag sie auch nicht! Warum sollen du und Mond entscheiden, wenn Sonne und ich dagegen sind?“

Sie klang laut und wütend. Regen schluckte. Die Vier stritten sich. Sie hatte gedacht, dass sie das gar nicht konnten. Sie schienen immer die Vier zu sein, nicht Einzelne mit unterschiedlichen Meinungen. „Ich bin auch nicht das Kind eurer Eltern“, sagte sie leise.

Die drei schauten sie an.

„Könnt ihr mich überhaupt mögen?“, fragte sie noch leiser.

„Ich mag dich!“, rief Mond aus und umarmte sie.

„Ich mag dich auch“, sagte Wind mit einem Lächeln.

„Sonne mag dich“, sagte Gras, „deswegen bist du hier, durftest auf seinem Pferd reiten, auf seinem Stuhl sitzen und aus seinem Becher trinken. Du bist anders als andere Menschen. Du siehst ihn an und hast keine Angst. Du hast mit ihm hier draußen in der Sonne gesessen. Er ist gerade drin und macht dir einen Stuhl, vergrößert unser Bett und bereitet so viel wie möglich für dich vor.“

„Gras mag dich“, sagte Mond und grinste, „ sonst würde sie dir Sonne nicht so anpreisen.“

Gras funkelte Mond wütend an und wurde rot im Gesicht, dann stapfte sie Richtung Höhleneingang. „Ich frage Sonne wegen der anderen“, rief sie über ihre Schulter hinweg. „Und er wird meiner Meinung sein. Wir wollen sie nie wieder sehen. Sie sind nicht wie wir, sie sind seine Kinder, nicht Vaters!“

„Lasst uns auch hineingehen“, sagte Wind. „Wenn wir fertig über die anderen geredet haben, soll Regen sich umschauen und sagen, was ihr bei uns noch fehlt. Und Sonne soll ihr sagen, woher ihr Stuhl kommt.“

Mond machte einen kleinen, merkwürdigen Laut, der besorgt klang.

„Irgendwann muss sie es doch wissen“, gab Wind zurück. „Sie gehört zu uns. Sie muss wissen, wie wir sind.“

„Vielleicht mag sie uns dann nicht mehr“, murmelte Mond.

„Aber sie muss sich entscheiden können. Und dafür muss sie alles wissen.“

Regen wollte die Vier weiter mögen und war sich gar nicht sicher, ob sie irgendetwas wissen wollte, das dies ändern könnte. Aber Wind nahm sie bei der Hand und ging mit ihr zur Höhle, und Mond nahm nach einem Moment des Zögerns ihre andere, und so gingen sie hinein.

Um den Tisch standen nun fünf Schemel, auch der neue war wie ein steinerner Pilz aus dem Boden gewachsen. Das Bett mit den Decken und Fellen darauf war breiter. Eine kleine Wand war halbkreisförmig aus der Höhlenwand gewachsen und bildete so eine Nische, in die man sich zurückziehen konnte; auf dem Boden lag ein kuscheliges Fell. Sonne stand an der kleinen neuen Wand, eine Hand dagegengelegt, und sah Regen kurz an, nur um dann verlegen auf den Boden zu schauen. „Falls du mal für dich sein möchtest“, murmelte er. „Wir sind es gewohnt, immer zusammen zu sein. Ich dachte, vielleicht wird dir das manchmal zu viel.“

„Wie hast du das gemacht?“, fragte Regen und wusste nicht, ob sie sich gruseln sollte. Solche Sachen durften nicht gemacht werden können. Aber Sonne hatte sie für sie gemacht.

„Sonne macht sowas“, sagte Mond. „So ist er.“

„Leute haben deswegen Angst vor ihm“, sagte Wind.

„Leute sind blöd“, sagte Gras. „Sonne ist der Netteste von uns. Vor mir müssten sie Angst haben.“

„Ich bin auch nett“, schmollte Mond.

„Aber du bist auch ständig eingeschnappt.“ Wind grinste.

Mond streckte ihm die Zunge heraus, ging zu Sonne und umarmte ihn. „Ich finde, du hast das schön gemacht.“

„Ich finde das auch“, sagte Wind.

Gras brummelte: „Ich finde, wir brauchen keine Nische in unserer Höhle.“ Aber die anderen ignorierten sie, also tat Regen das auch. Stattdessen ging sie zum Tisch und setzte sich auf ihren Schemel. Wind und Mond setzten sich dazu, Sonne zögerte und kam dann schüchtern nach. Gras legte sich aufs Bett und zog ein Fell über sich.

Regen bemerkte, dass sie schon wieder Hunger hatte. Wind stand auf und holte den Wasserkrug und Becher und Hartbrot und Käse. Während Regen aß, knabberten die anderen drei ein bisschen mit. Wind stand dann auf und brachte Becher und etwas Essen zu Gras, die zwar trank, aber nicht aß.

„Babys sind ganz schön anstrengend“, sagte Wind, als er sich wieder an den Tisch setzte. „Dabei ist sie noch gar nicht geboren.“

„War ich auch anstrengend?“, fragte Mond.

„Sehr“, antwortete Sonne. „Du hast ständig geweint. Immer und ständig. Gras war oft krank und hat dann auch geweint. Wind hat immer die Decke weggezappelt und dann gefroren und dann geweint. Ihr wart alle sehr anstrengend.“

„Und du?“, fragte Mond.

„Das weiß ich nicht mehr. Wisst ihr noch, ob ihr anstrengend wart?“

Wind und Mond schüttelten ihre Köpfe.

„Seht ihr? Man weiß das nicht mehr.“ Sonne griff nach dem Krug, erinnerte sich dann wohl daran, dass Regen seinen Becher benutzte, und ließ ihn wieder los. Regen füllte den Becher und schob ihn Sonne hin. Sonne sah sie an, lächelte kurz und schaute dann schüchtern auf den Tisch, während er trank.

„Wie machst du das mit Schemeln und Wänden?“, fragte Regen, die sich auch ziemlich schüchtern fühlte.

Sonne schaute auf den Tisch und antwortete nicht.

„Wir sind nicht gut darin, uns zu erklären“, sagte Wind.

„Kannst du auch anderes machen als Schemel und Wände?“, hakte Regen nach.

Hierauf antworte Sonne mit einem Nicken.

„Was denn?“

Sonne zuckte mit den Schultern. „Löcher. Oder anderes. Willst du irgendwas haben?“

Regen sah sich um. Der kleine Teich unter dem Loch in der Decke glitzerte im Sonnenlicht, das durch das Loch fiel. „Eine kleine Insel dort wäre hübsch. Man könnte sich unter das Loch setzen und nach oben schauen und hätte Wasser um sich herum.“

Die drei schauten auf den Teich. Sogar Gras setzte sich auf dem Lager auf und schaute. „Ich will eine Insel“, sagte sie dann.

„Ich will auch eine Insel“, sagte Mond.

„Ich auch“, sagte Wind.

Sonne lächelte. „Dann mache ich uns eine Insel.“

„Regen hat Ideen“, brummelte Gras, stand auf und kam zum Tisch, wobei sie Regen vorwurfsvoll und bewundernd anfunkelte. „Sie denkt anders als wir.“

„Ich finde das gut“, sagte Wind.

„Ich auch“, sagte Gras, „und das finde ich gar nicht gut.“

„Regen weiß, was Menschen mögen“, sagte Mond. „Wir sind auch Menschen.“

„Ich nicht“, knurrte Gras.

„Wir alle“, sagte Sonne und strich sanft mit seiner Hand über ihre. „Wir alle fünf.“

Gras schaute ihn wütend an, aber sie zog ihre Hand nicht weg.

„Wir wollten doch Sonne noch etwas fragen“, sagte Mond.

Sonne schaute sie fragend an.

Wind schüttelte den Kopf. „Nicht jetzt. Vielleicht morgen. Heute ist Regen gekommen. Das ist genug für heute.“

Gras nickte. „Und?“, sagte sie dann zu Regen. „Hast du jetzt Angst vor Sonne?“

„Nein“, sagte Regen. „Ich mag meinen Schemel und die Nische. Und ich fände eine Insel wirklich toll. Egal, wie du sie machst“, sagte sie dann zu Sonne. „Darf ich zuschauen?“

Sonne schaute auf den Tisch und antwortete nicht.

„Menschen haben Angst, wenn sie sehen, wie Sonne Sachen macht“, erklärte Mond.

„Menschen haben auch Angst, wenn sie nur sehen, dass Sonne etwas gemacht hat“, brummelte Gras.

„Regen hat keine Angst vor ihrem Schemel oder der Wand“, sagte Wind.

Sonne sah auf, direkt in Regens Augen. In seinen Augen verschwommen violette mit blauen Schlieren vor dem schwarzen Hintergrund, bildeten sich gelbe Tupfen dazwischen. „Morgen mache ich die Insel. Wenn du magst, kannst du gerne zuschauen.“

„Ich mag.“

„Sie mag.“ Mond strahlte. „Ich glaube, sie mag uns.“

Sonne errötete und stand auf. „Ich gehe die Pferde füttern.“

Nach dem Essen ging Regen wieder hinaus und legte sich auf die Wiese am Hang. Sie schloss die Augen, spürte Licht, Wärme und Wind auf sich, hörte Grillen und Vögel um sich. Auf der Weide schnaubten die Pferde. Manchmal hörte sie Schritte, wenn einer der Vier in der Nähe vorbeiging. Als es dämmerte, kam Wind und stupste sie freundlich an. „Wir essen gleich. Magst du auch? Danach gehen wir schlafen.“

Sie nickte und ließ sich von ihm auf die Füße ziehen.

„Geht es dir besser?“, fragte er, während sie zur Höhle gingen.

„Ja“, sagte Regen. „Ich lag da zwar den ganzen Nachmittag alleine, aber ich war nicht alleine.“

Wind lächelte. „Das ist gut.“

Sie aßen Beeren, die Mond und Sonne gesammelt hatten, und Fleisch von einem Buschhuhn, das Wind gefangen hatte. Gras aß nicht viel, sie sah blass aus und strich sich immer wieder über den Bauch.

„Ich glaube, sie mag Reiten wirklich nicht“, meinte Wind. „Nach dem letzten Ritt ging es dir auch schlecht.“

Gras sah unzufrieden aus und nickte.

„Schade, dass du sie nicht einfach ein paar Tage in meinen Bauch stecken kannst“, fand Mond. „Dann könntest du etwas auf Vorrat reiten.“

Die Fünf wechselten Blicke und lachten, jeder auf seine Art: Mond laut schallend, Wind und Regen kichernd, Sonne lächelte und gab ein kurzes Glucksgeräusch von sich, Gras verzog das Gesicht und stieß Luft aus und warf dabei den Kopf zurück.

Dann stand Wind auf, legte den Arm um Gras und ging mit ihr zum Bett. Sonne und Mond räumten das Geschirr zusammen und trugen es nach draußen. Regen folgte ihnen und sah, dass sie es in einem kleinen Wasserlauf oberhalb der Höhle abwuschen, und half ihnen dabei.

„Wisst ihr, wie man Babys zur Welt bringt?“, fragte sie, unsicher, ob sie das fragen durfte.

„Sonne und Gras wissen es“, antwortete Mond. „Sonne hat bei uns allen zugeschaut, und Gras hat Mutter bei den anderen geholfen.“

„Sie weiß von den anderen?“, fragte Sonne überrascht.

„Ja, seit vorhin, als du in der Höhle die Sachen gemacht hast. Darüber will Wind morgen reden.“

Sonne runzelte die Stirn und sah einen Moment lang fast so aus wie Gras. Mond sagte nichts mehr.

Sie sammelten das Geschirr ein und trugen es in die Höhle zurück. Vom Bett her kamen Geräusche, die Paiti kannte; Geräusche von Mann und Frau, die zusammengehörten. Sie hatte das im Dorf oft genug gehört, durch die Fenster, wenn sie davor lag, oder irgendwo draußen, wenn sie sich unter Büschen zusammengerollte hatte und andere sich heimlich trafen.

Fünf Männer aus dem Dorf wollten das mit ihr machen: Der Griesgram vom Nordhaus, dessen Frau vor zwei Jahren gestorben war. Seine älteste Tochter war fünf Jahre älter als Paiti. Der Dorfsprecher wollte sie für seinen Sohn und wollte sie vorher einmal ausprobieren, ob sie denn auch gut genug für den Sohn des Dorfsprechers war. Der Gänsemann und seine Frau waren zerstritten, sie war zu ihrem Bruder ins Nachbardorf gezogen, und dem Gänsemann war es alleine im Bett zu langweilig, also wollte er Paiti. Und dann war da noch Faku der Trottel, der mittlere Sohn des Müllers, der sich mit den Dorfhunden herumtrieb und hinter Paiti herschlich, um zuzusehen, wenn sie pinkelte. Einmal hatte sie ihm die Nase blutig geschlagen, weil er sich an sie herangemacht hatte, als sie hinterm Haus des Müllers geschlafen hatte; seine Finger zwischen ihren Beinen hatten sie geweckt, und sie hatte zugeschlagen, bevor sie überhaupt gewusst hatte, was vor sich ging. Daraufhin hatte sie von den anderen im Dorf drei Tage lang nichts zu essen bekommen. Die Frau vom Müller hatte sie angespuckt und ihr gesagt, eine wie sie solle gefälligst die Beine breitmachen und froh sein, dass irgendwer sie will. Danach hatten alle im Dorf noch viel klarer als sonst gemacht, dass sie keiner wollte.

In den letzten Monaten hatte sie einige Male davon geträumt, das mit Wind zu machen. Aber Wind machte das mit Gras, er gehörte zu ihr, sie bekam sein Baby.

Sie räumte mit Mond und Sonne das Geschirr weg, der Tisch wurde abgewischt, und Mond legte eine kleine Blumenkette darauf, die sie am Nachmittag geflochten hatte.

„Morgen sind sie welk“, sagte sie achselzuckend, „aber wir wissen ja, wie hübsch sie heute aussahen.“

Sie ging hinüber zum Bett und kümmerte sich nicht darum, was Wind und Gras am hinteren Ende taten, sondern nahm sich eine Decke und rollte sich am vorderen Ende damit ein.

Sonne schaute an Regen vorbei an die Höhlenwand. „Du kannst in der Nische schlafen, wenn du möchtest“, sagte er leise. „Gras wird maulen, aber sie mault immer.“

Regen war unsicher. Sie wollte dazugehören, und für die Vier war es so, wie es gerade passierte, richtig. Aber für sie fühlte es sich nicht richtig an, neben Wind und Gras zu liegen, während sie Mann und Frau waren. „Die Sterne sind hier oben bestimmt heller als unten im Tal“, sagte sie leise. „Kommst du mit raus zum Gucken?“

Sie gingen hinaus und schauten in den Himmel. Die Luft war klar und frisch, der Himmel voller Sterne.

Sonne holte Luft, wie um etwas zu sagen, sagte dann aber nichts und atmete wieder aus.

Sie blieben eine ganze Weile stehen, bis Regen zu sehr fror. Als sie wieder hineingingen, war es in der Höhle still und dunkel. Sonne legte die Hand auf ihren Arm und führte sie so zum Bett, sie fanden Decken und Felle und wühlten sich hinein.

Regen schlief unruhig, zweimal wachte sie auf, und dann träumte sie, sie läge statt Gras bei Wind hinten auf der Bettstätte. Sie erwachte mit klopfendem Puls und schwitzigem Körper. In der Dunkelheit neben sich hörte sie Mond zart schnarchen. Auf der anderen Seite lag Sonne, aber ihn hörte sie nicht.

Sie stand auf, wickelte ein Fell um sich und tapste im Dunkeln vorsichtig voran. Durch das Loch in der Decke drang etwas Licht, so fand sie ihren Weg in die Nische, legte sich dort hin. Ihre Finger glitten wie von selbst zwischen ihre Schenkel, dorthin, wo eben im Traum noch Wind sie berührt hatte. Ein Schatten ließ sie zusammenfahren. Sonne stand vor der Nische, zögerte, hockte sich dann neben sie. Sie spürte die Wärme seines Körpers, hörte seinen Atem, der genauso schnell und aufgeregt klang wie der ihre. Ihre linke Hand fand seinen Arm und wusste dann nicht weiter. Sonnes Arm bewegte sich mit Sonne, als er zu ihr unter das Fell kroch, seine Hand berührte ihre Flanke, strich schüchtern weiter über ihren Rücken. Sie befreite sich aus der Umarmung, zog sich das Hemd über den Kopf, schmiegte sich an Sonne und merkte, dass er auch nicht wirklich wusste, was jetzt zu tun war.

Aber so schwer konnte es doch nicht sein, oder? Tiere taten es. Wind und Gras hatten es auch irgendwie herausgefunden.

Auch Sonne befreite sich nun von seinem Hemd, legte den Arm um sie. Sie lagen Haut an Haut, spürten sich gegenseitig, zweimal schneller Pulsschlag, zweimal schnelle Atmung. Sonnes Finger tasteten sich dorthin, wo zuvor Regens gewesen waren und wo im Traum Wind gewesen war. Aber es fühlte sich nun anders an, es waren keine Traumfinger und nicht die eigenen, es waren Sonnes, und die waren vorsichtig und neugierig und unglaublich. Regen fühlte sich überfordert, aber es war eine schöne Überforderung, also kämpfte sie nicht dagegen an.

Und beide stellten fest, dass es wirklich nicht schwierig war. Ungewohnt ja, ein wenig peinlich und für Regen zunächst etwas unbequem, aber dann sehr schön. Sie kuschelten sich danach aneinander, Sonnes Finger erforschten scheu Regens Brüste, Regen legte die Hand auf seinen Hinterkopf und küsste ihn. Das verwirrte Sonne spürbar, doch nur kurz. Regen hatte noch nie jemanden geküsst, aber oft genug zugeschaut. Sonne offenbar nicht, aber er fand wie vorher schnell heraus, wie das funktionierte, und kam schnell auf den Geschmack. Regens Finger begannen nun ihrerseits, Sonne zu ertasten, genauso scheu wie Sonnes Finger waren sie und genauso zielstrebig und neugierig. Es war alles ganz anders als in ihren Träumen und Phantasien. Es war ja so viel besser. Und es war Sonne. Sie stellte fest, dass es ihr nichts ausmachte, dass es nicht Wind war. Wind wusste ja schon, wie alles ging, er hatte viel mit Gras geübt. Aber Sonne und sie, sie waren gleich. Und Sonne war sanft und scheu und roch so gut. Wer brauchte da schon Wind?

Sie machten es gleich noch einmal, diesmal wussten sie, was sie erwartete, und es fühlte sich für Regen ganz anders an als zuvor, weitaus mehr als nur sehr schön, raubte ihr den Atem und den Verstand und jegliche Gewalt über ihren Körper, und hinterher ließ sie sich keuchend von Sonne an seinen Körper ziehen, legte matt ihre Hand auf seine Flanke, zu atemlos zum Küssen, und fragte sich, was gerade mit ihr passiert war.

Was immer es war, sie hoffte, dass es noch häufig passieren würde.

Sonnes Puls an ihren Lippen beruhigte sich langsam wieder, ihr eigener brauchte noch etwas mehr Zeit.

„Hast du das gewusst?“, flüsterte Sonne. „Dass das so ist?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Wind sagt immer nur, dass es toll ist. Gras redet nie darüber.“

Regen atmete tief durch, tastete mit den Lippen, fand Sonnes und küsste sie. „Weißt du was?“, flüsterte sie. „Ich glaube, ich mag dich. So richtig, meine ich.“

Er antwortete nicht, seine Lippen zitterten ein wenig und er küsste sie damit. Sie spürte, wie er schluckte, und sie schmeckte Salz. Ihre Finger glitten über seinen Bart, die kleine feuchte Spur aufwärts zu seinen Augen, und wischten sanft darüber.

„Du bleibst bei uns, oder?“, wisperte er schließlich kaum hörbar.

Sie nickte.

„Auch wenn ich dir zeige, wie ich Inseln mache?“

Sie nickte erneut.

„Auch wenn ich dir sage, dass mein Vater kein Mensch war?“

Regen spürte sich erneut nicken und dann sagen: „Das ist mir egal. Du bist du. Darauf kommt es an.“

Sie musste noch ein paar Mal Sonnes Augen trockenwischen, und er küsste sie viele Male als Dank zurück. Irgendwann glitten sie so in den Schlaf, eingekuschelt in Regens Höhlennische, glücklicher als jemals zuvor.

Durch das Loch in der Höhlendecke drang etwas fahles Morgenlicht, als Regen aufwachte. Sonne war nicht mehr neben ihr, aber sie hörte ihn noch, er stand gerade auf.

„Wohin gehst du?“, flüsterte sie und rollte sich herum, um ihn anzusehen. Sie konnte nicht viel sehen, aber doch genug, um zu sehen, dass er immer noch nackt war. Merkwürdig, dass ihr das peinlich war, und das nach dieser Nacht.

„Den Morgen angucken“, wisperte Sonne zurück, und Regen hörte, dass ihm alles genauso peinlich war wie ihr. Und schon war alles viel weniger peinlich.

Sonne zog sich sein Hemd über den Kopf, schlüpfte in die Hose und huschte davon.

Regen ertastete ihr Hemd, zog sich ebenfalls an und folgte Sonne nach draußen. Das Morgengrauen drang durch Nebelschwaden. Regen konnte nicht ins Tal sehen, alles vernebelt, und auch die Berggipfel waren nicht erkennbar. Es gab nur die unmittelbare Umgebung der Höhle: Die Wiese, die Pferdeweide und ein paar Bäume. Sonne stand am Hang und schaute hinab auf den Nebel. Regen stellte sich neben ihn, dann an ihn. Er schaute sie an und lächelte. Sie lächelte zurück.

„Weißt du was?“, fragte sie.

„Was denn?“

Sie dachte noch einmal darüber nach, dann nickte sie und sagte es: „Ich glaube, ich will, dass ich für dich Paiti bin. Nicht Regen.“

Sonne dachte kurz darüber nach. „Paiti“, sagte er dann sanft.

„Für dich.“

„Meine Paiti.“ Es klang ganz anders, als es Paitis Eltern gesagt hatten. Aber es klang so, dass Paitis Bauch sich warm und kribbelig anfühlte.

„Deine Paiti.“ Ihre Finger fanden seine und verflochten sich damit.

„Und für die anderen bist du Regen?“

„Ja. Ich bin Regen. Außer, wenn wir zwei alleine sind. Dann bin ich Paiti.“

Sonne nickte. „Ich bin froh, dass wir dich mitgenommen haben. Stell dir mal vor, wir hätten dich nicht mitgenommen.“

„Nein“, gab Paiti zurück. „Das stelle ich mir lieber nicht vor.“

„Du hast Recht. Ich mir auch nicht.“ Sonnes Finger drückten ihre. „Weißt du auch einen Namen für mich? Einen, mit dem nur du mich nennst?“

„Ich kann mir einen überlegen, wenn du möchtest.“

„Ich weiß nicht.“

„Ich mag dich als Sonne. Der Name passt zu dir.“

Sonne drückte noch einmal ihre Hand, dann löste er sich von ihr. „Ich gehe die Pferde versorgen.“

„Kann ich dir helfen?“

Er schüttelte den Kopf. „Dauert nicht lang. Wenn du dich waschen möchtest – wir machen das immer oben am Bach, wo wir auch das Geschirr spülen. Damit der See in der Höhle nicht so schmutzig wird.“

Paiti nahm die Idee auf, ging bergauf und wusch sich bibbernd mit dem eiskalten Bergwasser, bis ihr fast die Schenkel einfroren. Beim Weg bergab sammelte sie Gänseblümchen, setzte sich auf einen Stein vor der Höhle und begann zu flechten, während langsam Morgensonnenlicht durch den Nebel blinzelte. Sonne harkte Pferdeäpfel von der Weide und warf sie den Hang hinunter. Danach ging er hoch zum Bach, um sich ebenfalls zu waschen, und Paiti konnte ihn nicht länger sehen. Als er zurückkam, ging sie ihm entgegen und legte den Kranz aus Gänseblümchen auf seinen Kopf. Sie trat einen Schritt zurück und musterte ihn.

„Das sieht hübsch aus“, rief Mond hinter ihr aus und stand schon neben ihr, um Sonnes Blumenkrone näher anzuschauen. „Hast du das gemacht? Wie hast du das gemacht? Ich will das auch können! Ich kann nur strupselige Ketten!“

„Du musst nur gründlicher flechten und am Ende die Kette zum Kreis schließen. Du kannst es eigentlich schon.“

Mond umarmte sie. „Du bist so nett, Regen! Ist sie nicht nett, Sonne?“

„Sehr.“

„Seid ihr jetzt ein Paar?“

Sonne nickte und schaute gar nicht verlegen, sondern glücklich. Seine Wangen flammten rot auf. Regen spürte, wie es in ihrem Bauch kribbelte. Sie waren ein Paar. Zwei. Nicht mehr zwei Einzelne.

„Dann müssen wir beim nächsten Handel wohl einen Mann für dich finden, Mond“, sagte Wind, der gerade aus der Höhle kam.

„Ich brauche keinen“, gab Mond fröhlich zurück. „Oh, Sonne, hast du schon die Weide gemacht? Ich war doch heute dran.“

„Ich war wach“, sagte Sonne.

„Du bist so lieb.“

„Wir haben noch vier Eier“, sagte Wind. „Wer macht Frühstück?“

„Wir brauchen mehr Eier“, sagte Sonne.

„Wir haben gestern nicht gehandelt“, sagte Mond.

„Wir frühstücken und handeln dann“, sagte Regen. „Wir gehen einfach nochmal ins Dorf. Wir alle fünf. Fünfeinhalb.“

„Fünfeinhalb!“ Mond lachte. „Wir werden Tante! Außer Sonne, der wird Onkel. Und Wind, der wird Vater.“

„Ja, wird er“, sagte Wind und grinste, dann schaute er Regen mit schiefgelegtem Kopf an. „Und du? Wirst du Mutter?“

Regen spürte, wie sie errötete. Sonne sagte: „Vielleicht?“

„Vielleicht“, sagte Regen.

„Hoffentlich“, sagte Sonne sehr, sehr leise und schaute verlegen zu Boden.

Sonne würde ein toller Vater werden. „Hoffentlich“, sagte Regen leise und lächelte Sonne an, ihr geheimes Paiti-Lächeln. Er lächelte zurück. Sie könnten ein Baby bekommen, sie beide zusammen. Regen fand den Gedanken seltsam, aber irgendwie schön. Babys konnten passieren, wenn man das machte, was sie und Sonne letzte Nacht gemacht hatten. Aber manchmal passierten sie auch nicht.

„Ich mache Frühstück“, sagte Wind. „Wer hilft mir?“

„Ich“, sagte Regen.

„Ich auch“, sagte Mond.

Sonne nickte.

„Gras schläft noch“, sagte Wind. „Lasst uns leise sein.“

Sie waren leise, so leise, wie es ging. Wind machte Feuer und schlug die vier Eier in eine Pfanne. Mond schnitt Schinkenstreifen. Sonne schnitt Käse in kleine Stücke. Regen holte Teller, Becher und Besteck und drapierte alles um die angewelkte Blumenkette, die Mond gestern auf den Tisch gelegt hatte. Sonne trug noch immer seine Gänseblümchenkrone und wirkte nicht so, als ob er sie abnehmen wollte. Regen schaute ihn an und war glücklich.

Irgendwann kam Gras dazu, müde und grummelig, aber selbst ihre Augen lächelten, als sie Sonnes Kopfschmuck sah. „Hatte Mond Langeweile?“

„Das ist von Regen“, sagte Mond. „Die kann das besser als ich.“

„Das stimmt wohl.“ Gras schaute Regen aus den Augenwinkeln an. „Sie bleibt also.“

„Ja“, sagte Regen. „Ich bleibe.“

„Warte erst ab, was du denkst, wenn Sonne die Insel macht.“

Sonne schaute auf seine Finger.

„Sonne hat mir schon gesagt, dass euer Vater kein Mensch war“, sagte Regen. „Das ist schon in Ordnung.“

Die Vier wechselten Blicke.

„Hat er dir gesagt, was Vater war?“, fragte Gras.

„Nein.“

„Willst du es nicht wissen?“

„Wenn Sonne es mir sagen möchte, ja. Aber ich kann warten.“

Gras musterte sie nachdenklich. „Du bleibst also.“

Regen nickte.

„Das ist gut“, brummelte Gras und ärgerte sich sichtlich darüber. „Sonne verdient, dass ihn jemand liebhat. Jemand anders als wir, meine ich.“

„Frühstück!“, quengelte Mond. „Ich verhungere!“

„Dann iss doch“, seufzte Wind.

„Mach ich jetzt auch. Und wenn ihr nicht mitesst, esse ich alles auf!“

Also aßen sie alle und das schnell, denn Mond hatte wirklich Hunger.

Nach dem Frühstück machte Sonne die Insel. Er stellte sich in den Teich und schaute nachdenklich auf den Grund. Der felsige Boden hob sich ein Stückchen, Sonne nickte, ging zwei Schritte nach rechts, schaute weiter auf den Boden. Der hob sich wieder ein Stückchen. So ging das eine ganze Weile. Erst wurde das Wasser flacher, dann lag der Boden trocken, dann wölbte sich langsam der Boden nach oben.

„Das geht nicht“, beschwerte sich Gras. „Wenn ich das Baby drauflege, rollt es ja ins Wasser.“

Also stellte sich Sonne auf die Wölbung und machte sie flach.

„Ich will eine kleine Bucht, in der man Rindenschiffchen anbinden kann“, sagte Mond.

Sonne schaute nachdenklich die Insel an, entschied sich für eine Seite und machte eine kleine Bucht für Rindenschiffchen. Dann schaute er Wind an.

Wind schüttelte den Kopf. „Mir gefiel sie vorhin schon.“

Sonne schaute Regen an. Sie watete durch das Wasser auf die Insel und umarmte Sonne. „Schön“, sagte sie leise. „Wie machst du das?“

Sonne zuckte mit den Schultern.

„Er redet mit dem Berg“, erklärte Wind. „Vater konnte das auch, Sonne hat es von ihm geerbt. Wir anderen leider nicht.“

„Können Berge denn hören?“

„Alles kann hören“, murmelte Sonne, „wenn man die richtige Sprache kann.“

„Was für eine Sprache sprechen denn Berge?“, fragte Regen.

Sonnes Geschwister sahen ihn genauso neugierig an wie Regen. Sonne schaute verlegen auf seine Füße. „Ich weiß nicht“, murmelte er. „Ich denke es. Mach das höher. Mach das flacher. Mach hier eine Bucht. Und dann macht der Berg das. Ganz einfach.“

„Berge sprechen Gedankisch“, schlussfolgerte Mond. „Kein Wunder, dass ich Berge nicht verbiegen kann. Ich denke nicht so viel wie Sonne.“

„Gras denkt viel und kann es auch nicht“, wandte Wind ein.

„Du denkst auch viel“, gab Mond zurück, „und du kannst es auch nicht. Also muss es was anderes sein.“

„Vielleicht reden ja Sonnes Augen?“ Gras sah ihren großen Bruder nachdenklich an. „Das ist das Einzige, was bei ihm anders ist als bei uns.“

„Augen reden nicht“, sagte Wind.

„Augen haben auch keine sich bewegenden Farben. Sonnes Augen haben die trotzdem.“

Sonne trat von einem Fuß auf den anderen. Regen schob ihre Hand in seine. „Ich mag Sonnes Augen. Sie sind so freundlich. Nicht viele Menschen haben so nette Augen.“

„Stimmt“, sagte Gras. „Ich nicht.“

Regen lächelte. „Doch, wenn du nicht aufpasst, hast du sie auch.“

„Habe ich nicht!“

„Doch. Manchmal.“

Gras stapfte grollend zum Ausgang der Höhle.

Mond und Wind kicherten. Sonne schmunzelte und drückte Regens Hand. Regen drückte zurück.

„Ich kann noch was“, murmelte Sonne. „Willst du es sehen?“

„Ja.“

Sonne schaute die Höhlenwand über dem Schlaflager an. Dort war es recht dunkel. Die Wand begann, in eine sanften blassblaugrünen Licht zu schimmern.

„Ich kann Licht machen“, murmelte Sonne verlegen.

„Das sieht aus wie Glühwürmchen im Stein!“ Regen ging zur Wand und legte die Hand dagegen. Die Wand war kalt, und da waren nirgends Glühwürmchen. Die Wand glomm einfach aus sich heraus.

Sie schaute sich zu Sonne um. „Du machst Wände und Schemel und Inseln, und du kannst die Wände leuchten lassen.“

Sonne nickte.

„Noch was?“

Sonne nickte.

„Was denn?“

Sonne schüttelte den Kopf.

„Mach“, sagte Wind leise. Sonne schüttelte den Kopf, ging zum Tisch und setzte sich, trank etwas Wasser. Wind ging zu Regen hinüber.

„Er wird es dir schon noch zeigen“, sagte er freundlich. „Gibt ihm Zeit.“

„Ich habe Zeit“, antwortete Regen und hoffte, dass sie laut genug sprach, dass Sonne es hören konnte. „Ich habe ganz viel Zeit. Ich kann warten.“

„Das ist gut.“

„Und du?“, fragte Regen. „Du weißt, was andere denken. Noch was?“

Wind zwinkerte überrascht. „Woher weißt du das?“

„Na, du antwortest doch ständig darauf, was man denkt.“

„Mache ich das?“

„Ja“, rief Mond herüber, die sich gerade zu Sonne setzte, „machst du.“

„Das wusste ich gar nicht“, murmelte Wind und schaute verlegen zu Boden wie zuvor Sonne.

„Er weiß, was passiert“, sagte Gras vom Höhleneingang. „Manchmal.“

„Manchmal“, murmelte Wind. „Ein bisschen.“

Regen wusste nicht, was sie damit meinten. Und sie wollte es auch im Moment nicht wissen. Wände und Nischen, leuchtende Wände, Gedanken hören und noch mehr – sie brauchte eine Pause. „Ich gehe ein bisschen raus“, sagte sie. „Möchte jemand mitkommen?“

Sonne stand stumm auf und kam mit ihr nach draußen, legte sich neben sie ins Gras und schaute in den Himmel.

„Du bist nicht gerne draußen, oder?“, fragte Regen leise.

„Doch.“

„Aber du bist lieber drin, oder?“

Sonne rollte sich auf die Seite und sah sie an. „Da komme ich her.“

„Aus dieser Höhle?“

„Aus einer Höhle wie dieser. Da sind wir geboren, ich und Wind und Gras. Da haben wir mit Vater und Mutter gelebt.“

„Und Mond?“

Sonne schüttelte den Kopf. „Mond kam erst, nachdem wir nicht mehr in der Höhle waren.“

„Warum seid ihr gegangen?“

Sonne strich mit der Hand durchs Gras. „Frag Mond. Sie war nicht dabei. Ihr tut es nicht weh.“

Regen nickte. Sie nahm an, dass Sonnes Vater gestorben war. Die Mutter der Vier war dann mit den Kindern gegangen und hatte Mond zur Welt gebracht. Sie wusste, wie sich sowas anfühlte und verstand, dass man darüber manchmal nicht reden wollte. Sie hatte immer reden wollen, auch wenn keiner mit ihr geredet hatte. Aber sie hatte auch keine Geschwister.

„Und ihr habt davor immer in der Höhle gelebt?“, fragte sie, um das Thema ein bisschen zu wechseln.

Sonne nickte.

„Wart ihr gar nicht draußen?“

Sonne schüttelte den Kopf.

Regen rollte sich auf den Bauch und schaute nachdenklich zum Höhleneingang. Ging das überhaupt? Konnten Kinder in einer Höhle großwerden, ohne je nach draußen zu gehen? Ohne Licht, ohne frische Luft, ohne Farben und das Gefühl von wachsenden Dingen zwischen den Fingern und unter den Füßen? Ohne Sonne, Wind und Gras?

Ihr wurde kalt. Nicht außen, denn es war ein warmer Tag, sondern innen. Die Mutter der Vier, die war doch sicher ein Mensch gewesen, eine junge Frau wie Regen selbst. Und keine Frau der Welt wollte ihre Kinder in einer Höhle großziehen. Wie musste das Leben sein, wenn man seine Kinder nach dem benannte, was man vermisste? Wie lange war sie in der Höhle gewesen? Mond und sie waren etwa gleich alt. Sonne war vielleicht acht oder zehn Jahre älter.

Acht oder zehn Jahre in einer Höhle?

Ging das überhaupt?

„Erzählst du mir von deiner Mutter?“, fragte sie leise.

Sonne zögerte, schüttelte dann den Kopf. „Nicht jetzt“, murmelte er. „Nicht ich. Frag Wind. Der kann das erzählen. Der ist fast so alt wie ich und war auch bei allem dabei. Aber er kann erzählen. Ich bin darin nicht gut.“

Das klang sehr niedergeschlagen. „Aber du bist gut im Inselmachen“, sagte Regen. „Und im Nettsein.“

Sonne lächelte und schaute sie mit seinen sanften, gar nicht mehr gruseligen Augen an.

„Mond und Wind können also erzählen. Und was kann Gras außer schimpfen?“

Jetzt lachte Sonne sogar, einmal kurz, aber er lachte. „Gras ist wichtig“, sagte er dann. „Ohne Gras würden wir gar nichts machen. Entweder würden wir uns nicht trauen, oder wir hätten keine Ideen. Gras will immer. Und wir machen dann mit.“

„Und ich?“, fragte Regen leise. „Wo ist mein Platz?“

„Hier“, antwortete Sonne. „Du hast auch Ideen. Du durchschaust Gras. Du hast keine Angst vor mir. Du gehörst zu uns. Zu mir.“

Einen kurzen Moment dachte Regen daran, dass die anderen drei aus der Höhle kommen konnten, aber Sonnes Lippen schmeckten so gut, der Tag war so wunderschön, und sie konnte es nicht erwarten, noch einmal das zu fühlen, was sie in der Nacht gefühlt hatte. Es klappte nicht, jedenfalls nicht sofort, aber als Sonne einmal durchgeschnauft hatte und sie es noch einmal machten, klappte es wieder. Es schien ein Zweites-Mal-Gefühl zu sein, dachte Regen, als sie wieder denken konnte. Und dann dachte sie daran, dass sie Mutter werden würde, wenn sie das weiterhin mit Sonne machen würde. Und das fand sie völlig in Ordnung.


Teil 2: Raku und Madun

Mond erforschte den Wald. Es war nicht so, dass sie den Wald nicht kannte, aber er änderte sich ständig, so dass man regelmäßig neu forschen konnte. Seit sie fünf waren, war Mond manchmal übrig. Früher hatte sie oft mit Sonne irgendwo gesessen, aber der hatte jetzt Regen. Das war in Ordnung. Mond hatte immer noch genug Zeit mit Sonne, Wind und Gras, und sie hatte auch Zeit für Forschungen.

Heute ritt sie zum Steilbach, daran entlang, über das steile Geröllfeld zum nächsten Waldstück. Das Geröll hatte sich wieder geändert,, neue Glitzersteine waren hervorgerollt. Mond machte sich nichts aus Glitzersteinen. Sonne mochte sie, aber er hatte schon so viele davon, dass Mond keinen Sinn darin sah, abzusteigen und Steine mitzunehmen.

Im Wald bog sie den Wildwechsel nach Nordwesten ab zum Weiher. Er lag ruhig und braun zwischen den Nadelbäumen und roch feucht. Mond beschloss, baden zu gehen. Sie badete gerne. Die anderen drei mochten es nicht, sie hatten es erst spät kennengelernt, aber Mond war seit sie denken konnte ins Wasser gegangen. Sie fragte sich, ob Regen gerne badete. Hoffentlich ja. Dann könnten sie zusammen herkommen. Das wäre schön.

Sie hobbelte ihr Pferd auf der Wiese, wo es sofort die Nase ins Gras steckte und zufrieden zu kauen begann. Dann zog sie sich aus, hängte die Kleider über einen Ast am Wasser und ging in den Weiher. Er war kalt. Sie ging Schritt für Schritt und ließ die Gänsehautschauer von unten nach oben über sich rieseln. Schritt um Schritt stieg das Wasser ihre Beine hinauf, erreichte ihr Oberschenkel, dann war genug mit der langsamen Folter: Mond warf sich nach vorne, so dass es ihr in der Kälte den Atem verschlug wie immer, sie planschte wild und spritzte und schnappte nach Luft, und dann war es besser und sie konnte schwimmen. Zug um Zug glitt sie durch den Weiher und fand es toll, wie ihr Körper das so mühelos anstellt. Kalt war ihr nicht mehr.

Die Räuber hatten äußerst interessiert beobachtet, wie sich das Mädchen splitternackt auszog und dann in den Weiher ging. Nun schauten sie weiter und fachsimpelten.

„Ich mag ihren Arsch“, stellte Asal fest, als selbiger bei einer Drehung an die Wasseroberfläche kam. Asal war der Älteste der Bande, schon über dreißig, und er hatte in seinem Leben ziemlich viele Frauen von hinten-unten gesehen, so dass er selbstbewusst sein Wissen mit den jüngeren teilte: „Ist ein ordentlicher Arsch.“

„Ist er“, stimmte Madun zu. „Hat alles, was einer so braucht.“

„Ich mag ihre Titten“, verkündete Teira.

„Sie hat ja kaum welche“, monierte seine Schwester Kaire.

„Das mag ich ja. Klein aber fein, schön fest, nicht so Schwabbeldinger wie deine.“

„Meine Schwabbeldinger sind toll“, fauchte Kaire gegen das Gelächter der anderen an, „du hast keinen Geschmack. Sag’s ihm, Firai.“

Firai war das Küken der Bande, gerade erst siebzehn geworden, und Kaire ließ ihn nicht nur an ihre Brüste. Aber die anderen Männer würden über ihn lachen, wenn er sich auf ihre Seite schlug, das stand fest. Also sagte er nichts und wusste, dass Kaire ihn dafür erst einmal nicht mehr an ihre Brüste lassen würde. Es war zum Verrücktwerden, egal, was er tat, er konnte nicht gewinnen! Als das Gelächter verebbt war, fiel ihm etwas ein: „Müssen dir ja auch nicht gefallen, Teira. Sind immerhin die von deiner Schwester. Wie schräg wäre das denn bitte?“

Nun glucksten die anderen wieder, diesmal über Teira, der Firai einen finsteren Blick zuwarf. Kaire grinste ihm dafür zu. Die Nacht war gerettet.

„Ich mag ihr Gesicht“, sagte Raku mitten in das Gekicher. Damit hörte es auf, denn alle schauten ihn an. Raku sagte solche Dinge nicht oft, denn Raku mochte nicht viel in der Welt. Er mochte Gold und Silber und Edelsteine, er mochte Leute, die ihm gehorchten, und er mochte Sonnentage. Ansonsten war ihm das meiste aber ziemlich egal und er machte keinen Hehl daraus.

Die anderen wandten nach und nach ihre überraschten Blicke von Raku und schauten das schwimmende Mädchen an.

„Jo“, machte Madun nach einem Weilchen ratlos. Er war Rakus älterer Bruder, und wann immer Raku etwas ungewöhnliches tat, war Madun der erste, der etwas dazu sagte. Die anderen trauten sich nicht, vor ihm etwas zu sagen. Madun schätzte es nicht, wenn jemand schneller war als er, außer dieser jemand war Raku. Raku hatte Grips. Madun hatte keinen, dafür umso mehr Muskeln. Besser, man wartete, bis die Brüder sich auf etwas geeinigt hatten, und stimmte dann zu. Deswegen war es auch ihre Bande und nicht Asals, obwohl dieser der erfahrenere Räuber war. Aber er war eben nur einer.

Madun schaute kritisch auf den Weiher hinab und machte nochmal „jo“, dann kratzte er sich an der Nase und schaute Raku ratlos an. „Gesicht hat sie auch. Ganz hübsch, glaub ich.“

„Sehr hübsch“, befand Raku.

„Echt hübsch“, fand Teira. Raku sah ihn an. „Ich meine – ja, recht hübsch, aber soooo hübsch dann doch nicht“, ergänzte Teira hastig.

„Zu jung“, brummelte Asal. „Die ist ja kaum älter als Firai.“

„Bist halt alt“, gab Firai spitz zurück, weil Madun und Kaire zwischen ihm und Asal standen und somit nicht mit einer Kopfnuss zu rechnen war. „Und ich finde sie nicht hübsch.“ Er schaute Kaire an. Kaire war auch nicht hübsch, eigentlich war sie sogar ziemlich unhübsch – recht robust gebaut und vom Gesicht her fast so wie ihr Bruder, nur dass sie keinen Bart hatte, aber dafür ließ sie Firai unter ihre Decke und das machte sie um Längen hübscher als das Mädchen da unten.

Kaire bemerkte seinen Blick und konnte zum Glück nicht ahnen, dass er sie nicht hübsch fand. Im Gegenteil, sie war nun davon überzeugt, dass sie in seinen Augen hübsch war, so im Vergleich zu dem Mädchen. Sofort fühlte sie sich anmutiger und unbeschwerter, ganz so wie die kleine Schwimmerin. Und auf einmal war etwas in ihrem Gesicht, das Firai wirklich hübsch fand. Firai verstand in diesem Moment eines der großen Geheimnisse der Welt – leider war er sich aber dessen nicht bewusst, so dass er es bald wieder vergaß.

„Dein hübsches Gesicht ertrinkt glaub ich, Raku“, sagte Madun plötzlich, der als einziger noch aufs Wasser schaute statt auf das Geplänkel innerhalb der Bande.

Alle Köpfe fuhren herum.

Das Mädchen schien gegen das Wasser zu kämpfen, allerdings so schwach, dass es nicht einmal spritzte.

Dafür spritzte Raku los, schlitterte das Geröll hinab, rutschte ein Stück und sprang zwischen die Bäume.

„Scheiße“, brummelte Madun und schlitterte hinterher.

„Scheiße“, seufzten die anderen und machten sich auf den Weg, langsamer und vorsichtiger und ein wenig ärgerlich darüber, dass sich ihr Anführer ausgerechnet in ein schwimmendes Mädchen vergucken musste, das beschlossen hatte, im Waldsee zu ertrinken. Erst gestern waren sie durch ein Dorf mit mehreren hübschen Mädchen gekommen, da hatte er keine einzige angeguckt. Aber von denen war natürlich auch keine nackt gewesen. Und keine war kurz vorm Sterben gewesen. Keine dort hatte einen Helden gebraucht. Aber jetzt lief Raku zur Hochform auf.

Madun hörte nur das Platschen, als Raku ins Wasser hechtete. Sehen konnte er es nicht, er war noch zwischen den Bäumen und rannte an dem verdutzten Pferd der Schwimmerin vorbei. Am Weiher angekommen sah er, dass Raku das Mädchen schon erreicht hatte und begann, sie zum Ufer zu ziehen.

Alles erledigt.

Aber dafür dauerte es ziemlich lange.

Raku mühte sich sichtlich ab, das Mädchen bewegte sich kaum, und sie kamen fast nicht voran.

„Scheiße“, knurrte Madun, als die anderen endlich hinter ihm auftauchten, und rannte ebenfalls ins Wasser. Schnell erreichte er Raku, der sichtlich außer Atem war und merkwürdig aussah, fast so, als hätte er Angst. Aber das war Raku. Der hatte sowas nicht. Madun schnappte sich einen Arm das Mädchens, das kaum noch den Kopf über Wasser halten konnte, und einen Arm von Raku dazu, und zog. Er hatte noch nie jemanden aus dem Wasser gerettet, schon gar nicht zwei Leute, aber er wusste, dass er stark war. Und dafür ging das ziemlich schwer, zumal Raku ja auch noch mitschwamm.

Endlich erreichten sie das Ufer, Teira und Asal kamen ihnen entgegen und zogen das Mädchen an Land. Raku ging im seichten Wasser keuchend auf die Knie, so dass Madun, der ebenfalls ziemlich aus der Puste war, ihn packte und mit sich zog. Er spürte, dass Rakus Muskeln vor Überanstrengung zitterten. Das gefiel ihm genauso wenig wie der Gesichtsausdruck vorhin. Und auch jetzt guckte Raku nicht wie Raku. Das Funkeln fehlte, so als hätte sich eine fette Gewitterwolke über Raku gelegt.

Sie hockten sich zu dem Mädchen auf die alten Tannennadeln. Kaire kam gerade mit ihrer Kleidung an, die über einem Ast gehangen hatte, und scheuchte die Männer beiseite, um ihr beim Anziehen zu helfen. Das Mädchen atmete heftig mit geschlossenen Augen und half kaum mit, ließ sich anziehen und sank danach wieder zu Boden. Die Räuber hockten ratlos um sie herum und schielten Raku an, der blassnasig auf seine Gerettete starrte und überhaupt nicht draufgängerisch oder heldig aussah.

Raku war kaputt. Madun gefiel das überhaupt nicht. Er stupfte ihn mit dem Ellbogen an. „Was ist?“

Raku warf ihm einen unrakuischen Blick aus dem Augenwinkel zu und schüttelte den Kopf. „Weiß nicht. Muss ich drüber nachdenken.“

„Was war denn im Wasser los?“

„Keine Ahnung.“ Raku atmete tief durch. „War … merkwürdig.“

Madun wusste, dass Raku eigentlich „gruselig“ hatte sagen wollen, aber Raku wusste, dass ein Raku sich natürlich niemals gruseln durfte. Madun fand es gruselig, dass Raku etwas gruselig fand.

Das Mädchen öffnete die Augen und setzte sich schwankend auf, sah sich erstmalig um.

„Danke“, murmelte sie in die allgemeine Runde.

„Sie weiß nicht, wer von uns sie gerettet hat.“ Asal grinste breit. „Da hat sich Rakus Rettungsaktion ja richtig bezahlt gemacht, ewige Dankbarkeit und so.“

„Wenn du nicht schwimmen kannst, geh halt nicht ins Wasser“, brummelte Firai.

„Sie kann schwimmen“, widersprach Teira, „wir haben sie doch gesehen.“

„Na, offenbar kann sie nicht gut genug schwimmen.“

„Hattest du einen Wadenkrampf oder so?“, fragte Kaire das Mädchen. „Das sah doch ganz normal aus und dann auf einmal nicht mehr.“

„Man ertrinkt doch nicht bei einem Wadenkrampf“, spottete Asal.

„Außer, man kann nicht schwimmen“, fügte Firai hinzu.

Dann fiel ihnen auf, dass Raku noch gar nichts gesagt hatte. Und er hasste es, wenn man vor ihm redete. Also schauten sie ihn an. Aber er sagte nichts, starrte abwechselnd auf den Boden und auf das Mädchen und atmete vor sich hin.

Also redete Madun. „Wie heißt du?“, fragte er das Mädchen.

Sie schaute auf, hatte zuvor wie Raku auf den Boden gestarrt und abwechselnd flüchtig die Räuber angeschaut. „Ich bin Mond.“

„Ich bin Madun. Das ist Raku.“

Ihre Augen schauten Madun jetzt fester an, schauten hinüber zu Raku. „Ihr habt mich rausgeholt, nicht? Ihr seid ja beide pitschnass.“

„Raku hat dich geholt. Ich hab Raku geholt.“

Sie nickte und sah auf einmal blasser aus als noch zuvor. „Danke“, sagte sie leise und schaute dann Raku an. „Wirklich. Vielen Dank.“

„Na, hat sich doch gelohnt, Raku“, scherzte Asal, aber niemand lächelte.

Irgendwie war die Stimmung gerade merkwürdig.

Raku rappelte sich hoch. „Wohnst du hier in der Gegend?“

Mond nickte.

„Wir bringen dich nach Hause.“

Die Räuber starrten Raku fassungslos an. So ging das nicht. Raku musste sie jetzt ein wenig bezirzen, sie dann hinten auf der Wiese flachlegen und danach mussten die Räuber dann zu ihrem Versteck zurückreiten und das Mädchen verwirrt und in Raku verliebt zurücklassen. Morgen würden dann Teira oder Asal sich hinschleichen und das Mädchen trösten. So funktionierte das. Raku machte alles falsch heute.

Madun schaute Raku auch an, aber nicht fassungslos, sondern besorgt. Das wiederum verunsicherte die anderen. Jetzt wusste keiner mehr, was er sagen sollte.

Mond wrang sich die nassen Haare aus und schüttelte danach den Kopf. „Ist schon gut. Mir geht’s gut. Ich habe ja mein Pferd und kann nach Hause reiten.“

„Wir bringen dich“, wiederholte Raku leise. „Damit dir nichts passiert.“

„Mir passiert schon nichts“, antwortete Mond und lächelte. Sie hatte ein hübschen Lächeln, befanden die Räuber umgehend per Blickkontakt. Kein Wunder, dass Raku ihr Gesicht hübsch gefunden hatte, noch bevor sie gelächelt hatte. Jetzt war sie definitiv nicht nur hübsch, sondern eine echte Schönheit.

Raku allerdings schien das gerade überhaupt nicht zu beeindrucken. „Ich will nicht wegen dir beinahe ersoffen sein, nur damit du dann vom Pferd fällst und dir den Schädel kaputtschlägst“, brummelte er.

Madun nickte. „Ich auch nicht. Ihr wart echt schwer.“

Monds Lächeln verschwand, sie sah blass und zittrig aus. Wie Raku.

Geräusche näherten sich. Die Räuber wechselten Blicke. Hier in dieser Gegend lebte niemand, oder zumindest hatten sie das gedacht, weil es hier keine Wege oder Pfade gab. Sie schauten auf Raku. Er musste jetzt sagen, ob sie bleiben oder abhauen sollten. Aber Raku starrte auf den Boden. Madun schaute auf Raku. Keiner sagte, was zu tun war. Also blieben sie, und kurz darauf erschienen Leute, zwei Männer, eine schwangere Frau und ein Mädchen in Monds Alter, jeder führte ein Pferd.

Sie blieben abrupt sehen, als sie die Räuber sahen.

Und die Räuber verstanden auf einmal, wie es auf andere wirkte, wenn sie an einem Gehöft auftauchten.

Es war kein gutes Gefühl.

Der eine Mann trat einen Schritt vor, da sprang Mond los und lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals. Er legte die Arme um sie und hielt sie fest.

Der andere Mann und die schwangere Frau traten nun auf die Räuber zu, da löste sich Mond auf der Umarmung. „Sie haben mir geholfen“, sagte sie sehr schnell, besorgt um die Räuber. „Sie haben mich aus dem Wasser gerettet.“

Die beiden schauten sie an, der Mann erleichtert, die Frau sichtlich enttäuscht.

Das Mädchen trat schüchtern näher an Mond heran. „Was ist passiert?“, fragte sie leise.

Mond schüttelte den Kopf.

„Sie will nach Hause“, sagte der Mann, der immer noch einen Arm um sie gelegt hatte.

Mond nickte.

„Wir reden zuhause“, sagte der andere Mann, der ziemlich merkwürdige Augen hatte. „Ich hole dein Pferd.“

Mond nickte abermals.

Teira trat an Raku heran. Normalerweise hätte er das nicht gewagt, aber Raku benahm sich so merkwürdig, dass Teira sich Freiheiten erlaubte. „Frag sie, wo sie wohnen“, flüsterte er ihm ins Ohr, „sonst sind die gleich weg, dann siehst du die Kleine nie wieder.“

Raku sagte nichts.

„He, sagt mal“, rief Teira zu den Fremden hinüber, „wohnt ihr hier in der Gegend?“

„Was geht dich das an?“, knurrte die schwangere Frau.

„Wir wohnen, wo wir wohnen“, sagte der Mann. „Danke, dass ihr meiner Schwester geholfen habt. Aber jetzt kümmern wir uns um sie, und ihr solltet euch um eure Dinge kümmern.“

„Ich kenne die“, sagte das Mädchen leise. „Das sind Räuber. Die haben sich neulich am Dorf herumgetrieben, aber weil das Dorf zu groß ist, haben sie sich nicht reingetraut.“

„Sie haben Mond geholfen“, gab der Mann zurück. „Der Rest kümmert uns nicht.“

Der andere Mann kam mit Monds Pferd herbei und half ihr beim Aufsteigen.

Madun stupfte Raku an. „Willst du sie nicht wiedersehen?“

Raku schüttelte den Kopf.

„Warum nicht?“

Raku sagte nichts. Nur als alle fünf aufgesessen waren und die Pferde davonlenkten, räusperte er sich und rief „Alles Gute!“.

Mond schaute sich um und sagte „Danke“.

Dann verschwanden die fünf im Wald und ließen eine verwirrte Räuberbande mit einem kaputten Hauptmann am Weiher zurück.

Wie immer, wenn keiner von ihnen was Nettes für die Nacht hatte, schliefen Raku und Madun beieinander. Aber Raku schlief nicht, und deswegen schlief Madun auch nicht, sondern lag wach und hörte zu, wie sein Bruder nicht schlief. Nieselregen tropfte auf ihr Versteck hinab, das sie aus Holz und Wachstuch und Tau gebastelt hatten, ein kleiner Unterschlupf für Raku und Madun und ein größerer für die anderen. Irgendwann hörte der Regen auf.

Raku wühlte sich aus den Decken, wickelte seinen Umhang um sich, zog die Stiefel an und ging hinaus.

Madun tat ihm alles gleich und folgte ihm.

Er kümmerte sich um Raku, seit ihre Eltern gestorben waren. Raku war damals erst vier gewesen und hatte nichts von all dem verstanden. Madun mit seinen neun Jahren hatte alles sehr gut verstanden. Er hatte sich mit Raku in die Stadt durchgeschlagen, aber dort war nichts besser als im Dorf gewesen. In einer Gasse hatten sie einen Straßenräuber getroffen, der Mitleid mit den hungrigen Waisen hatte.

„Geh mit deinem Bruder weg von hier“, war sein Ratschlag gewesen, den er Madun zusammen mit einem Brotkanten, zwei Äpfeln und einem Stück Schinken gegeben hatte. „Verhungern könnt ihr hier wie im Wald oder in den Bergen, aber hier werdet ihr auch noch ausgeraubt oder vergewaltigt. Wenn ihr es schlau anstellt, könnt ihr draußen besser überleben als hier.“

Madun konnte Fallen stellen, das hatte sein Vater ihm beigebracht, und auch mit der Steinschleuder war er geschickt. Und so hatte er Raku genommen und war zurückgegangen, raus aus der Stadt, vorbei am Heimatdorf in die Berge.

Und so war es die nächsten Jahre gewesen, nur sie zwei. Jeden Sommer hatten sie das freie Leben genossen, jeden Winter hatten sie ums Überleben gekämpft. Und gewonnen.

Madun hatte auf Raku aufgepasst, bis dieser alt genug wurde, auf sich selbst aufzupassen. Und dann später, so mit vierzehn, hatte Raku angefangen, auf Madun aufzupassen. Seitdem passten sie gegenseitig aufeinander auf, Maduns Muskeln beschützten beide und Rakus Grips hatte ihnen bessere Unterschlüpfe, mehr Essen und nun auch eine Räuberbande beschert.

Aber heute war es wieder an Madun, auf Raku aufzupassen, das stand fest.

Raku stand auf dem Rand des Erdfalls, in dem sie das Versteck aufgebaut hatten, und schaute durch die Windschneise hinab ins Tal. Madun stellte sich hinter ihn.

„Was ist los?“, fragte er leise und hoffte, dass die anderen alle schliefen. Raku würde sicher nicht reden, wenn er dachte, dass jemand mithörte. „Was war vorhin im Weiher?“

Raku atmete tief durch. „Ich weiß nicht, was da war.“

„Was weißt du denn?“

Es dauerte, bis Raku antwortete. Madun fühlte sich unwohl. Er spürte, dass Raku die Angst aus dem Weiher wieder fühlte, und er fand es unheimlich, wenn Raku Angst hatte. Selbst als Kind war er furchtlos gewesen, hatte sich nie vor eingebildeten Monstern oder der Dunkelheit gefürchtet.

„Ich bin da ins Wasser rein, zu ihr hingeschwommen“, fing Raku schließlich mit rauer Stimme an. „War schnell bei ihr. Ich schwimme ja schnell. Hab sie gepackt und wollte sie ziehen. Aber es ging nicht. So als … als wäre das kein Wasser, sondern Sumpf, weißt du? Als würde sie feststecken. Ging echt schwer, und dann auf einmal ging es gar nicht mehr. Etwas hielt sie fest, ich schwöre es dir.“

„Das ist doch Quatsch. Was soll das denn gewesen sein?“

„Ich weiß nicht.“

„Ist Quatsch.“

Raku schüttelte den Kopf und brauchte einen Moment, bis er weitersprechen konnte. „Ich habe es gespürt.“ Er war so leise und kratzig, dass Madun ihn kaum verstehen konnte. „Es hatte mich am Bein. Irgendwas. Hielt mich fest. Nur an einem Bein, deswegen konnte ich weiter schwimmen, aber sie hatte es richtig fest gepackt und zog sie auf einmal nach unten, unter Wasser, ich konnte sie kaum noch halten. Und dann kamst du.“

War wohl doch kein Quatsch. Madun gruselte sich nachträglich.

„Als du fast bei uns warst“, Rakus Stimme war kaum mehr als ein heiseres Wispern, „habe ich es gehört.“

„Wie – gehört?“

Raku hob die Hand und klopfte sich gegen die Stirn. „Hier drin. Es hat mir in den Kopf rein gesprochen. LASS SIE IN RUHE, hat es gesagt. SIE GEHÖRT JETZT MIR.

„Ich habe nichts gehört.“

„Zum Glück.“ Raku fuhr sich mit zittrigen Händen über das Gesicht. „Ich … Scheiße, Madun, ich hatte so eine Angst, ich glaube, ich hätte einfach aufgehört zu schwimmen. Aber dann warst du da und hast uns gepackt und versucht, uns mitzunehmen. Da konnte ich auch wieder.“

„Dafür bin ich doch da. Ich hab die Muskeln.“

Raku zwang sich ein fades Lächeln auf. „Nur hatte ich heute nicht besonders viel Grips.“

„Du hast der Kleinen das Leben gerettet. Wärst du nicht losgerannt, wäre sie ersoffen.“

Raku nickte.

„Willst du sie wirklich nicht wiedersehen?“, fragte Madun.

„Ich weiß nicht. Ich war dabei, als sie splitternackt beinahe von irgendeinem unsichtbaren Ding, das in Köpfe reinsprechen kann, ersäuft wurde. Ich glaube nicht, dass sie mich wiedersehen will. Außerdem sind ihre Geschwister gruselig.“

„Nur der eine. Und die Frau.“

„Die zwei dafür aber richtig.“

Madun nickte. Raku konnte das zwar nicht sehen, weil er vor Madun stand, aber er musste es nicht sehen, um es zu wissen. Nach fünfzehn Jahren zu zweit in den Bergen konnten sie auch fast gegenseitig in die Köpfe hineinsprechen. Fast.

„Also, was machen wir dann?“, fragte Madun.

Raku drehte sich endlich um und sah ihn an. „Wir gehen.“ Er nickte hinunter ins Lager. „Wie lange sind wir schon hier, einen halben Monat? Lange genug. Morgen packen wir und ziehen weiter, rüber ins Grüntal, wo sie so viele einzelne Häuser und Höfe haben. Wir müssen uns langsam um den Winter kümmern.“

„Vielleicht findest du ja auch ein anderes hübsches Mädchen, das nicht von einem Ding im Wasser ertränkt wird, sondern sich gerne von dir vernaschen lässt.“ Madun verstruwwelte Rakus ohnehin struwweliges Haar. „Danach geht es dir bestimmt besser.“

„Vielleicht findest du ja auch was zum Naschen.“ Endlich grinste Raku wieder sein Raku-Grinsen.

„Zeit wäre es.“

„Ja, Zeit wäre es. Ist bei dir doch schon ewig her.“

„Ist halt nicht so einfach, wenn man ich ist. Ist einfacher, wenn man du ist.“

„Dann suchen wir dir was. So schwer ist es doch auch nicht. Ist ja nicht so, als ob du nie was abkriegst.“

„Nee.“ Auch Madun grinste nun breit. „Irgendwas findet sich dann doch meistens. Und dann bringen wir uns damit auf andere Gedanken und denken nicht mehr an hübsche Mädchen und komische Gewässer. Ja?“

„Ja.“

„Dann komm jetzt schlafen.“

„Ist gut.“

So ganz war Raku noch nicht wieder Raku, sonst wäre er nicht Maduns Anweisung gefolgt. Raku hatte noch nie getan, was andere ihm sagten. Man musste immer warten, bis er selbst die Idee aussprach, außer, wenn es ihm nicht gutging.

Ihm ging es noch nicht gut.

Madun hoffte, dass sie im Grüntal reichlich hübsche Mädchen hatten, die gar nicht abwarten konnten, für Raku die Beine breitzumachen. Zwei oder drei davon sollten als Kur ausreichen.

Mond hatte die Nacht zwischen Gras und Regen verbracht, fest eingekuschelt unter den Fellen und Decken. An den Rändern schliefen Sonne und Wind. Geborgen in der Mitte hatte sie nach ersten Schreckträumen tief und ruhig geschlafen und war erst aufgewacht, als außer ihr nur noch Gras im Bett lag. Die anderen waren schon auf, um das Frühstück vorzubereiten, sich zu waschen und nach den Pferden zu sehen.

Gras lag neben ihr auf den Rücken, die Hände auf dem mittlerweile ziemlich runden Bauch. „Willst du mal?“, fragte sie.

Mond wollte natürlich. Zusammen spürten sie, wie das kleine Mädchen in Gras seinen Morgentanz aufführte. Es fühlte sich glücklich an und machte auch Mond glücklich. Vermutlich machte es sogar Gras ein klein wenig glücklich. Wenn irgendwas Gras glücklich machte, dann waren es Wind und das kleine Mädchen, das bald auf die Welt kommen würde.

„Willst du reden?“, fragte Gras.

Mond hatte gestern nicht mehr geredet. Sie war einfach nur froh, bei ihren Geschwistern zu sein. Alle hatten sich um sie gekümmert, waren lieb zu ihr gewesen. Regen hatte ihr ein paar Lieder vorgesungen, von Igeln und Rehen und Schafen, Wind hatte sie oft in den Arm genommen, Gras hatte mit ihr über das Baby gesprochen und angeboten, dass Mond den Namen aussuchen durfte, und Sonne hatte ihr Wasser und Leckereien gebracht und all ihre Pflichten übernommen.

Keiner hatte gefragt. So war das bei ihnen. Aber jetzt war der nächste Tag, und natürlich wollten sie es wissen.

Mond wusste nicht, ob und wie sie das erzählen sollte. Irgendwie wollte sie schon reden. Aber sie wusste nicht, wie sie anfangen sollte. Sie verstand es ja nicht. Und eigentlich wollte sie es vergessen. Aber es saß in ihren Gedanken fest und wollte hinaus.

„Diese Räuber, haben die dir wirklich nur geholfen?“, fragte Gras. „Oder haben sie dich erst in Schwierigkeiten gebracht?“

Mond schüttelte den Kopf. „Nein, die waren gar nicht da. Zuerst, meine ich. Und dann waren sie da und haben mir geholfen.“

„Wobei geholfen?“, fragte Regen leise, die von draußen hereingekommen war und ganz fröstelig aussah, weil sie sich im kalten Bach gewaschen hatte. Regen traute sich noch immer nicht, genauso zu handeln wie die Vier. Auch wenn alle ihr immer sagten, dass sie nun dazugehörte. Sie war immer noch schüchtern.

Daher freute es Mond, dass sie nun nachfragte. Aber es fiel ihr schwer zu antworten. „Ich bin schwimmen gegangen“, sagte sie schließlich. „In dem Weiher war ich erst einmal vorher, und da hatte es geregnet und war kalt, also wollte ich gestern etwas länger schwimmen gehen. Und dann …“

Es ging nicht. Oder doch? Vielleicht war es besser, nicht darüber zu reden. Die anderen würden es verstehen. Aber vielleicht würde es dann immer weiter in ihren Gedanken sitzen und nagen.

„Etwas hat mich festgehalten. Von unten, aus dem Wasser. Es wollte mich behalten.“ Sie wollte Gras nicht ansehen. „Ich konnte es nicht sehen, aber fühlen und in mir hören. So … so wie ihr immer …“

„Wie wir von Vater erzählen“, ergänzte Gras ruhig.

„Ja.“ Mond schluckte. Ihr Mund war ganz trocken. „Es hat mich festgehalten und angefasst und mir gesagt, dass ich jetzt bei ihm bleiben muss. Ich konnte nicht weg. Und dann kam der Mann und danach der andere und sie haben mich befreit. Ich glaube, sonst wäre ich ertrunken. Es hat mich immer tiefer gezogen. Die zwei haben mich über Wasser gehalten und an Land gebracht. Ich glaube, sonst wäre ich jetzt tot.“

Regen streichelte ihren Arm. Gras starrte vor sich hin und versuchte zu begreifen, dass es sein konnte, dass Mond hätte sterben können. Dass einer von ihnen irgendwann nicht mehr dasein konnte. Es wollte ihr nicht in den Schädel gehen.

„Sonne will demnächst nochmal dahin“, sagte Regen. „Das hat er vorhin am Bach gesagt.“

Mond war überrascht, und dann schüttelte sich innerlich den Kopf über sich selbst, dass sie überrascht war. Natürlich hatte Sonne es gewusst. Sonne hatte das Ding im Weiher bestimmt gesehen. Vielleicht wusste es auch Wind, weil er es in ihren Gedanken gespürt hatte.

„Wisst ihr, was das war?“, fragte Regen.

Gras nickte.

„Was war es denn?“

Mond schüttelte den Kopf und setzte sich auf. „Nicht jetzt. Ich will frühstücken. Ich will raus an die frische Luft.“

„Es regnet“, sagte Regen.

„Ist mir egal. Ich habe Hunger.“ Sie stand auf und ging zu Wind hinüber, der gerade den Steintisch deckte.

Regen legte sich auf Monds Platz und schaute Gras an.

„Es gehört zum Weiher“, sagte Gras und schaute dabei an die Höhlendecke statt auf Regen. „Es wohnt darin und gehört dazu. Es ist einsam. Es will Kinder. Und es hat beschlossen, dass Mond deswegen bei ihm bleiben muss.“

„Habt ihr solche Wesen schon oft getroffen?“

Gras schüttelte den Kopf. „Gar nicht. Aber … Vater war auch so. Nur nicht im Wasser, sondern in einem Berg.“ Sie schaute Regen jetzt doch an. „Sprich nicht mit Mond darüber, ja?“

„Ich verspreche es.“

„Und besser auch nicht mit Wind und Sonne. Sie verstehen es nicht, wollen es nicht verstehen. Sie sind eben Männer. Und Mond ist noch ein Mädchen. Aber du und ich, wir sind Frauen. Ich bekomme bald ein kleines Mädchen. Und du …“

Regen spürte, wie sich ein strahlendes Lächeln auf ihr Gesicht legte. Sie hatte es noch niemandem gesagt, nicht einmal Sonne, und es war so schön, dass es jetzt durch die Worte Wirklichkeit wurde.

Gras’ Gesicht verzog sich zu einer ungewöhnlichen Form, sie lächelte Regen warm an. „Mond stimmt mir zu, dass meine Tochter Paiti heißen soll. Und deine?“

„Vielleicht wird es ja ein Junge.“

Gras schüttelte den Kopf. „Wir kriegen Mädchen. Jeder eins. Und wir wollen sie. Keiner hat uns gezwungen.“ Das Lächeln und die Wärme waren verschwunden. „Rede nicht mit den anderen darüber. Sonne und Wind wollen es nicht hören, und Mond soll es jetzt nicht hören. Aber wir vier, wir sind nicht so wie unsere beiden Mädchen. Wir zwei haben ihre Väter lieb. Mutter … sie war wie Mond gestern im Weiher. Nur kamen da keine Räuber, um sie zu retten. Sie fiel durch ein Felsloch und blieb in Vaters Höhle. Erst kam Sonne, dann Wind, dann ich. Als Mond unterwegs war, kam ein anderer. Sie kämpften. Vater verlor. Aber bevor er starb, machte er noch die Höhle auf, so dass wir fliehen konnten.“

Etwas in der Art hatte Regen schon lange geahnt. Aber wann immer Sonne über seinen Vater sprach, war da soviel Liebe und Wärme, dass sie sicher war, sich zu irren. Aber sie hatte sich nicht geirrt. Es war Sonne, der sich irren wollte. „Aber er hat euch dann gerettet, oder?“ Ihre Liebe zu Sonne zwang sie, den Vater der Vier zu verteidigen. „Sonst wärt ihr in der Höhle gestorben. Das hat er verhindert.“

Gras war einen Moment lang still. „Er hätte jederzeit die Höhle aufmachen können“, sagte sie schließlich. „Er wusste, dass Mutter dann weggelaufen wäre. Deswegen blieb sie zu. Deswegen blieben wir alle immer darin. Er hat sie erst aufgemacht, als er wusste, dass er sterben würde. Nie vorher. Er hätte uns nie gehen lassen.“ Sie setzte sich auf und sah Mond finster an. „Ich bin froh, dass er gestorben ist“, wisperte sie und warf einen Blick auf die anderen drei, die schon am Tisch saßen. „Aber das darfst du ihnen niemals sagen.“

Regen schüttelte den Kopf und legte ihre Hand auf Gras’.

Sie verstand jetzt, warum Gras immer so wütend war, so anders als die drei Geschwister. Sie verstand mehr, und was sie verstand, machte sie wütend. Regen dachte an die Mutter der Vier, ein Mädchen wie Regen, wie Mond, gefangen in einer Höhle ohne Ausgang, schwanger ohne es zu wollen, wieder und wieder und wieder, ohne Familie, die ihr bei den Geburten beistand, ohne andere, die ihr die Kinder mal abnahmen, ohne Tageslicht, ohne Freiheit, abhängig von dem Wesen, das sie gefangenhielt und ihr Kinder machte.

„Unsere Kinder werden anders aufwachsen als wir“, sagte Gras. „Die Höhle ist offen. Sie können hinaus, wann sie wollen. Erst mit uns, damit ihnen nichts passiert, und später dann alleine.“

Regen nickte. „So müssen Kinder aufwachsen. So bin ich aufgewachsen.“

„Mond auch. Ich erinnere mich nur ein bisschen an die Höhle, ich war noch klein, als Vater gestorben war. Für Sonne ist es am schwersten. Er hatte Vater sehr gern, hat von ihm viel geerbt. Er kann Wesen wie Vater sehen, wir anderen können das nicht. Ich kann sie spüren, wenn sie nahe sind. Ich weiß nicht, ob Wind ihre Gedanken hören kann, aber ich glaube nicht. Und Mond … Mond kann Mond sein. Das kann sie gut. Aber mehr auch nicht.“

„Wie alt warst du, als ihr aus der Höhle geflohen seid?“

„Ich weiß nicht. Vielleicht vier? Fünf? Sechs? Sonne war schon ziemlich groß. Für ihn war es sehr schwer. Wind war auch schon groß, aber Wind ist Wind, für ihn ist alles immer leicht.“ Gras strich über ihren Bauch. „Mutter hat uns in ein Dorf gebracht. Da gab es Ärger mit Sonne. Sonne ist nicht gut darin, mit Menschen zu leben. Aber Mutter wollte einen Menschenmann und hat ihn sich auch genommen. Er hat Mond aufgezogen, und er hatte Kinder mit Mutter. Wind und ich haben auch bei ihnen gelebt. Sonne wollte nicht, er war eine Zeitlang alleine irgendwo in einer Höhle. Das war furchtbar, wir waren im Haus von Mutters Mann und er war alleine draußen in den Bergen. Wir waren vorher noch nie getrennt. Dann starb Mutter, und Wind und ich sind zu Sonne gegangen. Und als Mond etwas älter war, ist sie uns nachgekommen. Dann haben wir diese Höhle gefunden, und seitdem wohnen wir hier. Und jetzt bist du auch hier, weil Sonne dich gernhat, weil du nicht bist wie andere Menschen. Du bist auch nicht wie wir, aber du passt zu uns. Und du kriegst Sonnes Baby.“ Sie schaute Regen nicht an, sondern auf die Felle, versteckte ihr Gesicht, aber Regen sah trotzdem das Lächeln und hörte das gehauchte „Ich bin froh, dass du hier bist.“

Sie drückte Gras’ Hand. „Unsere Mädchen werden fast gleich alt sein. Fast wie Zwillinge.“

Gras nickte und drückte Regens Hand zurück.

„Das wird schön“, sagte Regen.

Gras nickte erneut und sah Regen jetzt an, ohne Lächeln. „Ich muss morgen mit Mond reden“, sagte sie leise. „Falls sie auch ein Baby bekommt.“

Regen kam es vor, als hätte sie jemand im Genick gepackt und gekniffen.

„Falls das im Weiher schon gereicht hat“, sagte Gras. „Es könnte ja sein. Einmal kann reichen, sagte Mutter immer.“

Nein, dachte Regen, nein, nein, nein. Sowas durfte nicht passieren. Nicht so. Nicht Mond. Mond sollte einen tollen Mann treffen, sich verlieben und dann mit ihm Kinder haben. Nicht so etwas. „Und wenn sie eins bekommt?“, flüsterte sie.

Gras zuckte mit den Schultern. „Dann muss sie es wohl bekommen. Ich hoffe, sie kann es liebhaben.“ Sie umarmte ihren Bauch. „Ich bin ja immer auf alles wütend. Aber nicht auf mein Mädchen. Meine Paiti. Auf sie freue ich mich. Durch sie wird alles besser, jetzt schon, und bestimmt noch viel mehr, wenn sie erst einmal da ist.“

„Das hoffe ich für dich“, sagte Regen und meinte es so ernst, wie sie es nur ernstmeinen konnte.

„Du bist lieb.“ Gras verzog spöttisch das Gesicht, aber Regen kannte sie mittlerweile gut genug, um zu sehen, dass sie es nicht meinte, jedenfalls nicht richtig. „Du bist immer lieb. Das ist wirklich anstrengend.“

„Ich bin nicht immer lieb“, gab Regen zurück. „Ich bin so, wie andere zu mir sind. Ihr wart von Anfang an nett zu mir. Ich hatte nie einen Grund, nicht nett zu euch zu sein. Aber wenn ich das Wesen im Weiher jemals zu fassen kriege, dann werde ich es verprügeln.“

Gras schaute sie überrascht an.

„Und falls Mond wirklich ein Baby von ihm kriegt“, fuhr Regen fort und spürte, wie sich ihr Gesicht zu einer finsteren Miene verzog, „dann gehe ich mit Sonne zum Waldsee, der kann es ja sehen, und du kommst auch mit, du kannst es ja spüren, und dann verprügeln wir es gemeinsam. Und dann kann es sich gut überlegen, ob es sowas mit einem Mädchen nochmal anstellt oder besser doch nicht. Es könnte ja Geschwister haben.“

Gras grinste breit und umarmte Regen. „Du wirst immer mehr wie wir. Das ist gut. Mach damit weiter.“

Einige Tage später hatte der schlechte Wetter sich verzogen und goldene Herbstsonne floss über die Berge. Regen war heute an der Reihe, sich um die Pferde zu kümmern. Dankbar kauten sie das Getreide, das sie ihnen hinstreute, und ließen sich danach ausgiebig kraulen und hörten freundlich zu, als sie ihnen von ihrer Kindheit erzählte, von der letzten Nacht mit Sonne, von dem kleinen Funken Leben in ihrem Bauch. Sie hatte Sonne immer noch nichts gesagt, außer Gras und den Pferden wusste es niemand. Es war noch so früh, und manchmal gingen diese Dinge schief. Das wollte sie Sonne nicht antun. Besser, er wusste nichts, bis das Baby sich gemütlich eingerichtet hatte.

Als die Pferde das Getreide aufgeschlabbert hatten, kuschelte sie ein wenig mit ihrem eigenen Pferd, das sie vor einigen Wochen besorgt hatten. Sie hatte es Kraulnase getauft, weil es ein sehr kuscheliges Tier war und nie genug vom Nasenkraulen bekam. Es mochte Regen und Regen mochte es. Sie kamen gut miteinander aus. Es erinnerte sie immer ein wenig an Sonne, der auch nie genug vom Kuscheln bekam.

Vor lauter Kuschelei bemerkte sie den Mann, der den Pfad hinaufritt, erst spät. Er war schon so nah, dass sie das Grau in seinen schwarzen Haaren sehen konnte, die Müdigkeit in seinem Gesicht. Aber er war noch fern genug, dass sie Kraulnase loslassen und zur Höhle rennen konnte. Noch nie hatte sich jemand hierher verirrt, nie war jemand auch nur in der Nähe der Höhle gewesen. Sie hatte gedacht, dass niemand außer den Vieren den Weg kannte.

Wind kam ihr am Eingang entgegen, er schaute besorgt. „Was ist los?“

„Da kommt einer, er ist schon fast da!“

Die Vier wechselten Blicke. Sonne legte den Arm um Regen. Zu fünft traten sie vor die Höhle.

Der Mann hatte nun den Eingang fast erreicht und war gerade vom Pferd gestiegen, um es an einem Ast anzubinden. Die fünf einheimischen Pferde schnoberten neugierig in seine Richtung. Die Vier schauten sehr unneugierig auf den Mann. Regen spürte, dass Mond auf ihn zulaufen wollte, aber sie tat es nicht. Sie tat gar nichts.

Wind war derjenige, der einen Schritt vorwärts machte. „Was willst du?“

Der Mann schaute ihn an, sein Blick glitt über die anderen, nahm Gras’ dicken Bauch stirnrunzelnd zur Kenntnis, blieb an Regen hängen, wurde überrascht. „Wer ist das denn?“

Sonnes Arm hielt Regen fester. „Was willst du?“, fragte er.

Auf einmal wirkte der Mann noch müder. Sein Blick blieb an Mond hängen und wurde unendlich traurig. „Ich hätte nicht herkommen sollen“, sagte er leise und seufzte, dann wandte er sich ab und ging zu seinem Pferd zurück.

Jetzt rannte Mond endlich los, ergriff seine Hand. „Nicht so“, sagte sie bedrückt und schaute sich zu ihren Geschwistern um. „Bitte nicht so.“

Wind war der erste, er senkte den Blick und nickte. Gras seufzte. Sonnes Arm blieb fest um Regen gelegt, und Sonne rührte sich lange nicht. „Kommst du mit rein?“, wisperte er dann Regen zu.

„Wer ist das?“, wisperte sie zurück.

Er ließ sie los und ging in die Höhle. Regen wollte ihm folgen, aber sie wollte auch wissen, wer der Mann war und was er hier wollte. Sie blieb bei Gras und ging mit ihr gemeinsam zu Wind und Mond und dem Mann. Er schaute gerade Mond an, mit so warmen Augen, wie jemand nur jemanden anschauen konnte.

„Gut siehst du aus“, sagte er leise, als Regen und Gras sich hinter Wind und Mond stellten. „Bist ja eine richtige junge Frau jetzt, kein kleines Mädchen mehr. Ganz anders als deine Mutter, aber genauso hübsch.“

Mond lachte und umarmte ihn. „Nicht so hübsch wie Mutter. Aber danke.“ Sie ließ ihn abrupt los, warf einen Blick zu Wind und Gras und schien sich etwas zu schämen. „Du siehst nicht gut aus“, sagte sie dann und strich über seine Schulter. „Ist etwas passiert?“

Der Mann nickte und schluckte, schaute von ihr zu Wind und dann Gras. „Es ist Ketu. Er …“ Er schluckte erneut.

„Er ist nicht tot!“ Mond machte einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf. „Sag, dass er nicht tot ist!“

„Er ist nicht tot. Glaube ich. Aber ich weiß nicht, wo er ist.“ Seine Stimme brach beim letzten Satz, seine Hand hob sich und wischte sich über die Augen. „Seke und Telu sind in den Bergen unterwegs und suchen ihn. Aber …“ Er schaute Wind an, seine Augen waren noch immer feucht. „Du könntest ihn doch viel schneller finden, oder? Bitte. Ich weiß, du hast nicht viel für Seke, Telu und mich übrig, aber Ketu ist doch trotz allem dein Bruder.“

Wind sah ernsthaft betroffen aus. „Was ist passiert?“

Mond griff die Hand des Mannes. „Komm mit rein.“

Gras schüttelte den Kopf.

„Ist mir egal, was Sonne sagt!“, brauste Mond auf. „Schau ihn dir an, er muss sich jetzt hinsetzen und etwas trinken und uns erzählen, was passiert ist. Das macht man so. Nicht hier draußen im Stehen!“

Regen nickte unwillkürlich. So wie das hier machte man sowas wirklich nicht, egal, worum es ging.

Auch Wind nickte. „Komm rein, Teni.“

Gras seufzte und ging zur Höhle vor. Regen blieb neben Wind, während Mond Tenis Hand festhielt und mit ihm gemeinsam hineinging.

In der Höhle angekommen konnte Regen nirgendwo Sonne sehen. Er war einfach nicht da. Sie huschte sogar kurz zu ihrer Nische, doch auch dort war er nicht. Als hätten die Wände ihn verschluckt. Vermutlich hatten sie das, oder eher noch hatte er sich in den Wänden versteckt. Das machte er manchmal, wenn ihm Dinge zuviel wurden.

Mond hatte Teni auf ihren Schemel geschoben und sich auf Sonnes gesetzt. Gras und Wind nahmen ihre Plätze ein, also setzte sich Regen auf ihren Platz zwischen Mond und Wind. Wind schenkte ihnen allen Wasser ein. Teni trank einen halben Becher und atmete dann tief durch.

„Das hier ist für Ketu, versteht ihr? Nicht für mich.“

„Was ist mit ihm?“, drängte Mond. „Warum weißt du nicht, wo er ist?“

„Vor zwei Tagen hatten wir Besuch am Hof“, erzählte Teni. „Ungewollten Besuch, eine Handvoll Herumtreiber. Wir hatten schon von ihnen gehört, sie haben Schafhirten bestohlen und nachts in einigen Dörfern die Scheunen aufgebrochen. Den Habichtshof haben sie vor einer Woche überfallen und etliche Beulen und Schrammen hinterlassen, zum Glück nichts Ernsthaftes. Widerliches Räuberpack.“ Er leerte seinen Becher. „Vor zwei Tagen nun hat Seke sie bei uns bemerkt, am Waldrand. Ihr kennt ja Seke, er hat nicht lange gewartet, hat Telu und Ketu geholt und ist zu ihnen gegangen und hat ihnen gesagt, dass sie sich besser wo anders umsehen sollen, weil es hier genug Leute gibt, die ihnen gerne die Schädel einschlagen würden. Dann sind sie gegangen. Wir dachten, wir hätten sie vertrieben. Aber gestern Abend ist Ketu nicht nach Hause gekommen. Er war unten am Bach, um den Zaun für die Pferdeweide zu reparieren. Er kommt immer zurück, bevor es dunkel wird. Als es dämmerte und er noch nicht da war, sind wir los, um ihn zu suchen, haben nur Telu zurückgelassen, um das Haus zu bewachen. Aber von Ketu keine Spur. Wir haben alles abgesucht, falls er sich verletzt hat, aber er war nirgends. Aber eins haben wir gefunden: Hufspuren. Von einem beschlagenen Pferd. Unsere Pferde sind alle nicht beschlagen, aber Seke sagt, die der Räuber waren es.“ Teni atmete zittrig durch. „Sie haben meinen Ketu geraubt. Hätte ich sie bloß an unsere Vorräte gelassen! Bitte, Wind, du musst sie finden. Bitte.“

Wind und Gras wechselten Blicke mit Mond. „Diese Räuber“, meinte Wind schließlich, „wie viele waren das?“

„Sechs, sagt Seke. Fünf Männer, einer davon noch ein Grünschnabel, und eine Frau.“

„Der Anführer noch ziemlich jung? Und begleitet von einem etwas älteren Muskelpaket?“, fragte Gras.

Teni starrte sie an.

„Die kennen wir“, sagte Gras. „Sie haben vor ein paar Tagen Mond vorm Ertrinken gerettet. Sie haben was gut bei uns.“

Mond stand energisch auf. „Aber nicht sowas!“, fauchte sie. „Sie können nicht einfach meinen kleinen Bruder rauben, nur weil sie mir das Leben gerettet haben. So läuft das nicht! Man darf Gastfreundschaft einfordern oder sich darauf verlassen, dass wir auch einmal ihre Leben retten werden, aber nirgends heißt es, dass sie alles tun dürfen, was sie wollen, nur weil sie mich gerettet haben!“

„Das stimmt“, sagte Wind ruhig. „Aber leider stimmt es auch, dass ich nicht das tun kann, worum du mich bittest“, sagte er dann zu Teni. „Nicht, weil ich es nicht tun möchte. Ich kann es nicht. Ich kann nicht Leute sehen, die weit weg sind. Ich wünsche, ich könnte es. Dann würde ich dir helfen, das verspreche ich.“

Teni senkte den Blick, starrte auf den Tisch. „Dann war mein Weg umsonst“, flüsterte er, „ich hätte auf Seke hören sollen. Ich hätte mitsuchen sollen, statt herzukommen. Ich habe einen Tag Suche verloren.“

„Wir suchen mit.“ Sonne stand auf einmal am Tisch. „Ich mag dich nicht. Aber du hast Recht, Ketu ist unser Bruder, ob wir wollen oder nicht. Wir helfen euch, ihn nach Hause zu holen. Mutter würde es so wollen.“

Gras nickte und stand auf. „Ich mache die Pferde fertig. Hilfst du mir, Regen?“

Regen folgte ihr nach draußen, kratzte mit ihr die Pferdehufe aus und legte den Tieren die Zaumzeuge an. „Teni ist … euer Stiefvater?“, fragte sie vorsichtig.

Gras nickte einmal, kurz und unfreundlich, aber Regen wusste, dass das Gefühl nicht ihr galt.

„Wie alt ist Ketu?“, fragte Regen.

„Kaum ein Jahr jünger als Mond. Fast sechzehn.“ Gras fuhr durch die Mähne von Winds Pferd, dem sie gerade das Zaumzeug angelegt hatte. „Ich mag Teni nicht. Teni fand immer, er könnte unser Vater sein. Aber ich hatte nur einen Vater, und der war nicht wie Teni. Aber Mond kennt unseren Vater nicht, und … sie hat ihn gern. Er hat sie auch gern. Und Mond hat Ketu sehr gern, und die anderen zwei auch. Und … Ketu war nie gemein zu uns. Ich glaube, wir waren gemeiner zu ihm, als er zu uns war.“

Sie klang, als täte es ihr leid. Das kleine Mädchen in ihrem Bauch brachte immer mehr erstaunliche Dinge in ihr hervor.

„War Teni gemein zu euch?“, fragte Regen.

Gras schüttelte den Kopf und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Seke, den kann ich nicht ausstehen. Das ist Tenis ältester Sohn. Und Telu macht alles, was Seke sagt. Teni … er wollte uns beherrschen. Sowas lassen wir nicht zu. Aber er hat nie versucht, uns zu schlagen. Wenn er wütend auf uns war, ist er zu Mutter gegangen, und sie hat sich gekümmert. Seke … der ist anders. Aber Seke ist nicht Teni. Und auch nicht Ketu. Mond zuliebe würde ich Teni in jedem Fall helfen, weil sie ihn wirklich gern hat. Sie kennt außer ihm keinen anderen Vater. Und wegen Ketu helfen wir alle. Es ist ja nicht seine Schuld, dass Teni sein Vater ist.“

Die anderen kamen nun mit Teni heran. Sie saßen alle auf und ritten los, den schmalen Trampelpfad hinab zum größeren Weg. Hier trieben sie die Pferde an. Sie hatten ein gutes Stück weg vor sich ins Tal hinab, bevor sie auch nur mit der Suche anfangen konnten.

Es war das Grüntal, das Nachbartal von Regens Heimat, dem Eisflusstal. Regen war noch nie hiergewesen und blieb dicht bei Sonne, damit sie nicht verlorenging. Es reichte, dass sie Ketu suchten. Noch jemand musste nicht verlorengehen.

Im Grüntal trennten sie sich von Teni, der nach Hause ritt, wo Aina und Tari alleine warteten. Mond und Wind ritten den Fluss entlang, der sich durch das Tal zog, Sonne, Regen und Gras ritten durch den Wald auf dem östlichen Talhang. Teni hatte gesagt, dass Seke und Telu sich den westlichen Talhang vornahmen.

Das Grüntal war langgezogen und schmal. Doch durch die vielen Bäume und Felsen gab es zahllose Versteckmöglichkeiten. Wann immer sie an einem großen Felsen vorbeikamen, stieg Sonne ab und legte den Kopf daran und sprach mit ihm, aber die Steine wussten nichts, sie achteten nicht auf ihre Umgebung, sondern kümmerten sich um sich selbst und den Untergrund, auf dem sie ruhten.

Regen mochte das Grüntal immer mehr, je länger sie hindurchritten. Daheim im Eisflusstal gab es nicht so viele Bäume, sondern viel mehr Geröllfelder. Hier war der Boden mit alten Tannennadeln bedeckt, und die Pferdehufen klangen dumpf und gemütlich auf dem weichen Untergrund. In den Baumwipfeln huschten Tierchen hin und her, Vögel sangen und krächzten. Es war freundlicher hier.

Um die Mittagszeit hockten sich Sonne, Regen und Gras auf einen der Felsen und futterten mitgebrachte Vorräte, Brot und hartgekochte Eier und etwas Käse. Ein kleiner Bach stillte ihren Durst und den der Pferde, die sich außerdem am Gras einer Waldlichtung bedienen durften.

Die ganze Zeit hatten sie nicht gesprochen. Sonne und Gras sprachen nie besonders viel, und Regen hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, mit ihnen zusammen still zu sein. Sie redete sehr gerne mit Mond und auch mit Wind, aber die Stille der anderen zwei mochte sie fast noch lieber. So konnte sie ganz dazugehören. Im Stillsein konnte sie sogar mehr dazugehören als Mond, die es nicht ertrug. Sie musste immer wieder reden, singen, summen oder über etwas lachen. Wind konnte auch gut still sein, aber bei ihm wusste man, dass er viel mehr hörte als alle anderen. Sonne und Gras waren einfach nur still und spürten einander und die Welt, und Regen lernte immer besser, das auch zu tun. Sie spürte Sonnes Schulter gegen ihre, den Fels unter sich, hörte Gras neben sich kauen und eine Krähe krächzen und den Bach plätschern. Und sie spürte, wie Gras sich verspannte und sich auf den Fels legte. Zusammen mit Sonne drehte sie sich zu ihr um. Gras schaute sie an und schüttelte ärgerlich den Kopf, die Hände auf dem Bauch verschränkt. „Beim Reiten war sie still“, brummelte sie.

„Du kannst hier warten“, sagte Sonne.

„Wenn du willst, warte ich mit dir“, sagte Regen.

Gras schüttelte wieder den Kopf. „Wir lassen die Pferde noch etwas futtern und dann geht es weiter. Sie soll sich schon einmal daran gewöhnen, dass sie nicht entscheiden kann. Wir entscheiden immer gemeinsam. Und Ketu ist gerade wichtig. Schließlich ist er ihr Onkel.“

Regen legte sich neben sie, und Sonne legte sich neben Regen, nahm sie in den Arm und legte den Kopf gegen ihren Nacken. So lagen sie eine Weile zu dritt. Regen hatte nie gedacht, dass Felsen so kuschelig sein könnten, aber wenn man mit Sonne auf einem lag, dann fühlte er sich an wie ein weiches Moosbett.

Nach einer Weile stand Gras auf und kletterte vom Felsen, um zu pinkeln. Sonnes Hand strich über Regens Brüste, über ihren Bauch, und dann hielt Regen sie kichernd fest, denn sie mussten ja bald weiterreiten. Er lächelte gegen ihren Nacken und sie rollte sich herum, um ihn zu küssen.

„Du musst keine Angst haben“, sagte er dann.

Sie zwinkerte verwirrt. „Habe ich doch auch nicht.“

Er strich mit der Hand über ihre Wange und lächelte sein sanft-scheues Sonne-Lächeln, als er die Hand auf ihren Bauch legte. „Deswegen. Ich weiß es doch. Und es wird alles gutgehen. Du kannst mir sowas ruhig sagen.“

Er wusste?

Wieso wusste er?

Er wusste!

Und er freute sich!

Sie presste sich an ihn und ließ sich festhalten, ihr Herz schlug schnell und aufgeregt, flatterte halb ihren Hals empor.

Er küsste sie überm Ohr, und sie spürte ihn leise lachen. „Hab nicht immer soviel Angst. Bei uns brauchst du keine Angst zu haben.“

„Hat Gras es dir erzählt?“, fragte sie gegen seine Brust.

„Nein, das brauchte sie nicht. Aber ich freue mich, dass du es ihr erzählt hast.“ Er atmete glücklich durch. „Es ist doch auch nur ein kleines Wesen in einer Höhle. Ich kenne mich mit Höhlen aus. Es fühlt sich wohl darin, ihm geht es gut. Es ist winzig klein, hat viel Platz und ist warm und satt und zufrieden. Mach dir keine Sorgen. Sonst macht es sich auch Sorgen.“

Gras kletterte wieder zu ihnen. „Du weißt es?“, fragte sie Sonne.

„Natürlich weiß ich es.“

Gras grunzte. „Wind wollte es mir ja nichtmal glauben, als ich es ihm gesagt habe. Manchmal ist Wind so unsagbar dumm.“ Sie lächelte zärtlich und strich über ihren Bauch. „Zum Glück wird sie ein Mädchen und so schlau wie ich. Reiten wir weiter?“

Sie ritten weiter am Fluss entlang. Und dann hörten sie ein Pferd wiehern.

Sofort hielten sie an und waren still, noch stiller als sonst.

Regen hörte keine Menschen, aber sie konnte sie spüren. Ganz so, wie Sonne und Gras auch wussten, dass sie da waren, da hinten, hinter der Biegung im Fluss.

Sie stiegen von den Pferden und banden die Halfterstricke an einen Ast und gingen vorsichtig näher.

Ein Mann stand im Fluss, splitternackt, denn er wusch sich gerade. Regen erkannte ihn, er war einer der Räuber. Auch beim Weiher war er nass gewesen, der Ältere der beiden Nassen.

Sie duckten sich hinter einen Busch am Flussufer und schauten.

Hinter einem der Felsen am Fluss tauchte eine zweite Gestalt auf, ein junger Bursche mit nassen Haaren und einer gewissen Ähnlichkeit mit Mond. Gras zischte.

Sonne war sehr still, einen langen Moment lang. Dann sagte er leise: „Ich glaube nicht, dass sie ihn geraubt haben.“

„Wir nehmen ihn mit zu Teni“, zischte Gras. „Das haben wir ihm versprochen.“

„Und wenn er nicht mitwill?“

Regen schüttelte den Kopf. „Warum sollte er nicht nach Hause wollen?“

Der nackte Räuber hatte sich mittlerweile entnackt, indem er sich seine Hose angezogen hatte. Und jetzt legte er einen Arm um den Nacken des Jungen und küsste ihn. Und der küsste ausgesprochen hingebungsvoll zurück.

„Deswegen“, brummelte Sonne.

„Aber das ist ein Mann!“, zischte Regen.

„Und?“, fragte Sonne.

„Das ist doch verkehrt, dein Bruder kann doch nicht einen Mann küssen!“

„Ketu ist auch nicht viel jünger als du, und der Räuber ist sicher auch nicht älter als ich.“

„Aber das ist ein Mann!“

„Ich doch auch.“

„Was Pait- … was Regen sagen möchte“, schaltete sich Gras ein und sah ungewöhnlich belustigt aus, „ist, dass Jungs sonst eher Mädchen oder Frauen küssen. Und Männer küssen auch eher Mädchen oder Frauen. Und Frauen oder Mädchen küssen Jungs oder Männer. Verstehst du?“

„Oh. Ach so. Warum?“

„Ist so. Das Warum ist egal.“

„Ist gar nicht egal“, zischte Regen. „Das gehört sich nicht. Und es ist gegen die Natur. Und überhaupt.“

„Mir ist es egal.“ Gras stand auf und ging durch den Fluss auf die beiden zu. „Ketu!“, brüllte sie. „Was fällt dir eigentlich ein?“

Ketu erstarrte sichtlich und erblasste selbst auf die Entfernung gut erkennbar.

„Deine gesamte Familie ist auf den Beinen und sucht dich, weil dein Vater glaubt, dass man dich geraubt hat“, fauchte Gras weiter und stapfte energisch weiter, so dass das Wasser hoch aufspritzte, „und du lungerst hier mit diesem Kerl herum und hast dir eine schöne Nacht gemacht, ja? Und ich darf hier hochschwanger durch den Wald reiten, ist ja nicht so, als ob die Kleine wahnsinnig gerne reitet, das tut sie nämlich nicht, aber daran hast du mit deinem kleinen dummen Tenisohnschädel ja wohl nicht gedacht, was?“

Sie erreichte nun das gegenüberliegende Flussufer. Ketu war ein paar Schritte zurückgewichen und versteckte sich hinter dem Räuber, der Gras ziemlich verwirrt anglotzte.

Hinter den beiden tauchten nun die übrigen Räuber auf, kein Wunder bei dem Geschrei, das Gras angestellt hatte. Sonne stand auf und rannte in den Fluss, Regen seufzte und rannte hinterher.

„Ihr schon wieder?“, rief der Räuber, der Mond aus dem Weiher gezogen hatte. „Was zum Geier wollt ihr denn hier?“

„Das da“, Gras deutete auf Ketu, „ist unser kleiner Bruder!“

„Verdammte Scheiße aber auch, wie viele Geschwister habt ihr?“ Die Stimme des jungen Räubers schnappte beinahe über vor Wut. „Erst lässt sich eure Schwester fast ersaufen und ersäuft mich und Madun dabei auch noch fast mit, und dann findet Madun endlich mal wieder was zum Naschen und das ist dann natürlich auch ein Bruder von euch! Das ist doch nicht mehr normal hier! Ich hab keinen Bock mehr auf diese Scheiße!“

„Aber echt!“, schrie einer der anderen Räuber. „Dann nehmt den halbgaren Burschen halt mit und haut wieder ab!“

„Genau!“

„Echt!“

„Raku, lass uns endlich weiterreiten und irgendwem aufs Maul hauen.“

Madun stand bei Ketu und sagte nichts. Raku schaute Madun an und sagte auch nichts.

„Scheiße“, brummelte einer der anderen Räuber.

„Nee, ne?“

„Kommt schon.“

„Scheiße.“

Sonne ging an Gras vorbei auf Ketu zu, der immer noch halb hinter Madun stand. „Hallo, Ketu.“

„Hallo, Sonne“, sagte Ketu leise. „Bist du auch sauer?“

Sonne schüttelte den Kopf. „Aber Teni macht sich wirklich Sorgen. Und Mond und Wind auch. Wahrscheinlich sogar Seke und Telu. Und Aina und Tari zuhause. Hättest du nicht wenigstens tschüß sagen können?“

„Ich … das … ich wollte doch nicht …“

„Siehst du?“, zischte Gras. „Er wollte nicht!“

„Es ging einfach so schnell!“, schrie Ketu. „Ich habe das doch nicht geplant! Hast du das geplant?“, fragte er Madun.

Madun schüttelte den Kopf. „Raku plant. Ich mache nur.“

Raku lachte trocken auf. „Na, das hier habe ich aber garantiert nicht geplant. Ich plane besser.“

„Sag ich ja“, brummelte Madun. „War nicht geplant. Nicht von Ketu, nicht von Raku, nicht von mir. Sowas passiert halt mal.“

„Ich sag’s dir, das nächste Mal, wenn du wen hübsch findest, dann sagst du mir Bescheid, bevor du ihn dir einfach aufs Pferd packst und mitnimmst!“, knurrte Raku.

„Ist ja gut, wie lange willst du jetzt noch darauf rumreiten?“

Die Räuberfrau lachte laut los. „Na, sicher so lange, wie du auf dem Jungen heute Nacht rumgeritten bist.“

„Nicht hilfreich“, knurrte Raku mit Blick auf Gras’ ärgerliches Gesicht.

„Also, was machen wir jetzt?“, fragte Madun.

Raku sah ihn an und seufzte. „Wir bringen Ketu nach Hause. Dann sehen wir weiter.“

„Mein Vater haut mich in Stücke“, protestierte Ketu. „Wenn der erfährt, dass ich …“

„Keiner haut hier irgendwen in irgendwas“, unterbrach ihn Sonne. Er war nicht laut. Aber irgendwas in seiner Stimme ließ alle sehr, sehr still werden. „Und Ketu wird kein Räuber.“

Niemand widersprach.

„Das hier ist übrigens Regen.“

Regen nickte Ketu zu und wusste nicht, was sie sagen sollte. Zum ersten Mal seit dem Morgen im Dorf vor vielen Wochen war Sonne ihr gruselig.

„Sie kriegt mein Baby.“

Sonnes Stimme war so zärtlich und warm, dass der Grusel verpuffte. Regen legte ihre Hand in Sonnes und nickte.

„Hallo, Regen.“

„Hallo, Ketu.“

„Seid ihr fertig?“, knurrte Gras. „Meine Paiti will jetzt nämlich nach Hause, die hat genug von verliebten Jungs und nicht nachdenkenden Männern und dummen Räubern und Gereite durch Wälder und über Steine und von wütenden Mamis, die durch Flüsse stapfen. Kommt ihr?“

Sie kamen. Alles an Gras machte klar, dass es nicht ratsam war, etwas anderes zu tun.

Tenis Hof lag talaufwärts und es dauert bis zum Abend, bis sich der Trupp aus Räubern, Geschwistern und Regen dorthin durchgeschlagen hatte, zumal Gras für ihren Babybauch eine längere Zwischenpause einlegen musste. Und der Abend kam früh hier im Tal, wo die hohen Berge das Sonnenlicht versteckten.

Wind und Mond waren offenbar kurz vor ihnen angekommen, und Mond schrie auf und rannte ihnen entgegen, als sie Ketu erkannte, und drückte ihn so fest an sich, dass er zappelnd versuchte, sich zu befreien. „Ist ja gut, ist ja gut, lass mich jetzt!“

Teni trat aus dem Haus und sah so erleichtert aus, dass Regen ihn gern hatte. Welche Probleme auch immer Sonne und die anderen mit ihm hatten, er war bestimmt ein guter Vater, der sich um seine Kinder sorgte. Hinter Teni kamen ein Mädchen und ein Junge aus dem Haus gelaufen und hielten sich hinter ihm, Aina und Tari, beide jünger als Ketu.

Raku stieg von seinem Pferd und trat Teni einen Schritt entgegen. „Wir wollten dir keinen Schreck einjagen. Der Bursche ist halt mitgekommen. Kleines Abenteuer für ihn, ziemlich viel Trubel für uns, jetzt ist er wieder hier und niemandem ist was passiert. Ja?“ Er streckte Teni die Hand entgegen.

Teni starrte ihn finster an und warf Gras und Sonne einen Seitenblick zu. Sonne nickte. Gras guckte grimmig. Ketu bekam rote Schamflecken auf den Wangen. Madun starrte auf den Boden.

Endlich schlug Teni in Rakus Hand ein, sehr hart, sehr kurz. „Ihr habt doch den Hof ausbaldowert. Jetzt bringt ihr meinen Jungen zurück und guckt noch mal, was es zu holen gibt, was?“

„Nee“, brummelte Madun noch vor Raku.

„Nee“, sagte Raku. „Du bist ja mit diesen da verwandt.“ Er deutet auf Sonne und Gras. „Die sind uns zu schräg, mit deren Sippe legen wir uns nicht an.“

„Nee“, sagte Madun. „Machen wir nicht.“

Die anderen Räuber murmelten zustimmend.

Ketu wurde derweil von Aina und Tari mit Umarmung zum Haus gezogen. Er warf einen Blick über die Schulter zurück, zu Madun. Dann senkte er den Kopf und ließ sich ins Haus bugsieren. Madun presste die Lippen fest zusammen.

„Wie geht es dir?“, fragte Raku unvermittelt Mond, und zwar mit einer Stimme, die die Räuber zusammenzucken ließ. So still und vorsichtig klang Raku nie. Und er guckte auch nie so plüschig wie ein Fohlen.

„Gut“, sagte Mond und lächelte. Das tat sie ja sehr oft, das war nichts besonderes, aber dass sie nur leise „gut“ sagte und lächelte, statt irgendwie energisch noch etwas hinterherzusetzen, etwas zurückzufragen oder aus irgendeinem Grund irgendwohin loszusprinten, das war merkwürdig. Sonne runzelte die Stirn. Gras seufzte.

„Du warst hoffentlich nicht mehr schwimmen, oder?“, fragte Raku weiter, mit der gleichen merkwürdigen Stimme.

„Nee“, antwortete Mond. „War ich nicht.“

„Das ist gut.“

Mond nickte.

Wind räusperte sich. „Teni, ich weiß, wir vertragen uns nicht gut. Aber die Nacht kommt, zu unserem Berg ist es ganz schön weit, und Gras hat ein Baby im Bauch. Können wir bei dir übernachten?“

„Natürlich“, antwortete Teni. „Das ist doch das mindeste.“

„Und Seke und Telu?“, brummelte Sonne.

Teni schüttelte sacht den Kopf. „Um die kümmere ich mich, mach dir keine Sorgen. Ich freue mich, euch wieder daheim zu haben. Ihr seid keine Gäste, ihr seid Familie.“

„Ob ihr wollt oder nicht“, grummelte Mond und starrte Gras und Sonne mit funkelnden Augen an. „Klar?“

„Klar“, sagte Gras und rollte sich vom Pferd. „Hauptsache, Paiti muss nicht mehr reiten. Und ich habe auch keine Lust mehr. Und ihr haut jetzt ab“, sagte sie zu den Räubern. „Ihr seid nämlich nicht Familie.“

Die vier Räuber nickten zustimmend und schauten dann leicht gequält auf Raku und Madun, die nicht nickten, sondern Mond anstarrten – das war Raku – oder sehnsüchtig zum Haus schauten – das war Madun.

„Hab ich was verpasst?“, fragte Wind und sah Sonne verwirrt an.

„Ja“, sagte Sonne. „Aber vorher sollten wir was essen. Die sechs bleiben über Nacht hier, die können ja im Stall schlafen.“

Tenis Gesicht errötete wütend, er setzte zu einer Antwort an, sah Sonne an und blieb still. Dabei war Sonne gerade nicht einmal besonders gruselig, er war einfach nur Sonne, fand Regen. Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie Sonne auch gruselig gefunden hatte, bevor sie ihn kennengelernt hatte.

„Na gut“, knurrte Teni schließlich. „Aber nur, weil ich wissen will, was Ketu eigentlich bei euch wollte!“

Teni nahm die Erklärung der Umstände beherrschter auf, als Raku befürchtet hatte. Andererseits war es verständlich, denn mit den Geschwistern im Haus hätte Raku an seiner Stelle auch keinen Tamtam gemacht. Die drei waren … schräg. Mond dagegen, Mond war … anders.

Raku wollte nicht über Mond nachdenken. Mädchen waren zum Vernaschen da, nicht zum Nachdenken. Und das Blödeste war, dass Raku nicht mal über Mond nachdenken konnte. Nicht, dass er es wollte. Aber hätte er es gewollt, hätte er es nicht gekonnt. Denn wenn er an Mond dachte, dachte er an gar nichts mehr, sondern sah sie nur an und fühlte sich ziemlich warm und hatte keine Gedanken mehr.

Raku gefiel es nicht, wenn er nicht denken konnte. Er musste denken, Madun verließ sich auf ihn. Sie funktionierten gut so, wie sie waren – Raku zum Denken, Madun zum Machen, zusammen unschlagbar.

Aber Rakus Gedanken verflüchtigten sich in Monds Gegenwart, und dafür bekam Madun in der Nähe von Ketu offenbar eigene Gedanken, denn er redete an Rakus Stelle:

„Also, ich hätte ihn nicht einfach mitnehmen sollen. Das stimmt ja. Das tut mir auch leid. Aber er hatte hinterher Angst, nach Hause zu gehen. Also konnte ich ihn auch nicht zurückschicken. Deswegen habe ich ihn mitgenommen. Was falsch war. Aber Raku hat gesagt ‘jetzt hast du ihn schon mitgenommen, also nimm ihn halt mit’, also habe ich ihn mitgenommen. Wir hätten Bescheid sagen sollen, schätze ich.“

„Ja, hätten wir“, brummelte Raku. Er hätte daran denken sollen statt an Mond. In letzter Zeit dachte er nicht besonders gut.

„Du hättest einfach die Finger von ihm lassen sollen!“, schrie Teni. „Ich reiße mir nicht den Arsch für meine Kinder auf, damit so Pack wie ihr vorbeikommt und sich an ihnen vergreift!“

„Von wegen vergreift!“, schrie Raku zurück. „Dein Junge wollte, Madun wollte, alles so, wie es sein sollte!“

„Wie es -“ Teni stürmte vor, Wind hielt ihn an der Schulter zurück. „Ein Junge mit einem Mann, das ist, wie es sein sollte? Der Kerl soll sich ein Mädchen suchen, und du auch, verdammt noch mal! Sucht euch Mädchen, lernt ein Handwerk oder baut euch einen Hof auf, wie es sich gehört!“

Rakus Blick waren bei „sucht euch Mädchen“ zu Mond geflüchtet, und alle außer Teni und Aina und Tari hatten es gemerkt. Mond war knallrot geworden. Die übrigen Räuber wechselten hilflose, betretene Blicke. Sonne zwinkerte verdutzt. Wind starrte abwechselnd auf Raku und dann auf Mond. Ketu schaute von Raku zu Madun und blieb an ihm hängen.

Gras fing an zu lachen. Erst ein Glucksen, dann ein Kichern, dann lachte sie, dass sie von Kopf bis Fuß bebte, hielt sich am Tisch fest, setzte sich auf den Boden und lachte. „Entschuldigt“, japste sie, „Paiti findet es saukomisch. Und ich auch.“

„Was zum Geier ist komisch?“, polterte Teni.

„Dass sich der Hohlkopf da“, Gras schnappte nach Luft und deutete auf Madun, „sich in Ketu verguckt, und das Großmaul da“, sie wedelte atemlos in Richtung Raku, „in Mond.“

„Mond?“ Teni fuhr herum und starrte in ihr hochrotes, verlegenes Gesicht. „Meine Mond? Der Kerl? Du lässt die Finger von ihr!“, fauchte er Raku an.

„Ich hab ja gar nichts gemacht!“, schrie Raku zurück.

„Nur ihr Leben gerettet“, rief Wind dazwischen, breit grinsend und offenbar kurz vor einem Lachanfall von Gras’schem Ausmaß.

„U-u-und sie war schhh-splitternackt!“, quiekte Gras atemlos. „Das ist einfach zu lu-hu-hustig!“

Sonne sah sich stirnrunzelnd um und ging hinaus, ihm war zuviel Trubel. Regen folgte ihm, verwirrt, etwas ängstlich und auch ziemlich belustigt. Kurz darauf kamen Aina und Tari hinterher, hielten scheu Abstand zu Sonne, sahen ihn aber mit großen Augen an.

„Das ist Regen“, sagte Sonne mit ebenso scheuem Blick. „Sie kriegt mein Baby. Sie gehört jetzt zu uns. Die Große ist Aina. Der Kleine ist Tari.“

„Hallo.“ Regen winkte ihnen zu. Aina war etwa elf Jahre alt, Tari mindestens acht. Sie schaute die beiden Kinder an und dachte an ihre Mutter. Ketu war fünfzehn oder so, Mond siebzehn oder achtzehn. Sonne als der Älteste war höchstens Mitte zwanzig. Ein Kind nach dem nächsten, alle paar Jahre. Erst von dem Vater der Vier, dann von Teni. Ihre eigenen Eltern hatten nur Paiti gehabt. Wer entschied eigentlich, wer wie viele Kinder hatte?

Aus dem Haus drang ein wildes Stimmengemisch, Gras lachte noch immer, Wind versuchte zu vermitteln und nicht zu lachen, Raku und Teni schrien abwechselnd, ab und zu grollte Madun dazwischen. Von Ketu und Mond hörte man nichts, und auch die restlichen Räuber hielten offenbar lieber den Mund.

„Die sind viel zu laut“, brummelte Sonne.

„Manchmal ist laut gut. Manchmal müssen Sachen rausgeschrien werden, damit man wieder ruhig werden kann.“

Sonne sah sie besorgt an. „Willst du auch schreien?“

Sie dachte kurz nach. „Nein. Nicht mehr. Früher. Bevor ihr mich mitgenommen habt. Aber jetzt nicht mehr.“

Sonne lächelte. „Das ist gut.“

„Und du?“

Das Lächeln verschwand. „Manchmal.“

„Wenn du in der Wand verschwindest.“

Er nickte.

„Schreist du in der Wand?“

Er schüttelte den Kopf.

„Mach das mal. Vielleicht tut es dir gut. Den Berg stört es sicher nicht.“

Er wischte sich über die Augen, trat näher und küsste sie. „Du bist so toll“, flüsterte er. „Weißt du das eigentlich?“

Regen fühlte sich nicht toll, sie fühlte sich wie immer, aber wenn Sonne sie toll fand, würde sie ihn nicht davon abbringen. Sie küsste zurück und scherte sich weder um das Geschrei aus dem Haus noch um die erstaunten Blicke von Aina und Tari. Und als Sonne ihre Hand nahm und sie sanft zum Stallgebäude zog, drückte sie kichernd seine Hand und rannte los. Atemlos huschten sie hinein, warfen eine Pferdedecke auf einen Heuhaufen und kümmerten sich nicht darum, dass Aina und Tari neugierig durch die Tür linsten.

Hufgetrappel und Stimmen störten etwas, also beeilten sie sich und huschten wieder aus dem Stall. Zwei Männer waren angekommen und redeten mit Aina und Tari. Regen spürte, wie Sonne sich anspannte. „Seke“, flüsterte er. „Er kann mich nicht leiden. Telu ist nicht böse, aber er macht, was Seke ihm sagt.“

Sie nahm seine Hand und zog ihn auf die Vierergruppe zu. „Hallo, Seke, hallo, Telu. Ich bin Regen und gehöre zu Sonne.“

„Sie sind ein Paar“, teilte Tari mit, „Aina und ich haben es gesehen, gerade eben. Und sie kriegt Sonnes Baby.“

„Wir gehen jetzt wieder rein“, sagte Regen. „Schreien ist ja manchmal gut, aber irgendwann reicht es dann auch. Und Gras sollte nicht soviel lachen, sonst will das Baby raus und nachschauen, was so lustig ist.“

„Baby?“, entfuhr es Telu. „Gras auch? Von wem?“

„Und Mond? Die etwa auch?“, schaltete sich Seke ein. Er klang wütend, aber Regen hörte, dass er besorgt war. Ganz wie Teni.

„Kommt mit rein, wenn ihr wollt. Aber kein Geschrei mehr. Sonnes Ohren tun sonst weh. Und wenn jemand Sonne wehtut, werde ich ungemütlich.“ Sie war noch nie ungemütlich geworden, aber sie war sehr überzeugt, dass sie es werden konnte. Und zwar richtig.

Sie gingen alle hinein, auch die beiden Kleinen.

„Entschuldige“, raunte Regen Sonne zu. Er lächelte und nickte und formte stumm „du bist toll“ mit seinen Lippen.

Regen holte luft und brüllte: „So, jetzt ist Schluss hier! Alle Klappen halten und hinsetzen, aber zackzack!“

Dann wurde es ruhig auf Tenis Hof.

Sonne war am nächsten Morgen vor den anderen Geschwistern wach. Das Haus machte ihn wach. Er hatte es nie gemocht. Es war wohl ein ganz hübsches Haus, aus Holz und Lehm und Gras, aber Sonne hielt es darin kaum aus und er sehnte sich nach seiner Höhle. Also ging er hinaus. Draußen war immer noch besser als im Haus.

Es war noch dämmrig. Sonner ging zum Stall hinüber und schaute den Schafen beim Heukauen zu. Sie blökten ihm vertrauensvoll zu und mampften friedlich vor sich hin. Die Pferde schnauften ihm verschlafen entgegen. Die beiden großen Hunde lagen friedlich in ihren Häuschen und schauten ihm zu, wie er über den Hof wanderte. Er war gestern mit Teni hergekommen, das reichte ihnen zur Beruhigung. Dann jedoch ging ein Ruck durch sie, sie sprangen auf und liefen auf das Haus zu. Sonne sah, dass Teni gerade aus der Tür gekommen war. Er begrüßte die Hunde mit freundlichem Brummen und Streicheleinheiten und füllte dann einen Steintrog aus dem Eimer, den er mitgebracht hatte, Reste vom Eintopf und Fleischabfälle. Die Hunde machten sich hungrig darüber her, Teni stellte den Eimer ab und ging auf Sonne zu.

Sonne wäre ihm gerne ausgewichen. Er konnte mit Teni nichts anfangen. Aber er war Gast bei ihm und zu alt, um einfach davonzulaufen, sich in einer Felswand zu verstecken und zu warten, bis seine Mutter oder Wind ihn wieder abholten. Also blieb er.

„Der Herbst kommt“, sagte Teni und nickte Richtung Tal, das von dickem Morgennebel verborgen war. Er hatte offensichtlich recht, also wusste Sonne nicht, was er sagen sollte. Teni verstand das offenbar und fuhr fort: „Bald kommt der Winter, und dann kommt auch das Baby von Gras. Soll das in eurer Höhle geboren werden?“

„Wir sind alle in einer Höhle geboren worden.“

Teni seufzte. „Ja. Ihr drei. Aber gut ist das nicht. Geburten können schiefgehen. Babys können krank werden. Ich habe unzählige Lämmer auf die Welt geholt und auch Mond, Ketu, Aina und Tari. Bleibt hier, bis Gras ihr Baby bekommen hat und es die ersten Monate überstanden hat.“

Sonne wollte nicht und musste sich sehr beherrschen, das Teni nicht gleich zu sagen. Teni meinte es gut. Er machte sich Sorge um Gras und ihr Baby. Das war nett für ihn, dafür musste man ihn nicht angehen. Aber Sonne wollte trotzdem nicht, auf keinen Fall. Und vor allem hatte er Angst, dass Gras zu dem Angebot Ja sagen würde und Wind auch, denn es war ein vernünftiges Angebot. Mond würde ohnehin gerne eine Weile hierbleiben, das war klar. Sonne aber nicht. Aber er wollte sich auch nicht von den Geschwistern trennen. „Hast du Gras schon gefragt?“

„Nein.“ Teni seufzte. „Ich dachte, ich rede erst mit dir. Sie wird ohnehin schauen, was du dazu sagst, und machen, was du möchtest.“

„Gras macht, was sie will.“

„Weniger, als sie denkt. Denk drüber nach. Es wäre besser für sie und das Kind. Es wäre sicherer. Falls Gras nicht genug Milch hat, haben wir hier die Tiere. Wir haben Feuerholz für Jahre, um für Wärme und warmes Wasser zu sorgen. Wir haben Tücher und Decken und Felle. Wir haben viel zu essen, damit Gras kräftig bleibt. Wer weiß, wie der Winter wird? Wenn ihr da oben in der Höhle einschneit und Hilfe braucht und nicht wegkommt?“

Sonne würde immer wegkommen. Überall dort war Fels. Sonne konnte einfach hindurchgehen. Aber die anderen konnten das nicht, und Sonne hatte nie probiert, einen von ihnen mitzunehmen.

„Dieser Räuber will bei Mond bleiben und sein Bruder bei Ketu.“ Teni rieb sich die Stirn. „Leider. Aber dein Mädchen hat schon Recht – es bringt nichts, sich Gefühlen in den Weg zu stellen, solange niemand verletzt wird. Jedenfalls wäre das auch einfacher, wenn ihr alle hierbleibt. Die Räuberbrüder bleiben dann eben auch, sind ja kräftige Burschen, die können mir zur Hand gehen. Bleibt bis zum Frühling.“

Im Frühling würde Regen ihr Baby bekommen. Sonnes Baby. Dann würde Teni sagen Bleibt, bis es auf der Welt und kräftig genug ist. Im Frühling gibt es so oft Kälteeinbrücher. Der Sommer könnte schlechtes Wetter und zu wenig Essen für euch bringen. Bleibt. Bleibt. Bleibt. Denn Menschen konnten sich nicht vorstellen, dass das Leben in einer Höhle besser war als das Leben in einem Haus. Dass man viel besser in Fels leben konnte als unter einem Dach. Dass Gestein so freundlich und sanft sein konnte, wie es kein Holz jemals bewerkstelligte. Dass ein Vater im Fels ein guter Vater sein konnte, auch wenn er seine Kinder ohne den Willen der Mutter gezeugt hatte.

Und Sonnes Baby war ganz mit Regens Willen entstanden. Und es sollte in der Höhle zur Welt kommen, die sein Vater für die Familie eingerichtet hatte. Nicht in einem Haus. Nicht auf Tenis Hof.

„Wir sind, wer wir sind. Gras ist nicht Mond“, gab er zurück.

„Ihr zwingt Mond, bei euch zu bleiben, obwohl sie gerne hier wäre. Ihr zwingt sie, sich zweizuteilen.“

„Hat Mond das gesagt?“

„Das würde sie nie sagen. Sie hängt an euch. Aber sie ist hier geboren worden, hier ist ihr Zuhause, ihre Familie.“

„Wir sind ihre Familie.“

„Dann tut ihr den Gefallen und bleibt.“

Sonne hatte versucht zu bleiben, immer wieder, und immer wieder hatte er es nicht ausgehalten und war weggelaufen zur Steilwand, hatte sich weinend darin versteckt. Das würde er nicht wieder tun. „Sie hat mich nicht darum gebeten. Sie ist gerne bei uns. Sie gehört zu uns.“

„Sie gehört auch zu uns.“

„Nein. Und eigentlich ging es dir um Gras, oder nicht?“

Sonne sah die Wut in Tenis Augen und verstand endlich. Es ging nicht um Gras, war nie um Gras gegangen. Es ging um Mond, die Teni bei sich haben wollte. Und damit Mond blieb, mussten die Geschwister auch bleiben.

„Was ist los?“

Beide hatten Wind nicht bemerkt, aber jetzt kam er auf sie zu und sah besorgt aus. „Weswegen seid ihr so wütend, dass ich davon wachwerde?“

„Teni will, dass wir hierbleiben, bis die Babys da sind. Damit Mond bei ihm bleibt.“

Wind runzelte die Stirn. Er sah gar nicht wütend aus. Sonne ärgerte sich darüber, dass Wind so ruhig blieb. „Was sagen denn Gras und Regen dazu?“

„Noch gar nichts“, sagte Teni.

Wind schüttelte den Kopf. „Worüber reden wir dann? Wir können doch nicht bestimmen, wo die beiden ihre Babys bekommen sollen.“ Damit wandte er sich um und ging einfach wieder zurück ins Haus und ließ Teni und Sonne aufgewühlt zurück.

Sie ritten am Mittag los, die vier Geschwister und Regen, dazu Raku und Madun mit Ketu. Teni ließ ihn nicht gerne gehen, aber er ließ ihn gehen und war sicher, dass der Junge bald heimkehren würde.

Die übrigen Räuber schwangen sich ratlos auf ihre Pferde und sahen zu, wie ihr Hauptmann und sein starker Arm ihren neuen Leidenschaften in die Berge folgten.

„Die Bande von Dikal soll drüben im Finstertal unterwegs sein“, brummelte Asal. „Wäre doch was.“

„Dikal ist ein Arsch“, meinte Teira. „Der wollte mal Kaire vergewaltigen.“

„Was?“, fauchte Firai. „Der kann was erleben.“

„Hat er ja nicht“, sagte Kaire, „weil Teira dazukam. Aber zu dem will ich nicht.“

„Warum bleiben wir nicht bei Raku?“, fragte Firai.

„Bei den Gruseltypen?“, fragte Asal entgeistert zurück. „Bist du noch knusper?“

„Und die hausen da oben in irgendeiner Höhle“, sagte Teira, „was ist das für ein Leben, wenn man stattdessen durch die Täler ziehen und Schätze rauben könnte?“

Kaire dachte an die Schätze dieses Jahres, die großteils in Rakus kleinem Täschchen an Rakus Sattel baumelten und Richtung Höhle entfleuchten. Ein paar Goldnuggets, ein paar Münzen.

Firai dachte offenbar ähnlich, denn er sah Kaire an und sagte: „Meinst du, die würden uns bleiben lassen? Und zusammen, meine ich?“

Sie schaute ihn zurück an und wurde ein wenig rot. „Wir könnten ja fragen.“

„Der denkt nur an deine Titten“, grunzte Asal abfällig.

„Na und? Meine Titten sind toll! Und Dikal kriegt sie nicht zu fassen, und du auch nicht, also basta. Teira, kommst du mit?“

Teira sah seine Schwester an und dann Asal, dann Firai, dann wieder Kaire. „Mensch, können wir nicht alle beisammen bleiben?“

„Ohne Raku?“, fragte Kaire zurück.

„So ein toller Anführer war Raku nun auch wieder nicht“, knurrte Asal. „Ich hab schon ein paar Ideen, wo wir anfangen können.“

„Ich will aber nicht anfangen“, sagte Firai. „Ich meine, klar, gut, ich komme mit. Aber Kaire … wenn die uns bei sich wohnen lassen, können wir da einfach bleiben.“

„Zusammen“, murmelte Kaire.

„Ja. Willst du nicht?“

Doch. Sie wollte.

„Dann geht doch.“ Teira sagte es gar nicht pampig, sondern sanft. „Ist doch in Ordnung. Mir ist das zu langweilig und auch zu gruselig mit den komischen vier Typen. Aber ich besuche dich im Frühling, ja? Und Asal und ich, wir suchen uns eine neue Bande.“

„Nicht Dikal“, sagte Kaire.

„Nein, nicht Dikal. Versprochen.“

Kaire lenkte ihr Pferd neben Teiras und umarmte ihn. „Pass auf dich auf.“

„Du auf dich auch. Und du behandele sie gut, Küken, sonst poliere ich dir die Fresse, wenn ich dich nächstes Mal sehe!“

„Macht’s gut, ihr zwei“, brummelte Asal und sah jetzt doch etwas bedröppelt aus.

„Ihr auch“, sagte Firai und fühlte sich komisch, dass die Bande nun so auseinanderging. Aber die Gruseltypen hatten ja alle jemanden. Mond hatte jetzt Raku, ihr Bruder Madun, der Große mit den Gruselaugen hatte das sauhübsche junge Ding und die beiden anderen hatten offenbar einander. Er hatte Kaire. Teira und Asal passten da nicht rein.

Sie sahen Asal und Teira noch nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwanden, dann trabten sie hinter dem Trupp her in die Berge.

„Wartet!“, rief Kaire, als sie eine Pferdearsch erspähte. „Wir kommen mit!“

Der Pferdearsch hielt an.

Sie durften mit.


Teil 3: Essa

Monds kleiner Junge hieß Essa. Er hatte Augen wie Sonne, und als er älter wurde, formte er Bälle aus Wasser und spielte damit. Manchmal bewarf er damit auch seine Kusinen Paiti und Kuna, die dann mit Erdklumpen und Grasbüscheln zurückwarfen. Aber da sie diese immer erst vom Boden aufsammeln mussten, wurden sie jedes Mal ziemlich nass und Essa schrie vor Lachen, bis einer von den Erwachsenen kam und ihn maßregelte.

Bald verstand er, dass er der Kleinste war, und das gefiel ihm nicht. Er konnte weniger als die anderen, war langsamer beim Laufen, kannte nicht so viele Wörter und keiner nahm ihn so richtig ernst außer Raku. Raku hatte immer Zeit für ihn, wenn er da war. Raku spielte mit ihm, erzählte ihm Räubergeschichten, sang mit ihm Räuberlieder.

„Du verwöhnst ihn“, brummelte Gras einmal.

„Was geht es dich an?“

„Er ist nicht deiner.“

„Weiß ich. Ist mir egal. Er ist so gut wie meiner. Und er könnte nicht besser sein, wenn er meiner wäre.“

Essa verstand das nicht wirklich, aber er verstand, dass Raku ihn gernhatte. Und er hatte Raku gern. Er hatte auch Gras gern, aber das war nicht immer einfach, und er hatte sie weniger gern als Sonne, Regen, Wind und Madun.

Und Raku. Den hatte er genauso gerne wie Mama.

Paiti und Kuna hatten einander gern, die brauchten ihn nicht und er brauchte sie nicht.

Mama hatte Raku gern. Raku hatte Mama gern. Aber beide brauchten auch Essa und hatten ihn gern. Er wuchs mit viel Liebe auf, und er war wirklich ziemlich verwöhnt, und so sehr es ihm auch missfiel, der Kleinste zu sein, es war noch blöder, als er es auf einmal nicht mehr war.

Denn Regen wurde wieder Mama, und als der kleine Tairu da war, erklärte Mama Essa, dass er auch bald ein kleines Geschwisterchen haben würde. Eine Schwester oder einen Bruder. Und Raku war der Vater.

„Warum kann Raku nicht auch mein Vater sein?“, fragte er, wütend darüber, dass das Ungeborene schon jetzt etwas hatte, das er wollte.

„Glaub mir, Schatz, ich wünsche, er wäre es.“

„Dann lass ihn doch mein Vater sein!“

„Aber das ist er doch, er macht alles für dich, was ein guter Vater macht. Er hat nur eben leider nicht dich gemacht. Aber dafür kannst du die Wasserbälle machen, das hast du von deinem Vater.“

Essa waren Wasserbälle jetzt gerade herzlich egal. Er wollte Raku. Er wollte nicht weniger von Raku haben als sein Geschwisterchen.

Tufi wurde im Frühling geboren, als der Schnee geschmolzen war und die Sonne mit jedem Tag mehr Pflanzen und Insekten aufweckte. Tufi war winzig und schrie und machte ihre Windeln voll, mehr konnte sie nicht. Doch, trinken. Aber das war es auch. Essa verstand nicht, warum Raku und Mama so begeistert von ihr waren. Er konnte mittlerweile Handstand, Flitzebogen schnitzen und Wasser von der Quelle durch die Luft in die Becher füllen.

Tairu konnte immerhin schon sitzen, aber Tufi lag nur rum. Aber Essa sah ja an Tairu, dass sich das ändern würde. Kinder wuchsen.

„Du warst auch mal so klein wie Tufi“, erklärte ihm Raku an einem schönen Tag, als sie gemeinsam das Geschirr im Bach abwuschen. „Klein und rot und schrumpelig, und am Brüllen, als wir dich aus Mama geholt haben.“

„War ich nicht!“

„Doch, warst du.“

„Ich erinnere mich aber nicht daran.“

„Keiner erinnert sich an seine Geburt. Aber ich war dabei, also glaub mir.“

Essa glaubte ihm. Aber das machte es nicht besser. Raku mochte ihn gern, aber Raku war nicht sein Vater. Wenn Tufi alles konnte, was Essa konnte, würde Raku sie lieber haben, weil sie seine Tochter war.

„Was hast du denn, kleiner Räuber?“

Essa mochte es, wenn Raku ihn so nannte. Ob er Tufi auch so nennen würde?

Zum Glück tat er es nicht. Essa war der einzige kleine Räuber. Tufi war dafür die kleine Maus. So kamen sie sich nicht in die Quere. Und auch sonst stellte Essa fest, dass Tufi ihm weniger in die Quere kam als befürchtet. Sie war eben doch so klein und konnte nicht mit ihm mithalten. Als sie älter wurde, spielte sie öfter mit Tairu, so wie Paiti mit Kuna spielte. Essa passte da nicht mit rein, aber das machte nichts. Er passte zu Raku.

Aber je älter Essa wurde, desto bewusster wurde ihm, was es bedeutete, dass Raku nicht sein Vater war. Jemand anders hatte ihn gemacht. Etwas anderes. Er war nicht wie Tufi. Er war wie Sonne. Sie sahen beide die zahllosen Wuselwesen draußen, in den Bäumen, im Gras, in Steinen und Pfützen. Sonne konnte die Steine umbauen, einfach so, und Essa konnte Wasser formen. Längst machte er nicht nur alberne Bälle, sondern er bewässerte den Gemüsegarten, wusch das Geschirr ab und manchmal gab es auch eine hinterhältige Überraschungsattacke für Madun, weil der darüber immer lachte. Mit Gras konnte man das nicht machen. Essa hatte es noch nie versucht. Er traute sich nicht.

Niemand außer ihm konnte das mit Wasser machen. Und Essa hatte verstanden, dass das an seinem Vater lag.

Mutter wollte darüber nicht reden. „Raku ist dein Vater, wie er nur sein kann“, sagte sie, „also sei damit zufrieden. Viele würden sehr gerne jemanden wie Raku als Vater haben.“

Oh ja. Essa auch. Darum ging es doch gerade.

Raku verstand ihn. „Ich weiß, mein kleiner Räuber. Aber wenn Mond dir nichts sagen möchte, kann ich es auch nicht. Sie ist deine Mutter, sie entscheidet. Immerhin hatte sie dich im Bauch.“

Wind sagte dasselbe wie Raku.

Madun zuckte die Schultern und sagte: „Tut mir leid, mein Großer, aber von dem Kram habe ich keine Ahnung und will auch keine, das ist mir zu gruselig.“

„Bin ich dir auch gruselig?“

Madun lachte. „Nee. Du bist unser Essa.“

Immerhin.

Sonne sagte sehr lange gar nichts. Essa zwang sich zur Geduld, denn Sonne war nun einmal so und Ungeduld brachte einen nie weiter.

„Ich finde, Mond sollte es dir sagen.“

„Macht sie aber nicht.“

Sonne seufzte und sah unglücklich aus. „Ich rede mit ihr. Aber wenn sie nichts sagen will, kann ich es auch nicht. Sie ist deine Mutter.“

Essa wartete einige Tage, aber Mutter sprach über vieles, nur nicht darüber.

Also fragte er Gras.

„Mond hat es dir immer noch nicht gesagt?“ Sie sah ärgerlich aus, aber das tat sie meistens und niemand nahm es so richtig ernst, auch Essa nicht. „Du bist jetzt zwölf. Ich finde, du bist alt genug, das zu verstehen. Und du hast ein Recht, es zu erfahren. Ich rede mit Mond.“

Am Abend stritten sich Gras und Mond im Keller, weil man sie da nicht gut hören konnte. Essa saß mit Raku, Madun und Tufi im hinteren Wohnraum und versuchte zu lauschen, verstand einige Worte und reimte sich den Rest zusammen.

Von den Wörtern, die Essa verstand, war eines „Weiher“. Das kam ziemlich oft vor. „Ding im Weiher“, „im Weiher geschwommen“, „Weiher ist zu gefährlich“. Manchmal war es auch „Waldsee“: „Essa nichts vom Waldsee erzählen“. Und „Seegeist“. Und später, als alle Kinder schon im Bett waren, schlich sich Essa zum Durchgang in den Teichraum und spitzte die Ohren, hörte so er, wie Mama zu Sonne etwas von „Waldsee zuschütten“ sagte.

Sonnes Antwort war leise, aber da es sehr still war, konnte Essa ihn trotzdem verstehen. „Das wäre Mord. Es ist wie Vater. Es ist, wie es ist. Ich werde es dafür nicht bestrafen und erst recht nicht töten.“

Mama zischte etwas. Gras kam dazu und knurrte etwas anderes, Raku grollte dazwischen, und dann grummelten alle durcheinander außer Sonne, der nichts mehr sagte. Am lautesten war Wind bei seinem Versuch, alle zu beruhigen.

Essa zog sich zurück und legte sich auf seine Bettstelle neben Tufi und schaute die Wand an. Er fühlte sich einsam. Das Ding im See, das war sein Vater, das stand fest. Sein Vater war nur ein Ding. Kein Raku. Nichtmal ein Wind. Nur ein Ding.

Aber er würde es sich wenigstens einmal anschauen.

Morgen.

Morgen früh.

Er griff zu, fand Wassertropfen in der Luft, knüllte sie zu einer Wassermurmel zusammen und ließ sie sich über die Handfläche kullern. Das konnte er, weil sein Vater es konnte. Vielleicht würde er von ihm noch andere Tricks lernen. Vielleicht auch nicht. Vielleicht würde er ihn auch gar nicht finden – Essa kannte ein paar Seen und Tümpel in den Tälern, und ein paar waren auch in den Bergen. Die meisten davon lagen aber nicht im Wald. Und in die Täler war es weit, dort war er noch nie alleine gewesen. Raku hatte ihn mitgenommen oder Madun, oder er war mit Mama zu Telus Hof geritten, wo die Verwandten wohnten.

Aber es gab einen See im Wald in den Bergen, gar nicht so weit von zuhause. Essa war klar, dass es ein Zufall war, wenn ausgerechnet dieser See der richtige wäre. Aber das sprach für ihn nicht dagegen. Essa glaubte an Zufälle. Und dieser See war speziell, denn sie hatten noch nie darin gebadet. In den meisten anderen Seen in der Umgebung war Essa schon irgendwann gewesen, bei keiner Rast in der Nähe von Wasser konnte er widerstehen, er musste hinein. An diesem See wurde aber nie gerastet, sondern nur vorbeigeritten, und auch das selten.

Damit er nicht seinen Vater traf?

Morgen würde er es wissen.

Schon morgen.

Die Aufregung ließ ihn kaum schlafen, und so stand er auf, als das erste Morgengrauen die Räume erhellte. Die Pferde begrüßten ihn mit neugierigem Schnobern. So früh kam sonst keiner zu ihnen hinaus

Er nahm sich Rakus Pferd Nevi, einen Schecken mit Struwwelmähne und gemütlichem Schlurfgang. Raku würde Essa hoffentlich nicht böse sein, wenn er ihm vorübergehend das Pferd wegräuberte. Raku war eigentlich nie auf Essa böse, nur wenn er sehr gefährliche Dinge tat. Und Essa kam es nicht in den Sinn, dass sein Vater in diese Kategorie fallen könnte.

Es war nicht allzu weit bis zu dem Weiher im Wald. Nevi trottete leicht belustigt über die noch dämmrigen Pfade und Berghänge, die er seit vielen Jahren durch unzählige Ausflüge mit Raku kannte. Essa ließ ihn gehen, wie er wollte, und gab nur die Richtung vor. Es wurde langsam heller, aber da erreichten sie den Wald und die Bäume schluckten das Morgenlicht.

Essa band Nevi an einen Baum und ging auf den Weiher zu. Sein Wasser war dunkel, nur am hinteren Ende nicht, denn dort brach sich die Morgensonne darauf und spielte mit den Wellen.

Essa zog seine Schuhe aus und ging ins Wasser.

Es war merkwürdiges Wasser. Essa kannte ja schon viel Wasser. Am liebsten war ihm der Teich zuhause mit der kleinen Felsinsel darin. Dieses Wasser gehörte ihm und wusste es. Es begrüßte ihn, wenn er es berührte, und machte gerne alles, was Essa ihm sagte.

Pfützen mochte Essa auch gerne. Man konnte sie gut für Wasserbälle benutzen, sie waren immer für Quatsch aufgelegt. Pfützen waren albernes Wasser.

Bäche und Flüsse waren ihm suspekt. Man wusste nie, wohin sie wollten und warum sie es eigentlich so eilig hatten. Außerdem murmelten sie ständig, und Essa hatte sie im Verdacht, dass sie über ihn redeten, weil sie wussten, dass er sie nicht verstand.

Weiher und Seen mochte er, weil man darin schwimmen konnte, aber sie kamen ihm immer ein wenig gefährlich vor. Er hatte keine Angst vorm Ertrinken, aber manchmal fühlte er, dass das Gewässer ihn nicht haben wollte. Er ging daher nie alleine baden, sondern nur mit Mama, Raku, Gras oder Sonne.

Dieser See machte ihm keine Angst wie andere Seen. Es war eine ganz andere Form von Angst. Essa kannte sie nicht und verstand sie auch nicht. Er fühlte sich einfach unwohl. Aber gehen wollte er auch nicht. Also blieb er stehen, ließ das Wasser seine Knöchel umplätschern und schaute auf die kleinen Wellen und lauschte.

Etwas berührte seine Zehen, und das war kein Fisch und kein Insekt, sondern etwas anderes, und es wollte ihn nicht im Wasser. Essa sprang zurück, stolperte über einen der Steine im Wasser, fiel hin, schlug sich die Knie auf und schnitt sich an einem scharfen Stein in die Hand. Das Wasser brannte in den Wunden.

Und dann konnte Essa es sehen.

Er kannte keine Worte für das, was er sah, die Gestalt aus Wasser im Wasser. Er sah den ärgerlichen Griff, der auf halbem Weg steckengeblieben war, verwirrt, fragend innegehalten hatte.

Kenne ich dich? fragte eine Stimme in ihm.

Nein, sagte Essa.

Du fühlst dich an, als ob ich dich kennen müsste.

Ich war noch nie hier. Aber ich glaube, du bist mein Vater.

Das Ding sagte nichts mehr. Das Wasser bewegte sich verwirrt und unabhängig von Wind und Strömungen.

Sie weiß nicht, dass ich hier bin, sagte Essa. Sie weiß gar nicht, dass ich von dir weiß. Aber ich will wissen, wer du bist. Wenn schon Raku nicht mein Vater sein kann, will ich wenigstens wissen, wer mein Vater ist.

Das Wesen setzte nun den unterbrochenen Griff fort, aber langsam, fast nachdenklich. Es griff Essa am Fußgelenk und zog sachte. Essa folgte langsam, Schritt für Schritt tiefer in den See hinein. Bald erreichte das Wasser seine Kniekehlen, wanderte die Oberschenkel hinauf. Als es seinen Gürtel erreichte, blieb Essa stehen.

Der Griff zog, ruckte dann zweimal.

Nein, sagte Essa.

Komm mit.

Nein.

Du gehörst zu mir.

Ich gehöre mir selbst.

Der Griff löste sich. Das Wasser vor Essa verschob sich. Fast so etwas wie ein Gesicht konnte Essa nun erkennen, kein Mensch, aber etwas, das eine Richtung hatte und diese auf Essa ausrichtete. Essa gefiel nicht, was er in diesem Gesicht sah. Da war keine Neugierde darin, erst recht keine Zuneigung. Es war ein Gesicht, das nur „meins“ zusagen schien.

Essa machte einen Schritt zurück, da schloss sich der Griff um seine rechte Kniekehle und zog so abrupt, dass Essa beinahe gefallen wäre. Er trat nach dem Griff, ein zweiter schloss sich um sein anderes Bein, ihm wurde der Halt weggezogen, Essa trat, warf sich nach hinten und konnte sich so aus dem Griff befreien, schwamm auf das Ufer zu und spürte sogleich wieder den Griff auf seinen Beinen, auf den Armen, überall wurde er wässrig umklammert und festgehalten.

„Lass mich los!“, schrie er.

Du gehörst zu mir.

Essa wurde untergetaucht. Das machte ihm keine Angst. Aber es machte ihn wütend. Er versuchte sich zu drehen, versuchte zu schlagen, zu treten, doch er war fest vom Wasser eingeschlossen.

Er dachte an Wasser etwas weiter weg, formte es zu einem harten Ball und schleuderte es auf den Klammergriff um sich. Überraschung spürte er noch, als der Griff sich schlagartig löste, fremde Überraschung, nicht seine eigene. Essa kümmerte sich nicht darum, sondern schwamm los, tauchte auf, fand den Boden mit den Füßen, hastete auf das Ufer zu, dass das Wasser hoch aufspritzte, als sich der Klammergriff wieder um ihn legte.

Abermals wurde er unter Wasser gezogen, abermals bewarf er seinen Vater mit einem harten Ball aus Wasser, aber diesmal ließ er nicht los, also warf Essa weiter und kam nach dem fünften Ball endlich wieder frei und schwamm so schnell er konnte, atemlos und mittlerweile auch ängstlich, denn ihm war die Luft knappgeworden und er hatte nie geglaubt, dass er überhaupt ertrinken konnte, wo Wasser doch sein Freund war. Aber er konnte. Das wusste er jetzt. Und sein Vater würde ihn gleich wieder packen und in die Mitte des Sees ziehen, unter Wasser, dorthin, wo Essa nicht atmen konnte.

Und so geschah es, Essa fühlte den Klammergriff, trat und hieb dagegen an, bewarf ihn mit Wasser, und dann waren da Hände und griffen seine Arme, richtige, echte Hände aus Haut und Fleisch und Knochen, zogen gegen den Zug des Wasserwesens an. Kurz tauchte Essa auf, schnappte nach Luft, sah Raku und wurde wieder unter Wasser gezogen, aber die Angst verflog. Raku war hier. Nichts konnte ihm passieren, wenn Raku da war. Schließlich war er Raku der Räuber, gefürchtet in allen Tälern, Phantom der Berge, so nannten sie ihn.

Aber diesmal ging das Phantom mit unter, als das Wasserwesen an Essa zog. Die Hände ließen Essa nicht los, aber sie wurden mitgezogen. Das Wasser war nun aufgewühlt, Essa konnte vor lauter Blasen und Schaum nichts sehen, aber er spürte Rakus Bewegungen. Auch Raku war im Wassergriff gefangen.

Die Angst kehrte wie eine Flutwelle zurück.

Noch eine Hand kam plötzlich, griff Essas Hände, ein Arm legte sich um seine Brust, zog ihn hoch. Essas Kopf kam über Wasser und er sog verzweifelt Luft ein. Er erkannte Gras, die Rakus Kopf über Wasser zog, spürte hinter sich einen Körper, der nur Sonne gehören konnte. Sonne konnte man immer spüren, selbst wenn man ihn nicht sehen konnte, weil er mal wieder in einer Wand hockte.

Gras und Sonne zogen Raku und Essa mit sich, aber der Klammergriff ließ nicht locker. Essa sah das wütende Wasserwesen mit einer Wasserkugel nach Sonne werfen, sah eine große Welle über Gras und Raku rollen.

Und dann hob sich schlagartig der Seeboden, brachte sie aus dem Wasser auf einen kleinen Hügel inmitten des Sees.

„Es reicht“, sagte Sonne leise, und Essa drückte sich an Raku. Sonne machte ihm auf einmal Angst.

Das Wasserwesen starrte Sonne an. Essa konnte es genauso sehen wie vorher, mit dieser Art von Gesicht, die kein Gesicht war, aber das gleiche tat wie Gesichter.

Er gehört zu mir, hörte Essa wieder die Stimme in sich und wusste, dass Sonne sie auch hörte. Ob Gras sie auch hören konnte? Oder Raku? Essa schaute sie an, doch in ihren Gesichtern sah er keinen Hinweis darauf.

„Er gehört zu uns“, antwortete Sonne. Er sprach noch immer sehr leise, aber in Essa klang er ganz anders. Da klang er wie das Wasserwesen. Nur lauter. Mächtiger. „Du hattest kein Recht auf meine Schwester und du hast kein Recht an ihrem Sohn. Ich kann deinen See wegmachen. Das ist nicht schwer. Soll ich?“

Essa sah jetzt Angst im Gesicht des Wasserwesens.

Tu das nicht, sagte es.

„Mache ich auch nicht. Aber nur, weil ich nicht will. Nicht, weil ich nicht kann. Verstehst du das?“

Ja.

„Wenn du irgendjemandem, der mir etwas bedeutet, noch einmal wehtust, dann mache ich das. Hörst du? Ich mache deinen See weg, sofort und ohne noch einmal mit dir zu reden.“

Ja.

„Gut. Dann tauch jetzt unter, beschütze dein Wasser und kümmere dich nicht mehr um Menschen. Wir sind nichts für dich.“

Das Wesen starrte Sonne an. Sein Blick huschte zu Essa.

„Geh einfach.“

Es gehorchte und tauchte ab in die Tiefe des Sees.

Sonne beugte sich hinab und nahm Essas Hand, zog ihn auf die Füße. „Gehen wir nach Hause. Mond macht sich Sorgen.“

Essa hatte nicht gewollt, dass Mama sich Sorgen machte. Und auch nicht, dass Raku wegen ihm fast ersäuft wurde. Er spürte einen Schluchzer in sich aufsteigen, wollte ihn hinunterschlucken und konnte nicht, das blöde Ding kam einfach raus.

Dann waren Rakus Arme da und umschlangen ihn, so ähnlich und doch so anders wie die Arme des Wassergeists, warm und menschlich und so nach Raku riechend, zogen ihn an Rakus Brust, und Essa presste sein Gesicht dagegen, ließ sich festhalten und weinte. Was hatte ihn nur geritten, seinen Vater zu suchen, wo er doch Raku hatte? Raku, der ihn wollte, immer wollte, nie weniger wollte als Tufi. Raku, den keiner gezwungen hatte, ihn zu haben, anders als Mama. Raku, der Essa nie gegen seinen Willen irgendwohin gezogen hatte, der Essa nie wehgetan hatte. Raku, der nie behauptet hatte, dass Essa ihm gehörte, sondern der vielmehr selbst Essa gehörte, weil er es sich so ausgesucht hatte. Raku, der ihn wollte, ganz einfach, weil er ihn wollte.

„Sowas machst du nicht nochmal, oder?“, fragte Raku leise, ein dumpfes Brummen aus seiner Brust an Essas Ohr.

Essa schüttelte den Kopf, er konnte nicht reden.

„Dann ist gut.“ Rakus Hand strich über Essas Haare.

„Und wenn du sowas nochmal machst“, fauchte Gras, „dann nehme ich dich am Schlafittchen und bringe dich her und schmeiße dich mit Gewicht an den Füßen in den See! Mond so erschrecken und Raku in Gefahr bringen und Sonne musste ganz unsonnig werden und ich bin pitschnass und ich hasse es, pitschnass zu sein und dann in klitschigen Klamotten nach Hause reiten zu müssen. Und alles nur wegen dir!“

Essa wischte sein Gesicht an Rakus Hemd ab und löste sich ein wenig aus der Umarmung, um Gras anzusehen, die wütend neben Sonne stand, der blass und scheu auf den Boden starrte.

„Tut mir leid“, presste er hervor. „Ich wollte doch nur wissen, wer mein Vater ist.“

„Das Ding da jedenfalls nicht“, sagte Raku. „Das brauchst du nicht. Du hast mich.“

Essa presste sich erneut gegen Raku und ließ sich festhalten.

Er brauchte keinen Wassergeist.

Er hatte Raku.

Dieser Beitrag hat 2 Kommentare

  1. Birthe

    Hach. Es ist einfach toll. Punkt. Auch – nee, gerade beim zweiten Mal.

    1. Dorte

      Es klingt etwas selbstverliebt, aber mir geht’s auch beim fünften Mal immer wieder so. …

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