Eine Kurzgeschichte über zwei Nebenfiguren aus „Khassid und Redjin

Wie Andial zu seinem Hund kam

Der Junge war nur eines von vielen struppigen Kindern, die sich am Hafen von Dhwla herumtrieben. Alle kamen sie hierher: Die Händlerkinder, die endlich einmal das Meer sehen wollten und über die Schiffe staunten; die Kinder der Fahrenden, die in ihrem jährlichen Turnus in der Stadt waren und ihrem Nachwuchs solange ungewohnte Freiheiten zustanden; die Kinder der Trickbetrüger, Taschendiebe und anderer Gauner, die sich hier den Tag vertrieben; die Kinder aus den guten Vierteln, die ein kleines Abenteuer suchten (diese erkannte man stets an der entweder fehlenden oder stümperhaft nachgeahmten Struppigkeit); und zu guter Letzt die Kinder, die keinen anderen Ort hatten, an den sie gehen konnten: Kinder ohne Eltern, ohne Heim, ohne Geld und ohne Essen; Kinder, die bettelten, stahlen, auf etwas ehrliche Arbeit hofften oder sich mit Seeleuten in die Seitengassen und Hinterhöfe verdrückten, um Dinge zu tun, die Kinder nicht tun sollten und schon gar nicht mit Erwachsenen.
Nach Andials Einschätzung gehörte der Junge zum letzteren Typ Hafenkind. Er mochte vielleicht neun Jahre alt sein, aber seine Augen wirkten zehn Jahre älter. Sie hatten schon viel gesehen. Seine Kleidung bestand nur aus Lumpen, und er war barfuß. Auf den Rücken trug er ein Deckenbündel geschnallt, in dem sich bestimmt all seine Habseligkeiten befanden. Sein helles Gesicht wurde von schwarzen Haaren umrahmt, die ihm halblang ins Gesicht geblasen wurden und am Hinterkopf als Filzgewirr abstanden. Er kannte sich sichtlich gut am Kai und in den Gassen aus und war mit den Menschen vertraut, die hier arbeiteten und ihn mit Flüchen und Steinchen verscheuchten, wenn er ihnen zu nahe kam. Auf seiner Flucht vor zwei ärgerlichen Männern war er am Anlegeplatz von Andials Schiff, der Heimat, aufgelaufen und musterte nun fachmännisch die kleine Knorr und ihre Mannschaft. Die ignorierte ihn, außer Andial, den der Junge amüsierte.
Als der Junge bemerkte, dass er seinerseits von Andial gemustert wurde, huschte er sofort näher. „Kann ich beim Abladen helfen?“, fragte er mit dem für Yisti typischen Singsang-Akzent.
„Ich habe genug Hände.“
„Ich arbeite schnell. Und ich kann viel tragen. Wirklich.“
„Glaube ich dir. Ich habe aber kein Geld zu verschenken. Wirklich.“
Der Junge schaute auf die emsig arbeitende Mannschaft, die gerade damit begann, Säcke und Fässer von Bord zu schaffen. „Wo kommt ihr denn her?“
„Aus Yador.“
„Ost oder West?“
„West. Algath, falls dir das was sagt.“
Der Junge nickte eifrig. „Handelt ihr mit Perlen? Die gibt es da doch.“
„Ja, aber nicht für uns.“
„Schade.“
„Und ob.“
Der Junge hatte aber offensichtlich nicht vor, lockerzulassen. „Ich kann wirklich gut arbeiten.“
„Glaube ich dir wirklich“, gab Andial zurück und bereute es, den Burschen nicht gleich weggescheucht zu haben. „Und ich habe wirklich kein Geld, bis ich die Ladung verkauft habe.“
„Ich nehme auch dein Wort. Ich arbeite jetzt und du bezahlst mich, wenn du verkauft hast. Ja?“
„Nein.“
„Bitte.“
„Nein. Los, Kleiner, es gibt viele Schiffe im Hafen. Such dir eins, dessen Kapitän Geld hat.“
Andial hatte Geld. In sein Hemd waren vier Beutel eingenäht, weswegen er eine Weste darüber tragen und in der Frühlingssonne schwitzen musste. Die Ladung enthielt ein paar „gefundene“ Perlen, Silberbesteck und anderes, was ein hübsches Sümmchen einbringen würde. Aber das musste das Bürschchen ja nicht wissen, am Ende kam er noch auf die Idee, nachts an Bord nach Geld zu suchen.
Aber der Knirps hatte offenbar nicht vor, sich abwimmeln zu lassen. „Ich weiß, wer du bist“, verkündete er nun keck.
„Sieh an. Ich habe dafür keine Ahnung, wer du bist.“
„Du bist Andial. Sie haben Kopfgelder auf dich ausgesetzt, in Westyador, in Lalha, auf Aylinn, in Nordgodvyon. Eigentlich überall.“
„Und?“
„Du musst ein ziemlich schlechter Pirat sein, wenn du überall auffällst und trotzdem kein Geld hast.“
Andial musste gegen seinen Willen lachen. „Los, zieh ab.“
„Ich kann auch das Deck schrubben.“
„Nein.“
„Oder die Kammern putzen.“
„Nein.“
„Die Wasserfässer ausspülen oder die Bilge auspumpen.“
„Nein.“
„Ich kenne einen genialen Segelflicker. Für zwei Kupfermünzen führe ich dich hin.“
„Wir flicken selbst.“
„Verdammte Kiste aber auch, irgendwas musst du doch brauchen!“
„Meine Ruhe.“
Der Junge warf Andial einen langen, finsteren Blick zu und seufzte. „Zuviel Gesindel in der Stadt. Da haben es ehrliche Männer wie ich schwer, Arbeit zu finden.“
„Ehrliche Männer wie du, aha.“
Der Junge spuckte schwungvoll ins Wasser. „Oh ja. Das liegt an den ganzen Strauchdieben, die jetzt im Frühling kommen. Die ganzen Fahrenden, die Händlerblagen, das Gesocks aus den Dörfern, die hier Reisende abzocken wollen.“
„Und was bist du?“
„Ich? Ich bin waschechter Dûl-Mann. Kennst du den Hahn im Korb?“
Andial nickte, die Gaststätte in der Mittelstraße hatte weit über Dhwla hinaus einen guten Ruf für ihr Essen und einen besseren für ihre Bedienung männlicher Gäste.
„Da bin ich geboren.“ Der Junge zeigte zielsicher hinter sich auf ein grün gedecktes Dach. „In dem Gaubenzimmer dort.“
„Und warum bist du da jetzt nicht?“
Der Junge zuckte mit den Schultern. „Meine Mutter ist nicht mehr. Und Jungs wollen sie da keine Arbeit geben, die wollen nur Mädchen. Blöde Heinis.“ Er spuckte abermals ins Meer, dann legte er den Kopf schief und schaute Andial nachdenklich an. „Du handelst mit der Frau vom Hügel, oder?“
Es gab zwar einige Hügel in der Stadt und dort wohnten sicherlich ziemlich viele Frauen, aber es gab nur eine, die ganz Dhwla und alle Piraten als Die Frau vom Hügel kannten. Also lohnte es nicht, sich dummzustellen. „Wie kommst du darauf?“, fragte Andial stattdessen.
„Hört man so. Bringst du die Sachen zu ihr? Braucht sie vielleicht einen Helfer?“
„Bestimmt keinen halbgaren Strauchdieb wie dich. Na los, Junge, schieb ab jetzt. War schön, mit dir zu plaudern, aber wir müssen los und haben nichts für dich.“
„Bitte.“
„Husch jetzt.“ Die Mannschaft stand abmarschbereit da. Andial schulterte einen Sack, kommandierte den Schiffsjungen Perthan und die verletzte Doska als Wachen ab und stapfte mit dem Rest der vollbeladenen Mannschaft los. In den Straßen von Dhwla herrschte eifriges Gedränge mit einigen langen Fingern in Richtung von Andials Gütern. Die Mannschaft wehrte sich mit Flüchen und Tritten und schnaufte den Hügel hinauf. Erst als sie das Gewirr der Gassen hinter sich gelassen hatten und in die besseren Straßen kamen, bemerkte Andial eine schwarzhaarige Klette in der Nachhut seiner Truppe.
„Sag mal“, brüllte er über die Schulter hinweg nach hinten, „hörst du schlecht?“
„Ich?“, machte der Junge mit unschuldigen großen Augen.
„Wer sonst?“
„Kann ich denn ahnen, dass ihr auch auf den Hügel wollt?“
„Zieh Leine!“
Er zog nicht, hielt aber mehr Abstand.
Am Haus auf dem Hügel schüttelten sie ihn dann ab. Sozusagen. Jedenfalls kam er nicht näher, als sie an den schwer bewaffneten Wachen vorbei hineinschnauften.

Als sie nach einer Stunde ohne Güter, dafür aber mit vielen Münzen in Andials Umhängetasche wieder ans Tageslicht kamen, hockte der Junge in sicherer Entfernung auf einem Brunnenrand und schaute sich die Häuser und Leute des Viertels an. Er saß genau dort, wo Andial und seine Truppe vorbeikommen mussten, und sah betont gelangweilt über sie hinweg.
Andial fühlte sich kurz versucht, ihn auszuschimpfen, entschied sich dann aber dagegen. Es war besser, ihn zu ignorieren, schließlich hatte Schimpfen bisher auch nicht geholfen. Also ging er ohne einen Blick am Brunnen vorbei, hielt seine Tasche fest und machte sich mit der Mannschaft auf den Weg zurück zur Heimat. Er vermied jeglichen Blick nach hinten. Immer schön ignorieren. Der Weg war anstrengend genug, obwohl seine Leute ihn eng umringten und vor allen neugierigen und begehrlichen Blicken schützten. Jeder, der den Trupp mit Waren zum Hügel hatte hinaufgehen sehen, konnte sich denken, was Andial nun in seiner Tasche trug. Ein sehr unangenehmes Gefühl.
Endlich kamen sie am Hafen an und flüchteten sich ohne Aufenthalt am Kai auf die Heimat. Erst hier erlaubte sich Andial Entspannung und sah seine Mannschaft an – und bemerkte hinten am Kai die Silhouette des Jungen. War ja klar. Weiter ignorieren. Irgendwann musste er es kapieren. Spätestens, wenn sie wieder wegsegelten.
Er ließ Winsch und Meytir das Sonnensegel aufspannen, dann hockten sie sich alle darunter, um der Sonne und den neugierigen Blicken auszuweichen. Es ging schließlich niemanden etwas an, wieviel Geld Andial seiner Mannschaft auszahlte. Winsch kam wie immer als erste dran, dann die Geschwister Doska und Meytir, dann Yusmurra, dann die vier Aushilfen und am Schluss kam der Neue an die Reihe, der fünfzehnjährige Perthan, den sie beim letzten Landgang in Yukil aufgelesen hatten. Er bekam nur ein Taschengeld, freute sich aber. Nach der Bezahlung stob die Mannschaft davon, um ihr frisch verdientes Geld durchzubringen. Andial blieb mit Perthan als Wache zurück. Er würde erst einmal ausschlafen. Den Spaß der Stadt konnte er morgen auch noch genießen.
Perthan hängte sich seine Matte zwischen Mast und Reling, legte sich hinein und spielte mit den beiden Münzen, die er gerade bekommen hatte. Andial nahm das Logbuch hervor und trug Verkäufe und Erlöse ein, dann wickelte er es wieder in das Wachstuch und stopfte es in das kleine Fach zurück. Erst dann bemerkte er die beiden nackten Jungenbeine, die auf Höhe seines Kopfes von der Kaimauer baumelten.
Ignorieren, sagte er sich. Es schien zwar nichts zu bringen, aber versuchen konnte man es ja.
„Wann segelt ihr denn weiter?“
Andial fand, dass er nicht mit Leuten sprechen musste, wenn er ihre Köpfe nicht sehen konnte. Das fand der Junge wohl auch, den prompt verschwanden die baumelnden Beine, dafür schob sich der Strubbelkopf schräg abwärts und schaute Andial an. „Wann segelt ihr denn weiter?“, wiederholte er im identischen Tonfall.
Ignorieren hatte definitiv nicht geholfen. Vielleicht half ja Schroffheit. „Möglichst bald, um dich loszuwerden.“
Der Junge schob die Lippen vor und seufzte. „Mann. Was habe ich dir getan?“
„Du nervst.“
„Aber nur, weil du nichts für mich zu tun hast.“
„Dann kostest du Geld.“
„Hast du doch.“
„Nicht so viel, dass ich es dir in den Rachen schmeißen kann.“
„Ich brauch nicht viel.“
Andial grunzte, stand auf und ging über die Planke auf den Kai. Der Junge huschte ihm entgegen wie ein herrenloser Hund auf der Suche nach einer streichelnden Hand. Kein Mitleid, sagte sich Andial und merkte, dass es nicht klappte. „So, du brauchst also nicht viel“, brummelte er den Jungen an. „Was brauchst du denn?“
„Essen.“ Der Junge zuckte mit den Schultern. „Eine Decke habe ich. Eine Hängematte wäre gut, so wie der da hat.“ Er zeigte auf Perthan, der den Kopf über den Mattenrand hob, um zu schauen, was der Kapitän da so trieb.
„Und was kannst du?“
„Och, eine Menge. Was man als Matrose halt so können muss.“
Andial unterdrückte ein Schmunzeln. Alles an dem Jungen wies ihn als Landratte aus. „Warst du schonmal auf einem Schiff?“
„Klar.“
„Was hast du da gemacht?“
Der Junge legte den Kopf schief. „Ach, so allerhand. Aushilfskram.“
„Zum Beispiel?“
Der Junge zögerte. „Pumpen?“
„Das fragst du mich? Ich war doch nicht dabei.“
„Zum Kuckuck aber auch, gut, ich habe vom Segeln keine Ahnung, aber irgendwann muss man doch damit anfangen dürfen, oder?“
„Sehe ich aus wie ein Lehrschiff? Heuer halt bei einem Händler an.“
„Ich verkauf mich doch nicht an so’n Geldgroßkotz, der mir einen Pfennig für die Arbeit zahlt und zwei Pfennige fürs Essen abzieht.“
Andial schmunzelte. „Dumm bist du jedenfalls nicht.“
„Wenn du’s sagst, wird es stimmen. Du kennst dich mit Menschen aus.“
„Schmeicheln hilft nicht.“
„Versuchen kann man’s ja.“
Der Junge machte Andial viel zu viel Spaß, das war gefährlich. Es war Zeit, damit aufzuhören. „Dann versuch es wo anders.“
„Will aber nicht.“
„Schicksal.“
„Komm schon. Nur als Schiffsjunge.“
Andial nickte in die Richtung von Perthans Hängematte. „Schiffsjunge ist schon besetzt.“
„Ach, der! Der ist doch fast schon erwachsen, der taugt nichts mehr. Nimm mich, ich bin viel kleiner. Und günstig. Heute Sonderangebot nur für dich. Essen und ein Schlafplatz und Wasser, mehr nicht, bis wir wieder nach Dûl kommen.“
Kräftig war der Bursche für sein Alter ja. Anpacken konnte er sicher. Die nächsten Wochen würden sie auf dem Meer oder an leeren Küsten verbringen, wo er kaum versuchen würde, mit dem Schiffsgeld durchzubrennen. Und es konnte nützlich sein, in Orten einen kleinen Jungen als Kundschafter vorauszuschicken. Niemand achtete auf Kinder. „Ich überleg’s mir.“
„Ja?“
„Ja.“
„Und dann darf ich mit?“
„Was an ich überleg’s mir verstehst du denn bitte nicht? Ich sag’s dir morgen. Klar?“
„Aye.“
„Dann schieb ab. Und das meine ich. Bis morgen will ich dich nicht sehen, sonst fällt die Entscheidung gegen dich. Klar?“
„Aye.“ Der Junge präsentierte die grottenschlechte Imitation eines Soldatengrußes und wuselte den Kai entlang in die dahinterliegenden Gassen.
So. Endlich Ruhe.
Andial setzte sich unters Sonnensegel, starrte auf die benachbarten Schiffe und ärgerte sich darüber, dass der Bursche ihm das genussvolle Nichtstunlungern verdorben hatte. Jetzt musste er denken und entscheiden. Und das ohne Rum. Grausam.

Als Andial am nächsten Morgen den Kopf unter dem Sonnensegel hervorschob, hockte die wohlbekannte Gestalt auf der Kaimauer.
„Morgen, Käptn“, krähte ihm der Junge entgegen.
„Morgen, Pest“, brummelte Andial und ging von Bord, um sich dem zu stellen, was er sich selbst eingebrockt hatte.
„Wann segelt ihr denn weiter?“
„Wenn du aufhörst, neugierige Fragen zu stellen.“ Andial dachte an die hübsche Kaneha in ihrer Taverne. Hoffentlich kamen bald einige der anderen zurück, um das Schiff zu bewachen. Er vermisste Kanehas Schenkel. „Also gut, du halbgares Hemd, mach dich mal nützlich.“
Der Junge sprang auf. „Ja?“
„Such mir mal welche von der Mannschaft und sag ihnen, ich will Ablösung. Du hast bis zum Tidengong.“
„Aye!“ Schon war er weg.
Andial schaute auf das Wasser. Lange war es nicht mehr hin bis zum Tidenwechsel, die Flut ging auf ihr Ende zu und der Hafen war ausgesprochen voll mit Wasser. Er ging zurück aufs die Heimat und überlegte noch, wie er die Zeit verbringen wollte, als Yusmurra an Bord kam, sichtlich verkatert, aber gut gelaunt. „Du willst Ablösung, habe ich gehört?“
„Ja.“
„Dann grüß Kaneha von mir.“
„Pass du mir auf das Schiff auf.“ Andial ging von Bord. Der Junge hockte auf einem leeren Fass und grinste stolz. Andial seufzte. „Ja, bist ein braver Spürhund.“
„Was kriege ich dafür?“
Andial warf ihm eine Kupfermünze zu und machte sich auf den Weg zu Kanehas Taverne. Der Junge folgte ihm mit einigen Schritten Abstand.
„Schieb ab, ich habe nichts weiter für dich zu tun.“
Vom Hafen erklang der Tidengong.
„Vielleicht fällt dir ja noch etwas ein, das ich tun kann“, sagte der Junge. „Und dann stell dir mal vor, ich bin nicht da, um es zu machen. Am Ende bezahlst du dann wen anders als mich, und die sind alle teurer, ich schwör’s dir, und arbeiten nicht so gut.“
„Du arbeitest also am besten und billigsten von allen Leuten in Dhwla, ja?“
„Für dich schon, klar. Andere müssen mehr zahlen.“
„Ich bin geschmeichelt. Wie komme ich denn zu der Ehre?“
„Na, man kann doch Käptn Andial nicht abzocken!“, rief der Junge entrüstet aus.
Andial unterdrückte ein belustigtes Grinsen. „Ich sagte es dir schon: Mit Schmeicheleien kommst du nicht weit.“
„Na, ohne bin ich ja auch noch nicht viel weiter gekommen. Schaden wird’s doch nicht. Oder?“
Sie hatten die Taverne erreicht. Kaneha begrüßte Andial mit einem breiten Lächeln und rief dann nach einer ihrer Angestellten, die für sie einspringen sollten, während sie ihren Lieblingsgast persönlich im Hinterzimmer bewirtete.
„Ich warte hier solange“, verkündete der Junge.
„Wer ist das?“, fragte Kaneha und drückte Andial einen Schmatzer auf die Wange.
„Nur ein Straßenköter, der meint, er wäre jetzt mein Schoßhund.“
„Streuner haben bei mir nichts verloren“, sagte Kaneha und schaute den Jungen streng an. „Ich bewirte nur zahlende Gäste.“
Der Junge zog Andials Kupfermünze hervor. „Ich kann zahlen. Ich will ein Bier.“
„Bier kostet zwei.“
„Dann will ich ein halbes Bier.“
Andial musste gegen seinen Willen lachen. „Reicht bei dir halber Portion auch. Na, gib ihm schon sein halbes Bier, Kaneha, und dann lass uns nach hinten gehen.“
Als Andial am Nachmittag wieder in die Gaststube zurückkehrte, war von dem Jungen nichts zu sehen. Andial glaubte nicht daran, dass er aufgegeben hatte. Und richtig – er hockte draußen vor der Tür und malte mit einem Stock Kreise in den Dreck.
„Sie haben mich rausgeschmissen“, verkündete er fröhlich, „weil ich ausgetrunken hatte und nichts nachkaufen konnte. Aber ich kann dich ja nicht alleine durch die Stadt gehen lassen.“
„Ach? Kannst du nicht?“
„Nee, könnte dir ja was passieren. Du wirst ja gesucht. Also brauchst du eine Leibwache.“
„Einen starken Mann wie dich?“
„Jau, ’nen Kerl wie mich. Jemand, der sich hier auskennt.“
Der Bursche machte Andial einfach viel zu viel Spaß. Was hatte er schon zu verlieren? Mit der Abendebbe würden sie Segel setzen. Im schlimmsten Fall konnten sie den Knirps im nächsten Hafen von Bord werfen.
„Hast du einen Namen?“, fragte er.
„Sogar eine ganze Menge“, gab der Junge stolz zurück. „Braucht man so in meiner Branche.“
„Als Leibwächter.“
„Sicher.“
„Wohl eher als Dackel, so wie du hinter mir herdackelst.“
„Ein guter Leibwächter verlässt seinen Auftraggeber nie.“
„Ein guter Hund bleibt auch immer beim Herrchen.“ Andial grinste. „Was heißt denn in deiner Sprache Hund?“
„Garo.“
„Dann nenne ich dich Garo.“ Andial schaute zum Hafen. „Na komm schon.“
Der Junge sprang auf die Füße. Zum ersten Mal wich der lässige Ausdruck aus seinem Gesicht. Die grauen Augen, die Andial anstarrten, waren nicht länger mit der Weisheit der Gosse gekennzeichnet, kein leichtfüßiges Lächeln lag mehr auf den Lippen. Stattdessen schaute ihn ein einsamer, nach Zuneigung hungernder Junge mit vager Hoffnung und sehr viel Zweifel und Sehnsucht an.
„Wenn du frech wirst, was klaust oder absolut untauglich bist, schmeißen wir dich raus. Klar?“
Der Junge nickte und schluckte.
„Du hilft Perthan als zweiter Schiffsjunge. Du kriegst dasselbe Essen und Wasser wie wir anderen auch, du kriegst eine Hängematte, neue Klamotten und eine neue Decke. Dafür packst du an, wo du nur kannst, maulst nicht rum, befolgst alle Anordnungen. In der Hackordnung bist du der letzte. Klar?“
„Klar“, krächzte der Junge heiser, noch immer Andial anstarrend.
Andial streckte die Hand aus. „Abgemacht?“
Die schwitzige Hand des Jungen presste sich in Andials. „Abgemacht“, wisperte er. Die Skepsis war noch nicht aus seinem Gesicht gewichen. Er war alles andere als dumm, dachte Andial, er hoffte auf das Beste, rechnete aber mit dem Schlimmsten. Ein einsamer Junge auf einem Piratenschiff konnte viele üble Dinge erleben, nur naive Bürschlein aus den guten Vierteln träumten davon. Jungen wie Garo hofften nur darauf, weil die Alternativen noch schlechter aussahen.
„Wie heißt du?“
Der Junge überlegte einen Moment. „Garo.“
„Nein, wie deine Mutter dich genannt hat.“
Der Junge schüttelte den Kopf. „Das ist egal. Jetzt bin ich Garo.“ Vorsicht und Hoffnung trugen in dem jungen Gesicht einen heftigen Kampf aus. „Ich mache sitz, wenn du es mir sagst, apportiere, gehe bei Fuß.“
Es hätte komisch klingen sollen, aber Andial fühlte sich nicht amüsiert, sondern betroffen. „Na, dann hoffe ich mal, dass das gutgeht. Ich hatte noch nie einen Hund.“
„Ich brauche nicht viel.“ Das nach Zuneigung ausgehungerte Gesicht strafte diese Worte Lügen, ohne dass es Garo bewusst war.
Andial streckte die Hand aus und strich über die verfilzten Haare. „Erstmal brauchst du jedenfalls eine Wäsche und einen Haarschnitt, saubere Klamotten und etwas zu essen. Es soll mir ja keiner vorhalten, dass ich meinen Hund verwahrlosen lasse. Aber damit eins klar ist, Garo: Auf meinem Schiff kommt kein Hund mit ins Bett. Das gehört sich nicht.“
Für einen Moment huschte Erleichterung über Garos Gesicht. „Aye, Käptn.“
„Dann bei Fuß.“
Sie marschierten gemeinsam zum Hafen hinunter, Garo immer einen halben Schritt hinter Andial, stumm und aufgeregt, bis sie die Heimat erreichten. Doska und Meytir waren dazugestoßen und spielten gemeinsam mit Yusmurra und Perthan Karten.
„Neuer Matrose“, brummelte Andial, als er das Schiff betrat. Garo wuselte die Planke entlang und bleib scheu hinter Andial stehen. „Heißt Garo. Wird unser zweiter Schiffsjunge. Perthan, du arbeitest ihn soweit ein, wie du kannst.“
Die vier starrten den struppigen Jungen an, dann schauten sie auf Andial, dann wieder auf den Knirps. Aber keiner stellte die Frage, die allen auf der Zunge brannte – was das denn bitteschön sollte, was sich der Käptn dabei dachte.
„Yuss, geh mit ihm runter und mach ihm einen Schlafplatz klar. Und schau mal, ob wir was von Perthans Klamotten irgendwie zurechtnähen können. Und schieb ihm was zwischen die Kiemen, bevor er uns noch vor Aufregung umkippt.“
„Und wasch ihn“, brummelte Doska naserümpfend, als Garo an ihr vorbei zu Yusmurra tappste.
„Kann ich selber“, maulte Garo und reckte sich.
„Dann tu’s auch mal.“
„Yuss, gib ihm gleich auch Seife. Perthan, hol das Sonnensegel ein. Meytir und Doska, ihr holt die anderen. Wir machen jetzt klar und segeln beim Tidengong.“
„Aye, Käptn.“

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