Dial – 1 – Das andere Dorf

Das Dorf war als solches eigentlich nicht mehr zu erkennen, und hätte Dial nicht gewusst, wonach er suchte, wäre er wohl einfach hindurchgelaufen, ohne es zu bemerken. Der Dschungel hatte es zurückerobert. Nur beim genauen Hinsehen erkannte man unter Schlingpflanzen und Ranken, zwischen Büschen und Baumschößlingen verkohlte Holzpfeiler und Planken. Eine Grasfläche wies den früheren Dorfplatz aus, er war noch nicht ganz zugewuchert und der einzige Fleck, den das Sonnenlicht erreichte. Überall sonst streckten sich Äste hoch empor und verdeckten den Himmel.
Eine grasbewachsene Erhebung in der Mitte der Lichtung wies den Brunnen aus. Dial ging dorthin und befreite einen Teil der steinernen Einfassung vom Gras, doch die Pflanzen hatten die gesamte Öffnung zugewuchert. Ein vergammelter Strick führte noch nach unten, vielleicht hing auch noch ein Eimer dran, doch den würde niemand mehr hinaufziehen. Unwillkürlich fragte sich Dial, ob da unten ein, zwei Skelette im Wasser lagen, damals einfach achtlos dahingemetzelt und hinuntergestoßen.
Vielleicht Verwandte von ihm.
Vielleicht seine richtige Mutter.
Seit Dial erfahren hatte, wo er wirklich herkam, hatte er diesen Ort besuchen wollen. Jetzt, wo er hier war, wusste er nicht, was er tun wollte. Er bereute es, hergekommen zu sein. Und es gab jetzt nie wieder einen Weg zurück zu seinem alten Leben. Bis heute hatte er die Wahrheit verdrängen können, so tun, als wüsste er nichts, als sei er einfach einer der Jungen aus seinem Heimatdorf, als rinne das Blut seiner Eltern durch seine Adern. Bis heute war es nur ein vages theoretisches Wissen gewesen.
Jetzt hatte es Farben, Gerüche, das Gefühl von Gras und Gedanken über Skelette im Brunnen.
Dial stand auf und ging zu einem der zerfallenen Häuser, betastete das verkohlte morsche Holz der Stützpfeiler. Das Dorf war ganz so wie das seiner falschen Eltern, auf Pfählen gebaute kleine Behausungen rund um den Dorfplatz, gut gerüstet gegen die jährlichen Überschwemmungen durch Regenstürme und Fluten vom nahen Meer, die die Flüsse der flachen Landschaft emporliefen und alles mit Salzwasser tränkten. Pflanzen und Tiere hatten sich an diesen Guss gewöhnt, und auch die Menschen hatten sich darauf eingerichtet, hier genauso wie in Dials Dorf.
Warum brachte brachte man sich gegenseitig um, wenn man das gleiche Leben führte, nur einen Tagesmarsch durch den Urwald voneinander entfernt? Wenn man sich ähnlich war, denn Dial unterschied sich nicht vom Rest des Dorfes, sie hatten alle bräunliche Haut und bräunliche oder rötlichbraune Haare. Einzig bei den Augen gab es Unterschiede: Die meisten hatten braune Augen, ein paar grüne, wenige hatten graue. Dial hatte grüne, wie sein Ziehvater. Er hatte immer gedacht, dass er sie von ihm geerbt hatte, solche Dinge liefen ja in Familien. Aber nur, wenn man auch blutsverwandt war.
Irgendwo hier war Dial geboren worden. Er wanderte von Ruine zu Ruine, kratzte Holzstücke aus zerstörten Konstruktionen, suchte nach etwas Greifbarem und fand nichts. Sie mussten alles mitgenommen haben, was irgendwie verwendbar gewesen war, Teller und Becher, Waffen, Kleidung, selbst das Spielzeug für die Kinder.
Nichts war geblieben.
Nicht einmal die Leichen der Dorfbewohner. Von Tieren verschleppt vielleicht? Denn die toten Körper hatten die Angreifer wohl kaum mitgenommen. Oder hatte man wenigstens soviel Anstand besessen, sie auf einen Haufen zu werfen und mit reichlich Öl zu verbrennen? Vermutlich nicht.
Also wohl doch Skelette im Brunnen.
Dial ging dorthin zurück, setzte sich auf den überwucherten Brunnenrand ins Sonnenlicht und fragte sich, wie so ein Ort so friedlich und warm sein konnte, wenn hier doch seine gesamte Familie durch sein gesamtes Dorf dahingemetzelt worden war, bis auf die jüngsten Kinder, die sich an nichts mehr erinnern konnten.
Kriegsbeute.
Wie sollte er jemals zu denen zurückkehren, die ihn aufgezogen hatten? Die ihm Essen und einen immer trockenen Schlafplatz gegeben hatten, ihm Lieder und Geschichten beigebracht hatten, ihm Spielzeug und Werkzeug geschenkt hatten, ihm alles über das Leben vermittelt hatten? Zurück zu einem guten Leben bei den freundlichen Mördern seiner Familie, wie sollte das gehen?
Die letzte Zeit ging es doch auch, sagte eine kleine Stimme in seinem Unterbewusstsein. Du weißt es doch schon eine ganze Weile und bist doch erst jetzt hierhergekommen. Was vergangen ist, ist vergangen und nichts kann es ändern. Wenn du gehst, bringt das deine tote Familie nicht zurück, aber du verlierst deine lebendige Familie und bist ganz alleine für immer und ewig, denn wer nimmt einen Streuner ohne Familie auf?
Dial fluchte, stand auf, wanderte um den Brunnen, legte sich ins Gras und schloss die Augen. Die Sonne wärmte ihn, das leicht feuchte Gras unter ihm kühlte angenehm seinen Rücken. Es ging auf Mittag zu. Er war die ganze Nacht gewandert, hatte sich davongestohlen, als alle in die Betten gegangen waren. Nun war er deprimiert und müde. Ein kleines Nickerchen konnte nicht schaden. Etwas Ruhe für seinen armen Kopf, in dem Verstand und Gefühle miteinander kämpften. Ein kleiner Ausflug in die immaterielle Welt der Träume, und vielleicht ein paar weise Worte von ihr, die er dort so oft traf und die alles über ihn wusste, selbst Dinge, von denen er selbst keine Ahnung hatte.
Vielleicht wusste sie ja auch, ob seine Mutter braune, graue oder grüne Augen gehabt hatte, wie ihre Stimme geklungen hatte, wie sie gerochen hatte.
Wer sein Vater war.

 

***

 

„Warum quälst du dich selbst so?“, fragte sie und strich ihm übers Haar. Dial hatte gar nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war. Er lag noch immer auf dem überwucherten Dorfplatz neben dem Brunnen und fühlte Sonne und Gras, nur war sie jetzt auch da, also musste er träumen. Er setzte sich auf und schaute sie an. Sie sah betrübt und besorgt aus, und die violett-gelben Schlieren in ihren schwarzen Augen bewegten sich kaum. Normalerweise formten sie ständig neue Muster, mal nachdenklich, mal enthusiastisch, mal albern, ganz abhängig von ihrer Stimmung.
Das rotbraune Haar hatte sie zu einem wild verwuselten Zopf geflochten, und sie trug wie so oft eine Art Kleid aus hellem Stoff, das von zwei Schnüren über ihren Schultern gehalten wurde. Außerdem war sie wie immer barfuß. Dial hatte sie schon oft fragen wollen, was sie gegen Sandalen hatte, die die Fußsohlen vor Dornen schützten, aber es kam immer irgendwas dazwischen.
So wie heute.
„Ich musste es wissen“, antwortete er reichlich verspätet, aber das machte bei ihr nichts, sie hatte immer Zeit und wurde nie ungeduldig.
„Warum?“, fragte sie.
„Weil ich wissen musste, wo ich herkomme und was hier passiert ist.“
„Warum?“, fragte sie erneut.
„Das verstehst du nicht.“
„Stimmt. Du aber auch nicht. Oder?“
„Es ist ein Gefühl, das muss man nicht verstehen“, gab Dial patzig zurück. Warum konnte sie nicht verstehen, dass das für ihn wichtig war?
„Gefühle sind auch nur eine Art von Logik“, antwortete sie und streichelte zärtlich seine zur Faust geballte Hand. „Sie sind die Logik, die ihr nicht versteht, aber sie folgen genauso Regeln und Auslösern. Ich verstehe Gefühle ganz gut. Besser als ihr meistens. Aber ich verstehe nicht, wie ihr damit umgeht, ohne zu verstehen, was mit euch passiert. Deswegen frage ich. Nicht, um dich zu ärgern. Du bist jetzt unglücklich und das macht mich unglücklich. Ich will aber, dass du glücklich bist, Dial. Nicht das hier. Keine alten Orte voller Erinnerungen, die du nicht hast, weil du einfach zu klein warst, um dir irgendetwas zu merken.“
„Kannst du mir meine Mutter zeigen?“
Sie seufzte. „Ja, das könnte ich. Aber ich werde es nicht tun. Es würde dich nur noch unglücklicher machen und dir sonst weiter nichts bringen.“
„Das kannst du nicht beurteilen!“, fauchte Dial und stand auf. „Du bist jedenfalls nicht meine Mutter und entscheidest nicht, was ich wissen darf und was nicht!“
„Natürlich bin ich nicht deine Mutter“, gab sie mit deutlichem Ärger in der Stimme zurück und stand auch auf, legte die Arme um ihn. Dial wollte sich ihr eigentlich entziehen, aber es tat so gut, umarmt zu werden, dass er sich gegen sie lehnte, den Kopf auf ihre Schultern legte und die Augen schloss.
Er war wirklich nicht gut darin, auf sie böse zu sein. Also ließ er sich einfach eine Weile festhalten, spürte Sonnenlicht und Gras weichen, als es durch steinerne Mauern ersetzt wurde, roch Feuer und hörte das Knacken der brennenden Scheite.
Natürlich hatte sie ihn in das große Gebäude gebracht, das Schloss, wie sie es nannte, hier hielt sie sich am liebsten auf, warum auch immer.
Wer immer sie auch war.
Dial hatte es bis heute nicht wirklich verstanden. Dabei kannte er sie schon lange, hatte sie in seinen Träumen getroffen, als er vier oder fünf Jahre alt gewesen war. Sie war in seinem Alter gewesen und mit ihm zusammen groß geworden. Fast jede Nacht hatten sie miteinander gespielt, viel tollere Spiele, als man im Wachen spielen konnte. Sie hatten Monster gejagt, gezähmt und geritten, Wälder und Flüsse erforscht, waren in Meeren getaucht und manchmal auf Drachen geflogen.
In Träumen war alles möglich.
Nach ein paar Jahren hatten sie die Abenteuer aus der Wildnis ins Schloss verlagert, genauer gesagt in ihre Schlafkammer. Dial hatte noch immer keine Erfahrungen mit Mädchen im Wachen gemacht, dafür war er nachts auch viel zu beschäftigt, und außerdem wollte er keine andere als sie.
Brauchte keine andere als sie.
Wenn sie ihm nicht gerade klarmachte, dass sie unendlich viel weiser, mächtiger und älter war als er, war er so verliebt, wie es ein junger Mann nur sein konnte.
Sie zog ihn sanft auf weiche Kissen vor dem prasselnden Kamin, ließ ihn nie los, hielt ihn fest, gab ihm Halt. Längst hatte er sich an das Schloss gewöhnt, an die unglaublich weichen Stoffe auf ihrem Bett, daran, dass alles aus Stein zu sein schien statt aus Holz wie daheim. Es war ohnehin alles nicht real, sondern so, wie sie es wollte. Wenn er sie bat, machte sie aus ihrer Schlafkammer eine Holzhütte wie im Dorf, aber das fand er merkwürdig und bat sie daher nicht oft darum.
Heute erst recht nicht.
Seine Wut war verflogen. Was blieb, war die Gewissheit, dass sie aus irgendeinem Grund dasselbe für ihm empfand wie er für sie. Dass sie ihn glücklich sehen wollte. Dass sie ihn mochte, weil er er war, wegen all der Dinge, die sie gemeinsam erlebt hatten. Dass es für sie keinen anderen gab.
„Ich könnte ja einfach hierbleiben“, murmelte er gegen ihre Schultern. „Ich muss nicht zurück ins Dorf. Sie haben sie alle umgebracht, außer mich und ein paar andere Kinder. Ich kann nicht dahin zurück.“
„Aber sie sind doch jetzt deine Familie“, widersprach sie leise. „Du brauchst Familie.“
„Du bist die einzige, die ich brauche. Außerdem versteht mich ja eh keiner. Außerdem sagt mir auch keiner die Wahrheit.“
„Ich verschweige dir viel.“
„Aber immerhin sagst du mir, dass du mir Sachen verschweigst“, verteidigte Dial sie. „Du lügst mich nicht an.“
„Nicht, wenn ich es vermeiden kann.“
„Siehst du?“
Eine Weile lagen sie einfach so in der Wärme des Feuers, das kein echtes Feuer war, auf Kissen, die es in Wahrheit nicht gab.
Traumgespinste.
„Du bist nicht von hier, Dial“, beendete sie schließlich die Stille. „Du kannst hier nicht leben. Du hast einen Körper, um den du dich kümmern musst. Ohne ihn musst du in die Schatten. Das will ich nicht.“
„Meine echte Mutter ist dort, oder?“
„Ja.“
„Geht es ihr gut?“
„Es geht ihr weder gut noch schlecht, Dial. Sie ist tot. Sie ist nur ein Schatten in den Schatten. Sie ist längst nicht mehr sie. Und deswegen kannst du sie auch nicht besuchen. Sie gibt es nicht mehr.“
„Irgendwann werde ich auch ein Schatten“, murmelte Dial.
„Aber noch nicht. Du bist siebzehn. Du hast noch lange Zeit. Und außerdem …“
Das war ungewöhnlich. Sie beendete immer, was sie anfing. Dial hob den Kopf und schaute sie an. Sie schaute erschrocken zurück. Schuldbewusst.
„Außerdem?“, fragte Dial.
Sie schüttelte den Kopf.
„Doch.“
„Ich darf nicht.“
„Sagt wer?“
„Die Regeln.“
„Welche?“
„Meine.“
„Dann ändere doch einfach die Regeln“, knurrte Dial.
Sie schüttelte den Kopf. „Es sind gute Regeln. Komm, schmoll nicht. Hast du Hunger?“
„Lenk nicht ab.“
Doch sie hatte sich schon aufgesetzt, ein Tisch erschien, darauf Schalen mit Gemüse und Obst und gebratenem Fleisch. Es duftete herrlich.
„Du spielst heute mit faulen Tricks“, brummelte Dial, stand auf und begann zu essen. Sie machte mit, auch wenn sie wahrscheinlich gar nicht zu essen brauchte, das hatte Dial in den letzten Jahren herausgefunden, aber sie leistete ihm gerne Gesellschaft. Dial brachte das Essen auch nichts, denn das hier war ja nur ein Traum. Nichts von dem Essen landete wirklich in seinem Magen. Es war nichts. Hirngespinste. Schatten.
„Bist du eigentlich tot?“, fragte er und wunderte sich, dass ihm der Gedanke noch nie gekommen war. „Bist du ein Schatten?“
Sie lachte, als hätte er einen tollen Witz gemacht. „Nein. Ich bin sehr lebendig.“
„Aber was bist du?“
„Ich bin ich.“
„Du bist kein Mädchen.“
„Nein.“
„Was dann?“
Sie antwortete nicht.
„Lass mich raten“, ätzte Dial, „deine Regeln verbieten es dir zu antworten.“
Sie nickte. „Es sind gute Regeln.“
„Das finde ich nicht.“
„Sie haben Gründe. Ich verstehe, dass du die Regeln nicht magst, aber sie existieren nicht, um dich zu ärgern, sondern um dich zu schützen.“
„Wovor?“
„Vor zuviel Wissen.“
Dial stützte sich auf die Ellenbogen, so dass ihre Hand von seiner Schulter glitt. „Ich möchte aber alles über dich wissen.“
„Dein Verstand ist aber menschlich, Dial. Du kannst das nicht alles wissen. Es passt da nicht rein. Glaub mir, ich fände es schön, wenn ich da reinpassen würde. Aber ich bin riesig und du bist es nicht. Das ist ungerecht, aber nicht meine Schuld, ich habe dich nicht gemacht.“
„Wer hat mich dann gemacht? Wer ist mein Vater? War er ein Mensch? Oder meine Mutter? Einer von beiden … oder beide … war doch auch kein Mensch. Sondern wie du. Oder?“
„Ja. Nein. Ein bisschen. Nicht wirklich. Komm schon, Dial, sei bitte nicht so schwierig. Du bist heute sehr schwierig. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“
„Sag mir die Wahrheit!“
„Das geht doch nicht, das habe ich dir doch schon erklärt. Komm, Dial, lass uns zusammen schlafen. Das bringt dich auf andere Gedanken.“
„Ich will nicht.“
Sie sah so abgrundtief verletzt aus, dass er seine Worte gerne gejagt, eingefangen und aufgespießt hätte. Schnell nahm er sie in den Arm, küsste ihre Schläfe, spürte ihre Schultern beben.
„Nicht so gemeint, ich …“, er küsste ihre Wange, „ich habe so viel im Kopf, das ist alles.“
„Du bist wütend auf mich.“
„Fast gar nicht mehr. Jetzt sowieso nicht mehr. Eigentlich bin ich nicht auf dich wütend, sondern auf mein Dorf und das Schicksal, das mir mein echtes Dorf genommen hat. Es ist nur auch mit dir heute sehr schwierig.“
Sie nickte. „Willst du aufwachen?“
„Ich bin noch im Ruinendorf. Nein. Das will ich jetzt nicht sehen.“
„Was dann?“
Er nahm ihre Hand. „Dich. Sehen und spüren. Und alles andere vergessen.“
Sie lächelte. „Das kann ich.“
„Ich weiß. Und das ist alles, was ich gerade brauche.“

 

***

 

Es war unvermeidlich, dass er aufwachte. Irgendwann wachte er immer auf, meistens dann, wenn er in ihrer Schlafkammer nach dem Schlummer danach aufwachte und sich statt in ihren Armen da wiederfand, wo er wirklich eingeschlafen war.
Diesmal also die Lichtung des Ruinendorfs. Es war nun dämmrig und statt der warmen Mittagssonne drangen schräg rote Strahlen zwischen Ästen hervor. Dial konnte entweder die Nacht hier verbringen oder zurückgehen in das Dorf, das dieses Dorf zerstört hatte.
Er wollte sie Nacht nicht hier verbringen. Nicht alle Toten wurden Schatten. Manche blieben. Das machte ihr immer Sorgen, all die spukenden Geister, die den Weg nicht in die Schatten fanden. Es war gegen die Regeln, und das beunruhigte sie immer.
Aber zurück?
Aber wohin sonst?
Es wäre eine Niederlage.
Andererseits wüsste ja keiner, wo er war oder auch nur, dass er es wusste. Er konnte zurückgehen und so weitermachen wie bisher.
Oder er konnte gehen. Irgendwohin. Nirgendwohin. Zum nächsten Dorf, wo sie ihn als Fremden vermutlich umbringen würden oder wenigstens verjagen.
Es gefiel ihm nicht, aber sie hatte Recht.
Es gab nur einen Weg.
Und der führte zurück.

 

***

 

Es war mitten in der Nacht. Das Dort war noch nicht zu erkennen, zu dicht war das Unterholz, aber Dial hatte immerhin den Pfad erwischt und musste sich nicht länger durch das Dickicht schlagen.
Seit einer guten Weile überlegte er, wie er seine Abwesenheit erklären würde, und kam zu keinem Ergebnis. Die Wahrheit zu sagen schien unmöglich, aber welche Lüge könnte zwei Tage tief im Wald erklären? Sie dachten vermutlich schon, dass er irgendwo umgekommen war, denn man ging einfach nicht alleine in den Wald, das war lebensmüde. Er würde irgendwie erklären müssen, wo er gewesen war. Seine Eltern würden ihn vermutlich umarmen vor Freude, dass er wieder da war. Hatten sie auch Leute aus dem anderen Dorf umgebracht? Hatten sie ihn sich ausgesucht, oder waren die Kinder Familien zugeteilt worden? Er war das einzige Kind seiner Eltern. Sie hatten ihm immer gesagt, dass seine Mutter nur die eine Schwangerschaft mit ihm gehabt hatte und danach keine Kinder mehr bekommen konnte.
Vielmehr konnte sie wohl einfach keine bekommen und deshalb hatten sie ihr Dial gegeben. Oder war sie mitgekommen und hatte ihn sich geholt?
Wie sollte er diese Gedanken je wieder aus seinem Kopf bekommen und so tun, als wüsste er von nichts?
Vielleicht sollte er ihnen einfach die Wahrheit sagen.
Sie hatten ihn all die Jahre lang angelogen. Er konnte besser sein als sie und nicht lügen.
Die Bäume dünnten sich aus, und Hecheln kündigte die Hunde an. Noch bellten sie nicht, kamen nur gucken, was sich hier tat.
„Ist gut, Leute. Halbohr, komm her! Graubart, guck mal, ich bin‘s!“
Schnaufen, Quieken und aufgeregtes Hecheln, aber kein Gebell. Glücklich begleitete ihn das kleine Rudel ins dunkle, stille Dorf. Dort liefen sie zufrieden zu ihrem Schlafplatz unter der Häuptlingshütte, Dials Zuhause. Er stieg die Leiter zur Hausplattform hinauf und zog die Tür auf.
Es war stockdunkel. Feuer gab es nur draußen, da alles am Haus aus Holz bestand. Man nahm sich abends nur ein kleines Licht hinein, das man löschte, wenn man alles für die Nacht hergerichtet hatte.
Dial hatte kein Licht, aber er hatte etwas anderes. Sein Geheimnis. Außer ihr im Traumland wusste niemand davon. Er öffnete die linke Hand – er war wie viele im Dorf Linkshänder – , spürte mit den Fingern nach den winzigen Teilchen in der Luft, sammelte sie, ordnete sie, gab ihnen das Kommando. Eine Flamme formte sich in seiner Handfläche, warm und hell, so dass er ohne sich zu stoßen durch den Raum gehen konnte. Hinten waren zwei Türen zu den Kammern, links für seine Eltern, rechts für ihn. Er ging hinein und setzte sich auf die Schlafmatte. Es war noch eine Weile bis Sonnenaufgang, er konnte noch etwas schlafen. Vielleicht sie noch einmal treffen. Mit ihr besprechen, ob er die Wahrheit sagen oder lügen sollte. Er schaute die Flamme in seiner Hand an, führte die Hand zum Mund und aß das Feuer. Dann legte er sich hin, um zu träumen.
Leider erfolglos.

Schreibe einen Kommentar